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Franz Mehring 19040514 Die aufgedeckte Karte

Franz Mehring: Die aufgedeckte Karte

14. Mai 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 110, 14. Mai 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 693-695]

Vor vierzig Jahren sagte der preußische Kriegsminister Roon, im Herrenhause, der vorsintflutlichen Vertretung des ostelbischen Junkertums, herrsche eine „angenehme Temperatur", und diese „angenehme Temperatur" herrscht heute noch darin für alle reaktionären Minister. Da passiert es denn auch wohl, dass sich ihnen in dieser vermoderten Körperschaft die Zungen leichter lösen als im Reichstage, der immerhin unter der Kontrolle des allgemeinen Wahlrechts steht, und so ein „falscher Zungenschlag", um mit Herrn Buckle zu sprechen, ist dem Reichskanzler passiert, eben in der „angenehmen Temperatur" des preußischen Herrenhauses.

Ein „falscher Zungenschlag" insofern, als Graf Bülow einmal in seinen nichts sagenden Feuilletonplaudereien einen reaktionären Kerngedanken einstreute, den er und seinesgleichen sonst sorgsam zu verschleiern suchen. Auf die Kapuzinade irgendeines Junkers über das allgemeine Wahlrecht antwortete er: „Es wird vielfach behauptet, dass die Schuld an dem Anwachsen der Sozialdemokratie an dem Wahlsystem liegt. Kein Wahlsystem ist an und für sich ganz gut oder ganz schlecht, es wird gut oder schlecht durch den Gebrauch, den man davon macht. Wenn die deutschen Wähler von dem bestehenden Wahlsystem keinen richtigen Gebrauch zu machen wissen, so werden sie sich auch nicht wundern können, wenn früher oder später das Dilemma entsteht, ob sie den Zukunftsstaat mit seiner Zuchthausordnung und seiner Güterverwertung über sich ergehen lassen wollen oder das bestehende Recht durch ein anderes ersetzt werden soll." So der gegenwärtige Reichskanzler.

Es würde ganz falsch sein, ihm wegen dieses Wortes eine politische Moralpauke zu halten; er hat nur ausgesprochen, was die ganze bürgerliche Welt von ihrer äußersten Rechten bis zu ihrer äußersten Linken denkt oder doch im gegebenen Augenblick tun wird. Es ist dazu noch gar nicht nötig, dass der „Zukunftsstaat mit seiner Zuchthausordnung" an die Tore der kapitalistischen Gesellschaft pocht; es genügt schon vollständig, wenn die Arbeiterklasse stark genug im Reichstage vertreten sein sollte, um in irgendeiner wichtigen Frage der ausbeuterischen Politik der herrschenden Klassen einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Einen Vorgeschmack davon haben wir ja zu Weihnachten 1902 bei den Verhandlungen über den Zolltarif erlebt, wo die brotwucherische Mehrheit die parlamentarischen Schranken, die sie selbst errichtet hatte, ohne alle Umschweife über den Haufen warf, um die sozialdemokratische Opposition lahm zu legen.

Was der Reichskanzler im preußischen Herrenhause gesagt hat, ist so wenig neu, dass wir gerade in den letzten Wochen an dieser Stelle wiederholt denselben Gedanken geäußert haben, sowenig wir uns sonst irgendwelcher Geistesgemeinschaft mit dem Grafen Bülow rühmen dürfen. Sein Verdienst ist aber, dass er eine Karte, die von den herrschenden Klassen sonst sorgsam verdeckt gehalten wird, umschmeichelt von der „angenehmen Temperatur" des Junkertums in einem unbewachten Augenblick aufgedeckt hat. Deshalb schelten wir ihn nicht, sondern wir wünschen nur, dass alle bürgerlichen Politiker sich immer derselben Offenherzigkeit befleißigen und endlich ihre heuchlerischen Liebesversicherungen an die Adresse des allgemeinen Wahlrechts einstellen möchten.

Dieser Wunsch ist umso dringlicher, als die Heuchelei bei vielen bürgerlichen Verteidigern des allgemeinen Wahlrechts in der Tat unbewusst ist. Von seinem Standpunkte aus und in seinem Sinne sagt der Reichskanzler zutreffend genug, dass kein Wahlsystem ganz gut oder ganz schlecht sei. Wie jedes Ding auf der Welt seine zwei Seiten hat, so hat auch das allgemeine Wahlrecht für die herrschenden Klassen seine gute Seite. Beschränkt es sich darauf, eine sozialdemokratische Minderheit in den Reichstag zu bringen, die als solche den Gang der großen Geschäfte nicht zu hindern vermag, aber den Schein hervorruft, als habe auch die Arbeiterklasse einen reichlichen Anteil an der Volksvertretung, so werden sich wenigstens diejenigen bürgerlichen Politiker, die nicht ganz und gar in der kurzsichtigsten Klassenpolitik befangen sind, gern damit zufrieden geben. Was dabei herauskommt, eine so gewaltige Kraft, wie die moderne Arbeiterbewegung nun einmal geworden ist, völlig von der parlamentarischen Tätigkeit auszuschließen, das haben sie ja in Sachsen erfahren. Solange sie also die Garantie besitzen oder zu besitzen glauben, dass durch das allgemeine Wahlrecht nur eine hoffnungslose Minderheit von Arbeitervertretern in den Reichstag gelangt, solange sind die herrschenden Klassen oder doch ihre halbwegs einsichtigen Politiker in ihrer Weise für das allgemeine Wahlrecht begeistert und betrachten sich als die unschuldigen Opfer einer argen Verleumdung, wenn man an der Echtheit dieser Begeisterung zweifelt.

Allein diese Begeisterung hat ihre sehr bestimmte Grenze, und auf diese Grenze einmal unzweideutig hinzuweisen ist eben das Verdienst, welches sich der Reichskanzler durch das Bekenntnis erworben hat, das er neulich im preußischen Herrenhause ablegte. Wir begrüßen es umso mehr, als es geeignet ist, manche Illusionen zu zerstreuen, die über das allgemeine Wahlrecht auch noch in Arbeiterkreisen verbreitet sind. So wertvoll es ist, und sosehr das Proletariat um seine Erhaltung kämpfen muss, so ist es doch weder die einzige noch auch nur die wirksamste Waffe des proletarischen Emanzipationskampfes. Wird es je gewaltsam vernichtet, so ist das nicht eine große Niederlage, sondern ein großer Triumph der Arbeiterklasse, indem die herrschenden Klassen durch diesen verzweifelten Akt gestehen, dass für sie der Anfang vom Ende da ist, dass sie sich nur noch durch Staatsstreiche am Ruder zu erhalten wissen, denen die Signatur des Bankrotts mit breiten Lettern über die Stirne geschrieben steht.

Es kommt nur darauf an, dass sich die arbeitenden Klassen beizeiten auf diese Möglichkeit vorbereiten. Auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus können sie sich nie eine Festung erbauen, die nicht durch einen Gewaltstreich der Gegner in die Luft gesprengt werden kann; wohl aber können sie sich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft in ihren politischen und gewerkschaftlichen Organisationen gewaltige Heerlager errichten, an denen sich alle ihre Gegner hoffnungslos die Köpfe zerschellen werden, bis aus ihnen die sozialistische Gesellschaft erwächst.

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