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Franz Mehring 19040615 Die Arbeiterklasse und die Volksschule

Franz Mehring: Die Arbeiterklasse und die Volksschule

15. Juni 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 136, 15. Juni 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 699-701]

Wenn es sich bei dem Streite der herrschenden Klassen um die Volksschule nur um ein Herrschaftsmittel handelt und somit das Proletariat nur ein verhältnismäßig beiläufiges Interesse an diesem Streite hat, so hat die Volksschule doch eine unentbehrliche Funktion in der modernen Gesellschaft zu erfüllen, und die Arbeiterklasse ist sehr nahe daran beteiligt, dass sie diese Funktion so gut wie möglich erfüllt.

Die Volksschule ist entstanden als Frucht der Entwicklung, die seit dem Zeitalter der Reformation die Warenproduktion genommen hat. Lesen, Schreiben und Rechnen wurden von da ab unentbehrliche Kenntnisse für jeden Handwerker, für jeden Bauernsohn, der in der Stadt sein Glück machen wollte; je weiter diese Kenntnisse verbreitet waren, desto größer wurde das Angebot intelligenter Arbeiter, deren das Kapital bedurfte. Wenn gleichwohl die Kirche ihre Hand über den Anfängen der Volksschule hielt, so erklärt sich diese Tatsache daraus, dass die Kirche im Mittelalter die Verbindung zwischen den gebildeten und den ungebildeten Klassen des Volks überhaupt aufrechterhalten hatte, so gut oder so schlecht es ging. So fiel ihr die erste Organisation des Volksschulwesens zu, und es verstand sich für sie von selbst, dass sie die Religion zu seinem Mittelpunkte machte und die elementarischen Kenntnisse des Lesens, Schreibens und Rechnens auf das Notdürftigste beschränkte.

Dieser Zustand wurde in dem Maße unhaltbarer, als sich die kapitalistische Produktionsweise immer stärker entwickelte und nicht nur immer mehr intelligenter Arbeiter bedurfte, sondern auch an die Intelligenz dieser Arbeiter immer höhere Ansprüche stellte. So versuchte erst die absolute Monarchie, die erste politische Form der kapitalistischen Produktionsweise, die Volksschule, den Händen der Geistlichkeit zu entreißen, dann aber auch die Bourgeoisie, als sie zu politischen Kräften gekommen war. Nicht aus „idealen" Beweggründen, sondern um die lebenden Arbeitswerkzeuge, die sie für ihre Produktionszwecke gebrauchte, um so tüchtiger zu gestalten.

Hierin fallen nun die Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats zusammen, nicht in den Ursachen, aber in den Wirkungen. Als Klassen, welche auf dem Boden der modernen Gesellschaft stehen, die sich ohne ein ausgiebiges, rationelles Volksschulwesen nicht entwickeln kann, haben sie in dieser Seite der Volksschule ein gemeinsames Interesse gegenüber diesen Klassen, deren Forderungen und Überlieferungen der Fortentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise feindlich gegenüberstehen, und auch denjenigen Schichten der Bourgeoisie, deren Habgier und Herrschsucht sie für alles blind macht, was über den augenblicklichen Profit hinausgeht und diesen widerstrebt, also gegenüber Pfaffen, Junkern, Bauern vom alten Schlage und nach Kinderblut dürstenden Fabrikanten.

Gerade in der schnellen Entwicklung der deutschen Industrie hat sich der Einfluss der Volksschule sehr bemerk- und fühlbar gemacht. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das deutsche Volksschulwesen nicht zwar an sich, aber im Vergleiche mit andern europäischen Staaten erträglich. Zum schnellen Aufblühen der deutschen Industrie trug nicht minder bei, dass Deutschland die intelligentesten, als dass es die billigsten Arbeiter stellen konnte. Es war nur eine blöde Verkennung dieser an sich richtigen Tatsache, dass der „preußische Schulmeister" bei Königgrätz gesiegt haben sollte. Um ein Zündnadelgewehr abzuschießen, braucht man nicht rechnen, lesen und schreiben zu können, aber allerdings siegte bei Königgrätz das industriell höher entwickelte Land, und an dieser höheren industriellen Entwicklung hatte das preußische Volksschulwesen seinen reichlich bemessenen Anteil. Jedoch anstatt aus der missverständlichen Prahlerei wenigstens die richtige Konsequenz zu ziehen, ist das preußisch-deutsche Volksschulwesen seit 1870 nicht höher entwickelt worden, sondern immer mehr verfallen. Wie so oft, hatten auch diesmal die Besiegten das bessere Los gezogen als die Sieger; Österreich hat seit 1866, Frankreich seit 1870 sein Volksschulwesen gründlich reformiert; beide Länder sind in diesem Punkte dem Deutschen Reiche mindestens ebenso überlegen, wie ihnen vor einem Menschenalter der preußische Staat überlegen war.

Das ist für die deutsche Arbeiterklasse eine nichts weniger als gleichgültige Sache. Sie hat allen Anlass, sich zu widersetzen, dass die Volksschule mit Haut und Haaren in die Hände der gescheitelten und geschorenen Geistlichkeit geliefert wird. So gleichmütig sie zusehen kann, wie Liberale mit Pfaffen und Junkern um die Volksschule als Herrschaftsmittel streiten, so entschieden muss sie dagegen protestieren, dass die so dürftigen Hilfsmittel, die ihr Staat und Gemeinde zur geistigen Entwicklung ihrer Kinder bieten, noch mehr verkümmert werden, so entschieden muss sie für eine gründliche Reform des Volksschulwesens eintreten.

Insofern wäre eine Verständigung zwischen Liberalen und Sozialdemokraten in der Schulfrage wohl möglich. Nicht eine prinzipielle Verständigung, denn die Liberalen werden immer darauf bedacht sein, die Volksschule als Herrschaftsmittel in ihrer Hand zu behalten. Aber doch eine Verständigung gegenüber den Junkern, Pfaffen und sonstigen rückständigen Elementen, die danach trachten, die moderne Gesellschaft zu zerstören, auf deren Boden sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat stehen. Allein wo denjenigen Liberalen; die wirklich noch so viel Charakter und Verstand besitzen, um einzusehen, dass sie sich mit der Auslieferung der Volksschule an das Pfaffentum selbst ins Fleisch schneiden, eine solche Verständigung angeboten worden ist, haben sie darauf mit allerhand albernen Redensarten geantwortet: Die Sozialdemokraten sollten sich erst bessern, und was solchen törichten Geredes mehr war.

Diesen Leuten ist in der Tat nicht mehr zu helfen. Während ein Teil von ihnen einfach vor den Junkern und Pfaffen kapituliert, glaubt der andre Teil, die Reaktion, der man wenigstens nicht abstreiten kann, dass sie Hörner, Klauen und Zähne hat, mit einigen komischen Grimassen einschüchtern zu können. Die Arbeiterklasse wird auch in der Schulfrage ihren eigenen Weg beschreiten müssen, wie er im Erfurter Programm vorgezeichnet ist: „Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen sowie in den höheren Bildungsanstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden."

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