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Franz Mehring 19040225 Der einzige Terror

Franz Mehring: Der einzige Terror

25. Februar 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 46, 25. Februar 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 658-660]

Das wohl arrangierte Spektakelstück, das am vorigen Montag im preußischen Abgeordnetenhause aufgeführt wurde, hat den deutschen Hintersassen Väterchens zwar für den Augenblick einen kleinen Triumph verschafft, und das auch nur in den Augen des Spießbürgertums, aber es scheint, dass die Sozialdemokratische Partei gar nicht erst mit ihrem schweren Geschütze vorzurücken braucht, um die Lorbeeren der Hammerstein und Schönstedt verwelken zu lassen.

Lügen haben eben kurze Beine und staatsretterische Komödien erst recht. Die blutrünstigen Blätter, die von irgendeinem Lockspitzel zwischen die Ballen der sozialdemokratischen Literatur geschmuggelt worden sind, die über die russische Grenze geschafft werden sollten, können einen Augenblick ostelbische Junkerschädel verblüffen oder ihnen wenigstens die willkommene Gelegenheit bieten, sich anzustellen, als ob sie verblüfft wären. Aber bei Leuten, die noch im Besitze ihrer fünf Sinne sind und davon einen loyalen Gebrauch zu machen pflegen, verfängt diese Methode längst nicht mehr. Vor zwanzig oder dreißig Jahren, als man auf den Lockspitzelstil noch nicht so eingeeicht war, da mochte wohl noch dieses oder jenes Vögelchen auf die Leimrute gehen, aber heute? Du lieber Himmel, da muss man schon ein Staatsmann von dem genialen Schlage der Schönstedt und Hammerstein, oder ein Gesetzgeber von den genialen Fähigkeiten der Grafen à la Limburg-Stirum oder der Freiherren à la Zedlitz sein, um so albernes Zeug als ernsthafte Propaganda für einen ernsthaften Terror aufzufassen.

Wenn sich die preußisch-deutsche Regierung schämen sollte, ihre eigenen Landsleute einem fremden Despoten zu denunzieren, wie sie das nach dem nunmehrigen Eingeständnis der Hammerstein und Schönstedt getan hat, nun gut, so mag sie sich in Grund und Boden schämen und damit bekunden, dass ihr der erste schüchterne Begriff der nationalen Würde aufgegangen ist, mit der sie so gewaltig herum renommiert wie Herr Scherl mit seinem Sparsystem. Aber dass sie ihre Reue durch die Produktion von irgendwelchen Lockspitzelwischen zu vertuschen sucht, ist wirklich nicht hübsch. Gewiss, die Herren Hammerstein und Schönstedt glauben an die Echtheit dieser Wische; das versteht sich bei so ehrenwerten Herren von selbst. Aber von Staatsmännern regiert zu werden, die sich allen Ernstes einbilden, die deutsche Sozialdemokratie könne dergleichen blutrünstiges Zigeunerpathos propagieren, das ist eine Wendung durch Gottes Fügung, die den patriotischen Deutschen nicht mit übermäßigem Stolz erfüllen darf.

Man wird uns sagen: Aha, Lockspitzelei, das ist immer die sozialdemokratische Ausrede. Darauf haben wir einfach zu erwidern: Die Sozialdemokratie hat noch nie von Lockspitzelei gesprochen, wo sie nicht den triftigsten Grund dazu gehabt hätte. Wir kennen die infame Rasse aus der Zeit, wo sie von den erlauchten Staatsmännern Bismarck und Puttkamer mit dem Gelde der deutschen Steuerzahler gezüchtet wurde und halb Europa mit ihrer moralischen Fäulnis verpestete, und wir lassen uns kein X für ein U machen. Was der Justizminister Schönstedt neulich im preußischen Abgeordnetenhause verlas, das war Spitzelmachwerk, und wenn in dieser Sache irgendein Terror ausgeübt worden ist, so übte ihn Herr Schönstedt aus, indem er dem Parlamente von Geldsacks Gnaden zumutete, dergleichen bombastischen Kohl als eine revolutionäre Kundgebung aufzufassen.

Insofern liegt allerdings System in der Sache. Der Spießer begeistert sich zwar für Wilhelm Tells Mord aus dem Hinterhalte, aber wenn irgendeinem hohen Herrn, mag er sonst ein Scheusal des ärgsten Kalibers sein, einmal ein blutiger Lohn für schändliche Taten wird, so geht er moralisch ganz aus dem Leime. Darauf rechnen die Leute, denen daran gelegen ist, den empörenden und niederschmetternden Eindruck wieder zu verwischen, den die abermalige Enthüllung Berlins als eines zarischen Paschaliks bis tief in die Philisterkreise gemacht hat. Deshalb die neuliche, sorgsam inszenierte Szene im preußischen Abgeordnetenhause, deshalb die pathetische Verlesung hohler Tiraden, die, wenn sie in einem schlechten Theaterstück als revolutionäre Monologe passieren sollten, von dem geduldigsten Parterre ausgepfiffen werden würden, aber von preußischen Staatsmännern mit staatsmännischem Ernst deklamiert werden.

Man mag den russischen Revolutionären nachsagen, was man will: Niemand kann und wenigstens kein ehrlicher Mann wird ihnen bestreiten, dass sie Leute von einer beispiellosen Aufopferungsfähigkeit und einem beispiellosen Heldenmute sind. Der geringste dieser Revolutionäre verfügt über ein größeres Maß dieser Tugenden als sämtliche Ministerien des Zickzackkurses zusammengenommen. Als die russischen Revolutionäre den Terror für eine geeignete Waffe zur Erreichung ihrer Ziele hielten, haben sie kein Hehl daraus gemacht, ebenso wenig wie sie jetzt ein Hehl daraus machen, dass sie andere Waffen für geeigneter halten, den blut- und schmutztriefenden Despotismus des Zaren zu stürzen, als den Terror. Wir sprechen von den russischen Revolutionären in unserem, im marxistischen Sinne des Wortes, im Sinne der deutschen Sozialdemokratie; dass in den weniger aufgeklärten Volksmassen sich der mit raffinierter Ruchlosigkeit geschürte Volkshass auch einmal in einer Gewalttat an ruchlosen Betrügern entlädt, liegt in der menschlichen Natur, die glücklicherweise weder von russischen noch von borussischen Gewalthabern ausgerottet werden kann. Aber einen Terror als politische Waffe gibt es in Russland nicht; das weiß jeder, der es wissen will, und wenn wir auch weit entfernt sind zu behaupten, dass die Herren Hammerstein und Schönstedt je ein Wort wider ihr besseres Wissen äußern könnten, so sind sie doch die leichtgläubigen Opfer jenes Lockspitzeltums, dessen Stilübungen sie mit so schönem Pathos vorzutragen wussten.

Jedoch indem sie den revolutionären Terror anklagten, übten sie selbst einen reaktionären Terror aus. Sie verübten mit ihren Räubergeschichten, denen der Lockspitzelursprung quer über die Stirne geschrieben stand, ein terroristisches Attentat auf den gesunden Menschenverstand ihrer Hörer. Dies war der einzige Terror in der ganzen Affäre, kein revolutionärer, sondern ein reaktionärer Terror, kein Terror in der russischen Revolution, sondern in dem russischen Paschalik, an dessen Spitze die Herren Hammerstein und Schönstedt thronen, endlich auch kein Terror, der, sei es selbst nur einen Tropfen Blut kostet, sondern der sich nach der ersten Verblüffung sogar bei den nachsichtigsten Spießbürgern in allgemeine Heiterkeit auflöst.

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