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Franz Mehring 19040316 Außerhalb der Kultur

Franz Mehring: Außerhalb der Kultur

16. März 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Erster Band, S. 777-780. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 667-671]

Für einen so witzigen Mann, wie der Reichskanzler unzweifelhaft ist, wird die Politik, die er treibt, ein wenig eintönig; er bleibt bei dem Kehrreim, den wir schon vor ein paar Wochen mit Platens Worten zitiert haben:

Diesen Kuss den Moskowiten, deren Nasen sind so schmuck;

Rom mit seinen Jesuiten nehme diesen Händedruck!

Die Ausweisung der russischen Flüchtlinge, die einen mannhaften und würdigen Protest gegen die Beschimpfungen gerichtet haben, mit denen sie vom Tische des Bundesrats aus regaliert worden sind, und die Aufhebung von Paragraph 2 des Jesuitengesetzes sind die neuesten Taten der Ära Bülow, und wer möchte daran zweifeln, dass die Muse der Geschichte sie mit ehernem Griffel in ihre Jahrbücher eintragen wird!

Hätte man uns aufs Gewissen gefragt, ob wir daran glaubten, dass der Reichskanzler die „Mandelstamm und Silberfarb" wirklich ausweisen lassen würde, wie er im Reichstag angedroht hatte1, so würden wir am Ende doch daran gezweifelt haben. Es gibt Versprechen, deren Bruch mehr ehrt als ihre Erfüllung, und hätte es Graf Bülow bei der Drohung bewenden lassen, so würde man bei einigem Wohlwollen annehmen können, dass er sich rechtzeitig auf seine staatsmännische Würde besonnen hätte. Allein so gut hat es uns nicht werden sollen, und wir müssen uns daran genügen lassen festzustellen, dass die Ausweisung der russischen Flüchtlinge einen besonderen Ehrenplatz unter denjenigen Leistungen der preußischen Regierung einnimmt, die, soweit es auf diese Regierung ankommt, dem deutschen Volke das Recht verwirken, sich zu den zivilisierten Nationen zu rechnen.

Freilich kommt es dabei nicht allein auf die preußische Regierung an. Wäre das deutsche Volk wirklich eine zivilisierte Nation, so wäre ein System Bülow nicht einmal einen Tag möglich, so würde mindestens sein Vorgehen gegen die russischen Flüchtlinge ihm sofort den Hals brechen.

Aber die herrschenden Klassen nehmen gar keinen Anstoß daran, weder soweit sie die ritterliche noch soweit sie die humane Gesinnung in Erbpacht genommen haben. Selbst die jüdischen Blätter sanktionieren die antisemitischen Späßchen des Reichskanzlers und erweisen seiner Hand denselben Liebesdienst wie er seinerseits der Hand Väterchens. Ja, das bürgerliche Organ, das am meisten mit dem Namen Lessings krebst, entehrt sich und seine Klasse durch den Vorschlag, dass die russischen Flüchtlinge Reu' und Leid tun sollten, da Bülow dann ja wohl Gnade für Recht ergehen lassen würde. Das ist denn freilich eine Diplomatie zum Speien, über die man nichts sagen kann als: Pfui Teufel!

Die moralische und politische Verkommenheit der herrschenden Klassen gestattet dem Reichskanzler also, sich wunder wie groß vorzukommen, indem er mit dem Polizeistock auf die wehrlosen Flüchtlinge einschlägt, die, Opfer der russischen Barbarei, die deutsche Gastfreundschaft beansprucht haben. Um so mehr ist es Pflicht wie Recht der unterdrückten Klassen, sich mit den Tapferen und Treuen solidarisch zu erklären, die dem borussischen Despotismus verfallen sind, weil sie dem russischen Despotismus zu trotzen gewagt haben. Es wird unsere Sache sein, das Gedächtnis der Schmach frisch zu erhalten, die dem Volke der Fichte und Lessing durch die Misshandlung der russischen Flüchtlinge zugefügt worden ist, dem Volke jener Geisteshelden, deren Namen Graf Bülow so unnütziglich im Munde führt. Mag er sich jetzt in dem leeren Beifall sonnen, den ihm die feile Presse der herrschenden Klassen spendet; wir anderen, denen die nationale Ehre noch kein tönendes Wort und noch keine klingende Schelle geworden ist, werden ihm den Heldenmut nicht vergessen, gekühlt an Männern, deren ärgstes Verbrechen darin besteht, eine für ostelbische Junker unerreichbare Höhe der Bildung und Gesittung erreicht zu haben.

Nach dieser heroischen Tat aber ging Graf Bülow in die preußische Junkerkammer, um eine famose Pauke über Jesuitismus, Kuhhandel, Geistesfreiheit und Krieg gegen die Sozialdemokratie zu halten. Hätte er wenigstens das ganze Jesuitengesetz durch den Bundesrat begraben lassen, so wäre es zwar auch noch nicht viel, aber der wohlfeile Ruhm, ein abgeschmacktes Polizeigesetz, das seit einem Menschenalter die deutsche Gesetzsammlung verunziert, endlich beseitigt zu haben, hätte ihm dann schließlich nicht abgestritten werden können. Allein soweit reicht's natürlich nicht für einen deutschen Reichskanzler. Nur Paragraph 2 des Jesuitengesetzes, der eine wegen ihrer ausschweifenden Gehässigkeit nie praktisch gewordene Bestimmung enthält, wird abgesäbelt, während Paragraph 1, der prinzipielle Sitz des Ausnahmegesetzes, fortbestehen soll. Der praktische Nutzen dieser Teilung liegt freilich auf der Hand und verteilt sich gleichzeitig auf die Regierung und das Zentrum. Die Ultramontanen können sich jetzt vor ihren Wählern rühmen, das halbe Jesuitengesetz demoliert zu haben, während die Fortdauer der anderen Hälfte den Wählern die Notwendigkeit demonstriert, dass auch fernerhin für Wahrheit, Freiheit und Recht gekämpft werden muss. Das ist aber ein Vorteil nicht nur für das Zentrum, sondern auch für die Regierung, die nicht darauf rechnen darf, je eine bequemere Helfershelferin als diese edle Partei zu bekommen.

Man kann sich kein klassischeres Beispiel eines politischen Kuhhandels denken, mag auch der Reichskanzler, trotz einer so klaren Sachlage, die Existenz irgendeines Kuhhandels bestreiten. Jedoch auch in diesem Falle muss man anerkennen, dass sich ihm die herrschenden Klassen als williger Resonanzboden seiner Politik dargeboten haben. Der berühmte „Sturm der Entrüstung" fegt durch die ganze Philisterwelt, weil nunmehr den Jesuiten die Tore des Reiches geöffnet worden sein sollen, und Graf Bülow darf sich in die Positur eines frei und weit denkenden Staatsmannes werfen, der sich seine Kreise durch populäre Strömungen nicht stören lässt. Verfolgt man die gegenwärtigen Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, so fragt man sich wirklich, in welchem Jahrhundert man lebt; man blickt wie in eine vermoderte Welt, in der nur noch Gespenster umgehen.

Ja, Graf Bülow sieht beinahe noch modern aus, wenn er die Jesuitenfreunde und die Jesuitenfeinde unter eine Kappe zu bringen sucht, indem er sie zum Kampfe gegen die Sozialdemokratie zu führen verheißt. Er sollte sich nur überlegen, welche Lorbeeren ihm in diesem Kampfe blühen können, an der Spitze einer Fallstaffgarde, die sei es nun auf die Jesuiten hofft oder sie fürchtet. Die Jesuiten haben einmal ihre historische Bedeutung gehabt; sie sind die Vorkämpfer der Gegenreformation, des auf kapitalistischer Grundlage reorganisierten Katholizismus gewesen, und es lässt sich nicht bestreiten, dass sie dem bornierten Luthertum tüchtig den Marsch zu blasen verstanden haben. Aber das war Anno dazumal. Heute sind die Jesuiten nichts anderes, als jeder andere große Orden der römischen Kirche ist, und die Leute, die ihren Namen nicht hören können, ohne wie Espenlaub zu erbeben, beweisen damit nur, dass sie noch immer so borniert sind, wie das lutherische Pfaffentum im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert war. Nicht besser steht es mit der anderen Schar von Krüppeln, die auf die Rückkehr der Jesuiten nach Deutschland ihre frommen Hoffnungen setzt. Die Jesuiten haben nicht einmal die bürgerliche Aufklärung hemmen können, geschweige denn, dass sie dem Vormarsch der sozialistischen Weltanschauung mehr in den Weg legen können als irgendeine andere Truppe der kapitalistischen Heilsarmee auch. Unsertwegen können sie in hellen Haufen nach Deutschland zurückkehren: Das haben die Vertreter der Arbeiterklasse von jeher im Reichstag erklärt, und das kann gegenüber dem widrigen Antijesuitengeschrei der Philisterpresse nicht deutlich genug wiederholt werden. Gibt es eine bürgerliche Kultur, die heute noch von den Jesuiten verwüstet werden kann, so ist es um sie nicht schade; wer heute mit den Jesuiten nicht fertig wird oder nicht fertig zu werden fürchtet, zeigt damit nichts, als dass die Jesuiten ihm gegenüber das bessere Existenzrecht besitzen.

Das ist nun allerdings auch die Meinung des Reichskanzlers, denn er will das Verbot des Jesuitenordens nur von gewissen Gehässigkeiten befreien, aber keineswegs an und für sich aufheben. Er ist nicht ganz so furchtsam wie die liberalen Philister, aber Angst vor den Jesuiten hat er im Grunde auch. So bietet er sich den Jesuitenfreunden wie den Jesuitenfeinden als den Mann an, der sie mit siegreicher Sturmfahne gegen die Sozialdemokratie führen wird. Schade, dass nur freie Völker eines Aristophanes würdig sind; sonst brauchte der Reichskanzler um einen echten Sänger seines Heldentums nicht verlegen zu sein. Denn wir nehmen an, dass einem so feinen Kopf der offiziöse und bürgerliche Singsang, der ihm täglich ertönt, nicht genügen wird.

Immerhin – wenn jedes Volk genau die Regierung hat, die es verdient, so hat die Ära Bülow ihre legitime Wurzel in den herrschenden Klassen; das lässt sich unmöglich bestreiten. Der Beifall, den diese Klassen der Ausweisung der russischen Flüchtlinge spenden, ist dafür ein durchschlagender Beweis, und der Widerstand, den namentlich ihre liberale Couleur der Aufhebung von Paragraph 2 des Jesuitengesetzes leistet oder doch leisten möchte, könnte einen beinahe auf den Verdacht bringen, als sei Graf Bülow für diese Philister eigentlich noch zu schade. Um so klarer tritt dann aber hervor, wie schroff und tief der Abgrund ist, der die Arbeiterklasse von alledem trennt, wie sehr die Mühe und Zeit verloren sein würde, die etwa daran gesetzt wird, eine Brücke über diesen Abgrund zu werfen. Wir haben nichts mit dem Manne zu tun, der wehrlose Flüchtlinge, die glücklich den Henkern des Zaren entronnen sind, erst beschimpft und dann geschlagen hat; wir können nicht einmal ernsthaft paktieren mit einem Propheten, der gleichermaßen die jesuitenfeindliche und die jesuitenfreundliche Krüppelgarde beschwört, gemeinsam das klassenbewusste Proletariat niederzuwerfen. Er mag in allen Ehren stehen, die ihm die herrschenden Klassen spenden können, und selbst sogar in der Gnade Väterchens, was für einen ostelbischen Staatsmann gewiss das höchste ist, aber er steht außerhalb der Kultur, in der die Arbeiterklasse lebt und strebt.

Nicht um ihn zu kränken, stellen wir diese Tatsache fest, die ja höchstens einen volleren Gnadenstrahl aus Väterchens holden Augen auf ihn lenken kann, sondern nur, um jene wohlwollenden Gemüter, die auch diesem System gegenüber nichts als Frieden und Versöhnung predigen, ein wenig an die raue Wirklichkeit zu erinnern.

1 Erwiderung im Reichstag auf Bebels Anklagerede über die offizielle Zulassung und Unterstützung zaristischer Polizeispitzel durch die preußische und Reichsregierung im Zusammenhang mit den Debatten über den Königsberger Geheimbundprozess: „Und wenn die fremden Herren sich bei uns so mausig machen, wie sie dies in der letzten Zeit getan haben, wenn sie so impertinente Erklärungen verfassen, wie sie Herr Bebel soeben verlesen hat, und wie sie in der Tat die hiesigen slawischen Studenten unter Führung der Herren Mandelstamm und Silberfarb (stürmische Heiterkeit) vor einiger Zeit vom Stapel gelassen haben, so werde ich dafür sorgen, dass solche Leute ausgewiesen werden" (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages [198], XI. Legislaturperiode, I. vom 29. Februar 1904, S. 1390 [D]).

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