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Franz Mehring 19040409 Der Chemnitzer Beschluss

Franz Mehring: Der Chemnitzer Beschluss

9. April 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 81, 9. April 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 680-682]

Darf man nach der Wut der Gegner urteilen, so hat die sächsische Landeskonferenz mit ihrem Beschluss über die künftige Reglung der Reichstagskandidaturen einen Schuss ins Schwarze getan. Sie sind alle wie aus dem Häuschen, von der „Frankfurter Zeitung" bis zur „Post", und wenn man sieht, wie viele Beschützer die angeblich von den Arbeitern gefährdete Demokratie findet, so kann man sich nur darüber wundern, dass sie bisher ein so kümmerliches Dasein in der bürgerlichen Welt Deutschlands geführt hat.

Über die Sache selbst mit diesen Gegnern zu streiten würde vollkommen zwecklos sein. Ihnen ist es nicht um das Prinzip zu tun, sondern um ihren Vorteil, und ebendeshalb ist ihr Spektakel über den Chemnitzer Beschluss so groß, weil sie durch ihn ihren politischen Profit geschädigt sehen. Eines dieser Blätter lässt sich denn auch in seinem Toben über die „Lippendemokratie" das wahre Geheimnis entschlüpfen, indem es sagt, durch jenen Beschluss sei dem Revisionismus ein viel empfindlicherer Schlag versetzt worden als durch alle Beschlüsse, die in Dresden gefasst worden seien. Dies ist in der Tat der Quell, aus dem die bürgerlichen Tränen über die geschädigte Demokratie fließen; die guten Leute hatten auf den Revisionismus gerechnet als auf einen Keil, die Partei zu sprengen, und sie sind erbost, weil sie sehen, dass der Revisionismus in der Partei nicht Fortschritte, sondern Rückschritte macht.

An und für sich hat der Revisionismus mit der ganzen Frage gewiss nichts zu tun, und wir haben schon hervorgehoben, dass auch revisionistische Organe sich gegen die Kandidatur Göhres im zwanzigsten Wahlkreise ausgesprochen haben. Aber mindestens einzelne Revisionisten haben es dann für angezeigt gehalten, den Streit um Göhres Kandidatur zur Sache ihrer Richtung zu machen, und sie hatten damit den lebhaftesten Beifall der bürgerlichen Presse gefunden. Da begreift es sich denn, dass der Chemnitzer Beschluss diese Presse aufs bitterste enttäuscht hat, insofern als er die Partei vollkommen entschlossen zeigt, ihre Reihen so geschlossen wie je zu halten. Es ist nichts mit einer Spaltung der Partei, weder in der Gegenwart noch in der Zukunft; zeigt sich irgendwo ein leiser Riss in ihrer eisernen Rüstung, so wird er mit schnellen und starken Schlägen zusammengehämmert.

Hierin liegt die wesentliche Bedeutung des Chemnitzer Beschlusses. Praktisch wird er an dem bisherigen Gange der Dinge nichts Besonderes ändern. Die Schreckgespenster, die mit der „Allmacht der Ausschüsse" an die Wand gemalt werden, sind eben Gespenster. Irgendeine Parteiinstanz, die diesen Beschluss missbrauchen wollte, um aus Laune, Willkür oder gar aus Cliqueninteresse einem Wahlkreise einen Kandidaten aufzuzwingen, den er nicht will, oder einen Kandidaten wegzunehmen, den er will, würde sich nur selbst ihre Grube schaufeln. Das wird in der Zukunft so wenig vorkommen, wie es in der Gegenwart vorkommt oder in der Vergangenheit vorgekommen ist. Auch die Kandidatur Göhre hätte durch keine Parteiinstanz beseitigt werden können, wenn die ungeheure Mehrheit der Partei sie nicht für verwerflich gehalten hätte.

Aber die naive Frage: Weshalb denn der ganze Beschluss? steht denen sehr schlecht zu Gesicht, die auf den verwegenen Einfall gerieten, aus dem Falle Göhre eine revisionistische Kraftprobe zu machen. Hätten sie ihren Willen durchgesetzt, so wäre eine Tür oder mindestens eine Türspalte geöffnet worden für die „Individualitäten", die auf Disziplin pfeifen und keine andere Parteiarbeit kennen, als, wie sich ein Redner in Chemnitz drastisch ausdrückte, in den Foyers des Reichstags spazieren zu gehen. Das lag nicht im Interesse der Partei, und deshalb musste die Tür fest verriegelt werden. Nicht um den gegenwärtigen Zustand zu ändern, der seit vierzig Jahren kaum je zu einem ernsthaften Konflikt geführt hat, war der Chemnitzer Beschluss notwendig, sondern nur um einer Neuerung vorzubeugen, die verhängnisvolle Folgen für die Partei hätte haben können. Die bürgerlichen Blätter stellen mit ihrer Behauptung, dass die demokratische Praxis der Partei in Chemnitz auf den Kopf gestellt worden sei, vielmehr selbst die Dinge auf den Kopf. Tatsächlich ist die demokratische Praxis der Partei in Chemnitz bestätigt worden, indem man von vornherein den Versuch vereitelte, sie zu ändern.

Wie schon in Dresden, so hat sich auch in Chemnitz gezeigt, dass die revisionistische Richtung sehr schwach in der Partei ist, dass die großen Massen der Partei unverrückt an der alten Theorie und Taktik festhalten. Um so eher sollten alle, die es angeht, darauf verzichten, Kraftproben vom Zaune zu brechen, bei denen sie selbst den Kürzeren ziehen. Wir haben dabei nicht die Genossen des 20. Kreises im Auge, die, wie sich in Chemnitz gezeigt hat, ohne Arg und in gutem Glauben die Kandidatur Göhres aufgestellt haben. Aber Göhre selbst und die sonstigen Freunde seiner Kandidatur sollten aus dem Chemnitzer Tage die Lehren ziehen, die sie aus dem Dresdner Tage noch nicht gezogen zu haben scheinen. Die ungeheure Mehrheit der klassenbewussten Arbeiter will das feste und starke Gefüge der Partei nicht lockern lassen, auch wenn es nur aus erhabener Sorge um die schönsten „Individualitäten" gelockert werden soll, und sie weiß sehr gut, weshalb sie es unter den gegenwärtigen Zeitläuften nicht will. „Individualitäten" können das Proletariat nicht emanzipieren, und übrigens hat dies ganze Gerede von den „Individualitäten" schon vor fünfzig Jahren einer der wenigen bürgerlichen Demokraten, die es je in Deutschland gegeben hat, nämlich Franz Ziegler, mit dem einfachen und erschöpfenden Worte abgetan: Ein tüchtiger Charakter liebt die Disziplin.

Indessen, wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Revisionisten auf unsern Rat und Wunsch irgendwelchen Wert legen. Wenn es ihnen oder einzelnen von ihnen dennoch gefällt, Kraftproben von der Art der Vizepräsidentenfrage oder der Kandidatur Göhre auch ferner abzulegen, so wird es auch so gehen. Je begeisterter ihnen die bürgerliche Presse zujauchzt und je glänzender ihre absonderlichen Vorschläge an dem entschlossenen Willen der Arbeitermassen abblitzen, um so eher wird diese Episode der deutschen Arbeiterbewegung vorüber sein. Sie bildet keine erhebende Partie der deutschen Parteigeschichte, aber immerhin wird ihr das Verdienst nicht abgesprochen werden können, durch ihre Anläufe erhärtet zu haben, dass die deutsche Arbeiterbewegung immer noch den Spuren der Marx, Engels und Lassalle folgt, nicht aber den Spuren der Jaurès und Millerand.

Im Sinne unsrer großen Meister, denen die Demokratie die Freiheit war, gebunden in der Solidarität der Arbeiterklasse, ist der Chemnitzer Beschluss gefasst worden, und so trotzt er dem Heulen des kapitalistischen Pressklüngels so unbewegt wie ein Felsen einem pfeifenden Windstoße.

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