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Franz Mehring 19040413 Auswärtige Politik und Reichstag

Franz Mehring: Auswärtige Politik und Reichstag

13. April 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 65-68. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 683-687]

Gestern ist der Reichstag nach seinen Osterferien wieder zusammengetreten, nicht unter den günstigsten Anzeichen. Die Artikel, womit die bürgerlichen Blätter ihn begrüßen, sind alle auf den jammernden Ton vom Niedergang des Parlamentarismus gestimmt, und von ihrem Standpunkt aus haben sie dazu auch allen Anlass. Niemand weiß, wann die gegenwärtige Tagung des Reichstags enden wird, und noch weniger weiß irgendwer, was sie noch alles in ihrem Schoße bergen mag. Das deutsche Parlament treibt wie ein leckes Wrack unter Winden, die dem Äolusschlauch eines unberechenbaren Imperialismus entströmen.

Aber so berechtigt die bürgerlichen Klagen über den parlamentarischen Niedergang in dieser Beziehung sein mögen, so unberechtigt sind sie in anderer Beziehung. Der alte Dahlmann hat schon vor soundso viel Jahrzehnten den inzwischen abgedroschenen Gemeinplatz ausgesprochen, dass keinem Volke die Freiheit unterm Weihnachtsbaum beschert werde, und ein Parlament, das sich nicht selbst eine mächtige Position zu schaffen weiß, hat sich bei keinem anderen zu beklagen als bei sich. Von selbst fliegen ihm die gebratenen Tauben nicht in den Mund, und wer nicht tapfer zulangt, wird immer hungrig vom Tische aufstehen. Es war der Fehler des deutschen Reichstags, sich von vornherein zu einer bescheidenen Rolle zu verstehen, die dann mit dem fortzeugenden Fluche der bösen Tat immer bescheidener geworden ist, bis zu der völligen Nichtigkeit, in die dieses Parlament zu versinken droht. Es gibt nur eine Partei, die den Reichstag auf historischer Höhe zu erhalten gesucht hat, nämlich die Sozialdemokratische, aber sie ist immer in der Minderheit geblieben, und sie kann auch den bürgerlichen Parlamentarismus nicht retten, wenn er selbst sich nicht zu retten weiß.

Ein Grundfehler der bürgerlich-parlamentarischen Taktik war von vornherein, das Gebiet der auswärtigen Politik als ein verbotenes Land zu betrachten. Nicht mit Unrecht haben preußische Historiker ausgeführt, in der Geschichte ihres Staates sei die auswärtige Politik alles, die innere nichts als ihr Reflex. So falsch es sein mag, hierin einen preußischen Ruhmestitel zu sehen, so richtig ist die Tatsache doch an sich. Der kürzeste und unwiderleglichste Beweis dafür ist die Abhängigkeit, in der sich der preußische Staat, seitdem er sich zu den Großmächten zählt, ununterbrochen von Russland befunden hat1. Und es ist kein Zufall, dass der einzige Versuch der preußischen Volksvertretung, in auswärtigen Fragen mitzureden, sich auf die auswärtige Politik Preußens gegenüber Russland bezogen hat. Das geschah in den Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses vom März 1863 über die preußisch-russische Militärkonvention, die damals zur Unterdrückung des polnischen Aufstandes abgeschlossen worden war. Die überwältigende Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses war 1863, wie bekannt, und im geraden Gegensatz zu heute, fortschrittlich gesinnt, und es ist nicht ohne Interesse, einen Blick auf seinen damaligen Standpunkt zu werfen.

Auf die Äußerung Bismarcks, dass, wenn Preußen in einen Krieg verwickelt würde, die Volksvertretung die zur Führung dieses Krieges notwendigen Gelder zu bewilligen habe, antwortete der Abgeordnete v. Carlowitz, „dass, wenn die preußische Regierung sich übereilt, und, ich möchte sagen, mutwillig unter den ungünstigsten Umständen in auswärtige Verwicklungen einlässt und eine aggressive Politik betreibt, ich das Vertrauen zum ganzen Hause hier, jedenfalls zu seiner großen Majorität habe, dass es in Übereinstimmung mit dem ganzen Lande zu einer solchen Politik diesem Ministerium nicht einen Taler bewilligen wird". Ebenso erklärte Abgeordneter v. Sybel, „dass wir den dringendsten Grund zum Protest gegen eine Politik haben, welche uns aus freien Stücken mit der Mitschuld an einer kolossalen, von ganz Europa mit sittlicher Empörung betrachteten Menschenjagd belastet,… welche, um dieses Bild eines fanatischen Kreuzzugs gegen den angeblichen Drachen der Revolution völlig zu zeichnen, zwar in unserem eigenen Lande wegen angeblichen Geldmangels unseren eigenen Veteranen der Freiheitskriege die Brocken kümmerlich zumisst, welche aber in dieser konservativen Sache die Geldmittel unseres Staates zu Hunderttausenden dahingibt, ohne die versammelte Landesvertretung einer Anfrage, ja auch nur einer Anzeige zu würdigen, welche damit wieder sich das Zeugnis ausstellt, dass die Essenz ihres Wesens die Nichtachtung des Rechtes ist, dass sie weder im Innern noch nach außen handeln, weder ruhen noch wirken, ja, ich möchte sagen, weder leben noch sterben kann, ohne die Gesetze dieses Landes zu verletzen". Und derselbe Sybel sagte in einer zweiten Rede: „Das Herz unserer Regierung scheint leider nur an Bildern der Unfreiheit und der Unterdrückung zu hängen, und so schrumpft denn auch ihre Staats- und Kriegskunst wie ihr Verfassungsleben zu der Glorie der polizeilichen Schikane zusammen." Endlich noch, um nicht zu weitläufig zu werden, ein Wort Twestens: „Gegen die Vorwürfe von Hoch- und Landesverrat ist es nicht nötig, viel zu sagen: Es ist der alte Kunstgriff, welchen man gebraucht, um jede unbequeme Opposition auf dem Gebiete der auswärtigen Angelegenheiten zum Schweigen zu bringen oder zu verleumden, als wenn sie sich mit dem Ausland verschwöre gegen den eigenen Staat." Diese, von lebhaftem Beifall des ganzen Hauses begleiteten Sätze fertigen auch gleich in treffendster Weise die traurigen Epigonen des Liberalismus ab, die heute von Hoch- und Landesverrat schwatzen, weil die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags die für die Bewältigung des Hereroaufstandes geforderten Kredite verweigert hat.

Dies ist der so gut wie einzige Fall, wo sich ein preußisches oder deutsches Parlament zu einer einschneidend kritischen Aktion an der auswärtigen Politik der Regierung aufgeschwungen hat. Es ist nun hergebracht zu sagen, eben der Fall beweise unwiderruflich, dass die Volksvertretung ihre Hand von der auswärtigen Politik zu lassen habe, und dieser Trumpf scheint um so kräftiger durchzuschlagen, als die damaligen Redner, die Carlowitz und Sybel und Twesten, später um so demütiger die Hand Bismarcks geküsst und jede Einmischung in die Kreise der auswärtigen Politik verschworen haben. Allein wenn die Träger der oppositionellen Politik in den Konfliktsjahren schwache Charaktere gewesen sind, bei denen Worte und Taten sich in peinlichstem Missverhältnis befanden, so ist damit noch nichts gegen diese Politik selbst gesagt. Heute, wo wir die ganzen historischen Zusammenhänge übersehen, unterliegt es keinem Zweifel, dass die stärksten Worte gegen die preußisch-russische Militärkonvention von 1863 vom Standpunkt der nationalen Interessen aus gerade nur stark genug waren. Denn die Henkersdienste, die Bismarck an dem polnischen Aufstand auszuüben unternahm, waren der Preis, um den ihm der zarische Despotismus gestattete, die deutsche Nation gewaltsam zu verpreußen, als einen russischen Vasallenstaat, regiert von den ostelbischen Junkern, den gehorsamsten Satrapen Väterchens.

Insofern hat es einen tieferen historischen Zusammenhang, dass der preußische Landtag und später der deutsche Reichstag an die auswärtige Politik nicht mehr rührte, sondern sich nur an der Quadratur des Kreises abquälte, die inneren Zustände eines solchen Staates auf den Fuß eines modernen Kulturstaats zu bringen. Diese Bemühungen müssen im besten Falle dürftiges Flick- und Stückwerk bleiben, solange der Reichstag sich nicht entschließt, die nationalen Interessen auf dem Gebiet der auswärtigen Politik mit aller Entschiedenheit und Rücksichtslosigkeit zu vertreten. Der gegenwärtige Augenblick fordert dazu in der denkbar dringendsten Weise auf. Das englisch-französische Abkommen ist nunmehr abgeschlossen worden. Seine Einzelheiten hat die Tagespresse längst veröffentlicht; im Wesentlichen bestätigen sie, was schon vorher darüber bekannt geworden war. Es ist ein öffentliches Geheimnis der ganzen zivilisierten Welt, dass mit diesem Abkommen eine gewaltige Verschiebung der internationalen Machtverhältnisse zuungunsten Deutschlands eintritt, ja dass wir am Vorabend einer europäischen Koalition stehen können, aus der uns sicherlich nicht chauvinistische Phrasen retten werden und auch nicht die „Glorie der polizeilichen Schikane", in der sich die Staats- und Kriegskunst wie das Verfassungsleben des Grafen Bülow erschöpft, ja selbst nicht einmal die freiwillig übernommene Mitschuld an der kolossalen, von ganz Europa mit sittlicher Empörung betrachteten Menschenjagd, die Väterchen betreibt.

Man kann sich nichts Trivialeres denken als die Phrasen, mit denen der Reichskanzler heute im Reichstag eine schüchterne Anfrage eines nationalliberalen Abgeordneten wegen des englisch-französischen Abkommens beantwortet hat. Da dies Abkommen eine neue Stütze des Weltfriedens sei, so müsse man es freudig begrüßen usw. Besonders geistreich ist die diplomatische Sprache ja nie gewesen, aber um ähnliche flach-verlegene Redewendungen zu finden, muss man schon auf die diplomatischen Depeschen der Haugwitz und Lombard zurückgehen, die vor Jena den preußischen Staat regierten. Nun ist gewiss zu erwarten, dass in den nächsten Tagen deutlichere Anfragen an den Reichskanzler gerichtet werden und er sich vernehmlicher zu räuspern haben wird. Allein ob er sich in dem Einzelfall mehr oder minder schlecht herausredet, das ist verhältnismäßig nebensächlich gegenüber der Tatsache, dass der Reichstag sich im allgemeinen auf einem so entscheidenden Gebiet, wie das Ressort der auswärtigen Angelegenheiten ist, freiwillig lahm legt.

Weiß der Reichstag hierin nicht Wandel zu schaffen, so wird er sich nicht zu beklagen haben, dass sein Ansehen tiefer und tiefer sinkt. Freilich kann er sich nicht auf die historische Höhe eines Parlaments erheben, dessen Wort entscheidend in die Waagschale fällt, ohne Kämpfe zu bestehen, deren bloße Vorstellung ängstliche Seelen schon erzittern lassen mag. Aber anders lässt sich keine mächtige Position im politischen Leben schaffen, und eben jetzt zeigt die Einbringung der so genannten „wasserwirtschaftlichen" Vorlagen im preußischen Landtag, was selbst mit dem preußisch-deutschen Parlamentarismus anzufangen ist, wenn sich anders ein entschlossener Wille dahinter setzt. Auf den kaiserlichen Trumpf: Gebaut wird er doch, nämlich der Mittellandkanal, haben die ostelbischen Junker den stärkeren Trumpf gesetzt: Gebaut wird er nicht, und wie die neuesten „wasserwirtschaftlichen" Vorlagen zeigen, ist es die Regierung, die kapituliert, nicht aber das Junkertum. Daran sollte sich der Reichstag ein Beispiel nehmen und die Regierung zwingen, eine auswärtige Politik zu treiben, nicht wie sie den Interessen des zarischen Despotismus, sondern wie sie den Interessen der deutschen Nation entspricht. Kann er das nicht, so verschuldet er selbst seinen Niedergang.

Inzwischen wird die Sozialdemokratische Partei fortfahren, auch auf diesem Gebiet ihre Pflichten gegen die Nation zu erfüllen, mit ganz anderer Kraft als ihre liberalen Vorläufer und mit noch viel größerer Verachtung des dummen Geschwätzes von Hoch- und Landesverrat.

1 So schrieb Marx an Engels am 24. März 1863: „Die politische Pointe, zu der ich gelangt bin, ist die: dass Vincke und Bismarck in der Tat das preußische Staatsprinzip richtig vertreten; dass der ‚Staat' Preußen (eine von Deutschland sehr verschiedne Kreatur) nicht ohne das bisherige Russland und nicht mit einem selbständigen Polen existieren kann. Die ganze preußische Geschichte führt zu dieser Konklusion, welche die Herrn Hohenzollern (Friedrich II. eingeschlossen) längst gezogen haben. Dies landesväterliche Bewusstsein ist weit überlegen dem beschränkten Untertanenverstand der preußischen Liberalen." In: Marx/Engels: Briefwechsel, III. Bd., Dietz Verlag, Berlin (1950), S. 158/159.

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