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Franz Mehring 19040406 Die Lage Deutschlands

Franz Mehring: Die Lage Deutschlands

6. April 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 33-36. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 675-679]

In den nächsten Tagen beginnt die zweite Hälfte der Reichstagssession, und sie wird voraussichtlich um vieles interessanter werden, als die erste, war. Nicht als ob eine Auflösung des Reichstags wahrscheinlich wäre, von der vor einigen Wochen gemunkelt wurde; so gering die staatsmännischen Fähigkeiten des Reichskanzlers sein mögen, so darf man ihm schon die diplomatische Pfiffigkeit zutrauen zu erkennen, dass er einen bequemeren Reichstag als den gegenwärtigen nicht leicht haben kann. Auch die Neigung der „maßgebenden Partei" für neue Wahlen ist gewiss nicht groß, am wenigsten jetzt, wo sich der Kardinal Kopp eine beschämende Schlappe in seinem Kampfe mit dem nationalpolnischen Agitator Korfanty geholt hat und dabei die Geheimnisse des Beichtstuhls in einem Umfang aufgedeckt worden sind, der gar anmutig gen Himmel duftet. Können sich Regierung und Zentrum einigen, so werden sie es gern tun.

Aber für eine Partei, die noch, wie das Zentrum, mit dem Empfinden der großen Massen rechnen muss, wird es immer schwieriger, eine Politik zu decken, wie sie der deutsche Imperialismus treibt. Der Aufstand der Hereros wächst sich zu einem überseeischen Abenteuer aus, von dem noch gar nicht abzusehen ist, wie viel Opfer an Gut und Blut es der Nation kosten wird, und eine neue Flottenvorlage droht gerade der werktätigen Bevölkerung, die schon bis aufs Mark erschöpft ist, mit einem neuen schweren Aderlass. Dazu kommt die Ankündigung, dass unser ganzes Artilleriematerial veraltet sei und das französische Geschütz geradezu die doppelte Leistungsfähigkeit des deutschen haben soll. Solche Fühler werden aus dem militaristischen Lager nicht umsonst vorgestreckt. Wir gehen einer Periode entgegen, in der wieder einmal ein heißer Tanz mit dem Militarismus und Marinismus getanzt werden muss. Und für eine Partei, die diesen ungestümen Bettlern immer nur ein Ja, niemals aber ein Nein zu bieten vermag, schlägt einmal die Stunde, wo ihre Herrschaft ein Ende mit Schrecken nimmt.

Gegenwärtig sind gerade zwanzig Jahre verflossen, seitdem Bismarck zur Überraschung von aller Welt die Kolonialpolitik begann und in demselben südwestafrikanischen Gebiet, wo jetzt der Aufstand der Hereros tobt, die deutsche Flagge hissen ließ. In diesen zwei Jahrzehnten sind ungezählte Millionen und schmerzliche Menschenopfer in den unersättlichen Schlund geworfen worden, den der gefeierte Säkularmensch aufriss, wider seine bessere Überzeugung und nur um die Aufmerksamkeit der Wählermassen von dem offenbaren Fiasko seiner inneren Politik abzulenken. Ehe Bismarck sich zu diesem Verlegenheitsmittel einer abgehausten Politik entschloss, hatte er selbst ganz treffend eine deutsche Kolonialpolitik mit dem seidenen Kleide verglichen, unter dem verkommene Aristokraten ihr zerrissenes Hemd zu verbergen pflegten, und wenn man an dieser Politik auch sonst nichts loben kann, so hat sie doch wenigstens ihren ersten und noch halb widerwilligen Urheber als guten Propheten erwiesen. Ja, die Prophezeiung ist großartiger eingetroffen, als der Prophet selbst geahnt hat. Denn das seidene Kleid der deutschen Kolonialpolitik ist ebenso zerrissen und zerschlissen wie das Hemd, das es verbergen soll. Diese Kolonialpolitik hat sich mit allen Gräueln zu besudeln gewusst, die je an der englischen und holländischen Kolonialpolitik verflucht worden sind, aber sie hat nur ungeheure Defizits geschaffen, wo die englische oder holländische Kolonialpolitik wenigstens ungeheure Reichtümer zusammenzuraffen wusste.

Heute ist jeder Zweifel daran geschwunden, dass der Aufstand der Hereros durch ein barbarisches und unmenschliches Ausrottungssystem der deutschen „Kulturträger" entfacht worden ist. Im offiziell-teutonischen Stile ist der Aufstand ein „heiliger" Krieg, wie es nur je einen gegeben hat. Die angeblich von den Hereros in ihrem gerechten Widerstande begangenen Gräueltaten erweisen sich nach den Berichten der Missionare als ebensolche Erfindungen, wie die angeblich von den Kommunards im Jahre 1871 begangenen Gräueltaten: Es ist die unveräußerliche Art gewissenloser Unterdrücker, ihre eigenen Schandtaten ihren Opfern anzudichten, wenn diese sich dazu aufraffen, ein drückendes Joch abzuwerfen. In einer so unseligen wie unsinnigen Kolonialpolitik geht denn auch der letzte Fetzen des so genannten deutschen Prestiges in die Brüche: der wohlfeile Ruhm, mit den Kleinkalibrigen und den Maschinengewehren einige Haufen von Wilden im Zaume zu halten. In der Schlappe von Owikokorero1 hat der preußische Militarismus erfahren, ganz wie vor Jena, dass Bramarbasieren und Kriegführen zwei durchaus verschiedene Dinge sind.

Die deutsche Kolonialpolitik, mit all ihren ziel- und zwecklosen Abenteuern in exotischen Ländern, steht in eigentümlichem Gegensatz zugleich und Zusammenhang mit der nichts weniger als glänzenden Isolierung, deren sich das offizielle Reich in Europa erfreut. Hoflakaien mögen sich an den Komplimenten ergötzen, die der Kaiser auf seiner gegenwärtigen Mittelmeerreise mit den Königen von Spanien und Italien ausgetauscht hat. Diese höfischen Höflichkeiten haben sowenig zu bedeuten, wie das englisch-französische Abkommen, woran die Diplomatie in London und Paris arbeitet, viel zu bedeuten hat. Nach den bisherigen Nachrichten soll sein Inhalt dahin gehen, dass Frankreich gegen eine Geldentschädigung auf seine Fischereigerechtsame in Neufundland verzichtet, über die es bereits seit dem Frieden von Utrecht im Jahre 1713 mit England in einem immer wieder auftauchenden Streite liegt. Frankreich erkennt ferner Englands Stellung in Ägypten an. England dagegen überlässt der französischen Politik Siam und Marokko und gewährt ihr in Westafrika, wo die beiderseitigen Ansprüche hart aufeinander stoßen, eine Grenzregulierung, die alle französischen Ansprüche befriedigt.

Es ist nicht ohne Interesse zu hören, wie die „Preußischen Jahrbücher", die in den Fragen der auswärtigen Politik und nun gar in militaristisch-marinistischen Fragen den Standpunkt der Regierung vertreten, dies englisch-französische Abkommen beurteilen. Sie schreiben: „Über seinen Sinn kann kein Zweifel sein: England hat sich überzeugt, dass ihm Frankreich als Kolonialmacht nicht mehr gefährlich ist; je größer das französische Kolonialreich wird, desto weniger können die Franzosen es in Zukunft festhalten, weil sie nicht die Menschen dafür haben. Gefährlich kann Frankreich für England nur noch werden als Mitglied einer großen antienglischen Kontinentalallianz. Der Möglichkeit dieser Kombination soll es jetzt durch die weitestgehenden Konzessionen, durch die Befriedigung aller seiner Wünsche entzogen werden; denn was Frankreich in dem Abkommen opfert, sind Kleinigkeiten und internationale Rechtsansprüche, was England preisgibt, sind drei große Reiche. Marokko liegt in Spaniens natürlicher Interessensphäre, und auch Deutschland hat dort sehr große Interessen, aber wenn England sich von Marokko zurückzieht, können Deutschland und Spanien dort den Franzosen schwerlich widerstehen. Ähnlich steht es in Westafrika, und in Siam ist ohnehin England der einzige Konkurrent Frankreichs. Was England gewinnt, ist, wie ,Daily Telegraph' es ausdrückt, dass der Seeweg durch das Mittelmeer dadurch eine Straße würde so gefahrlos wie Oxford-Street in London." Dies englische Blatt erklärt denn auch das Abkommen mit Frankreich für das größte Ereignis, das seit Jahrzehnten auf politischem Gebiet zu verzeichnen gewesen sei.

Dagegen lässt sich kaum etwas einwenden. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein dauernder Bund der Westmächte die europäischen Machtverhältnisse von Grund aus verschöbe. Man denke nur an den Krimkrieg2, an den der russisch-japanische Krieg in so vielfacher Beziehung erinnert! Jedoch gibt es auch Unterschiede zwischen damals und jetzt, von denen der Deutschland am nächsten angehende in nichts anderem besteht als darin, dass die klägliche Lage des preußischen Staates zur Zeit des Krimkriegs fast rosenfarben erscheint gegenüber der gegenwärtigen Lage des Deutschen Reiches. Sicherlich, Manteuffel wusste sich an schimpflichen Liebesdiensten für den zarischen Despotismus unter dem Vorwand der Neutralität nicht genug zu tun, während die Westmächte die zarische Hegemonie über Europa brachen. Allein damals nickte Väterchen wenigstens gnädig dem borussischen Vasallen zu, während jetzt – doch hören wir auch darüber die „Preußischen Jahrbücher"! Sie führen aus: „Bereitet England sich mit diesem Vertrag auf den Krieg gegen Russland vor? Man könnte es meinen. Gleichzeitig aber kommen so merkwürdige Nachrichten von einer wieder beginnenden russischen Hetze gegen Deutschland; nicht bloß die russische Presse ist heute gegen Deutschland fast feindseliger als gegen England, sondern auch der russische Botschafter in Wien, Graf Kapnist, hat auffällig spitze Äußerungen gegen Deutschland fallen lassen … Immer wieder werfen sowohl englische wie russische Publizisten die Frage auf, ob nicht Deutschland für ihr Land von allen Rivalen der gefährlichste, von allen Gegnern der zunächst niederzuwerfende sei." Da die russische Presse nichts schreiben darf, als was der russischen Regierung genehm ist, so hat man hier den Beweis, dass die deutsche Reichspolitik mit ihrer Gendarmenpolitik gegen Mandelstamm und Silberfarb den Beifall Väterchens in so hohem Grade erweckt hat, dass er sie dafür mit Ohrfeigen traktiert. Soweit hat es Manteuffel allerdings nie gebracht.

Richtet das englisch-französische Abkommen seine Spitze nicht gegen Russland, so kann es seine Spitze nur gegen Deutschland richten. Es würde dann darauf hinauslaufen, dem Zaren einen leidlichen Rückzug aus dem ostasiatischen Kriege zu ermöglichen, um die Wucht einer europäischen Koalition, in der England, Frankreich und Russland verbunden wären, auf Deutschland fallen zu lassen. Gegen diesen „furchtbaren Ernst der Weltlage" wissen die „Preußischen Jahrbücher", und unsere Patrioten überhaupt, nichts Besseres vorzuschlagen als eine neue Flottenvorlage, als den Bau noch einiger Panzerschiffe und Torpedoboote. Sie bleiben dabei den preußischen Überlieferungen treu, denn als der alte Fritz durch eine kopflose und leichtfertige Politik eine europäische Koalition gegen sich auf die Beine gebracht hatte, glaubte er auch die Gefahr beschwören zu können, indem er einige neue Regimenter errichtete. Dadurch vermochte er aber nicht zu verhindern, dass die preußischen Gebiete im Siebenjährigen Kriege – nach seiner eigenen Abschätzung – ebenso gründlich verwüstet wurden wie ein Jahrhundert früher im Dreißigjährigen Kriege.

Vor ähnlichen Gefahren kann sich die deutsche Nation nicht durch ähnliche Mittel schützen. Will sie ihre Interessen wahren, so mag sie die neue Flottenvorlage der Regierung kurzweg in den Papierkorb werfen und dafür um so sorgfältiger jener fahrigen und hastigen Politik des Imperialismus auf die Finger passen, die zwischen widerlicher Überhebung und widerlicher Unterwürfigkeit hin und her taumelt, aber den ruhigen Gang friedlicher Kultur niemals kennt.

1 Ort in Südwestafrika, bei dem während des Hereroaufstands einer Abteilung der „Schutztruppe" schwere Verluste zugefügt wurden.

2 Begann im Juli 1853 als Krieg Russlands gegen die Türkei, ab März 1854 auch gegen England und Frankreich; die Politik der „Heiligen Allianz" erwies sich als überlebt. In Österreich traten einflussreiche großbürgerliche Gruppen für ein Bündnis mit den Westmächten ein. Desgleichen in Preußen ein Kreis adliger Diplomaten, dem sich der Thronfolger (der spätere König Wilhelm) anschloss, im Gegensatz zur Kamarilla. Dieser Gegensatz innerhalb der herrschenden Klassen führte zum Konflikt in der preußischen Staatsführung. Preußen konnte während des Krimkriegs keine selbständige Politik treiben und geriet in das Schlepptau Österreichs, das aber ebenfalls unentschlossen war.

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