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Franz Mehring 19040614 Die Volksschule und die herrschenden Klassen

Franz Mehring: Die Volksschule und die herrschenden Klassen

14. Juni 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 135, 14. Juni 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 696-698]

Im liberalen Lager tobt seit einigen Wochen ein famoser Froschmäusekrieg. Die nationalliberale Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses hat sich mit den Konservativen und den Ultramontanen zu einer Kompromissresolution in der Schulfrage vereinigt, worin die Konfessionalität der Volksschule anerkannt wird. Darüber sind die Nationalliberalen im Lande mehr oder weniger aus dem Häuschen geraten und ballen die Faust sogar nicht nur im Sacke, sondern auch in Versammlungen und Zeitungen.

Es kommt hinzu, dass neben der nationalliberalen Fraktion des Abgeordnetenhauses auch zum Teil die beiden Fraktionssplitterchen der Freisinnigen Vereinigung und der Freisinnigen Volkspartei in dieser Sache den hehren Prinzipien des Liberalismus untreu geworden sind. Sogar der Rektor Kopsch, die rechte Hand Eugen Richters, hat den Artikel 24 der preußischen Verfassung, wonach bei der Einrichtung und Erhaltung der Volksschulen die konfessionellen Verhältnisse möglichst zu berücksichtigen sind, für „eine glückliche Lösung der schwierigen Frage" erklärt. Damit können „Kreuz-Zeitung" und „Reichsbote" allerdings zufrieden sein. Die Sünder der Freisinnigen Vereinigung sind inzwischen wieder in Reih' und Glied geschwenkt, so dass die „Berliner Zeitung" mit erhobener Stimme verkünden kann, alle freisinnig-vereinigten Abgeordneten, nämlich gerade acht Mann, böten der Schulreaktion kühn die todesmutige Brust.

Genug dieser komischen Einzelheiten, die durch alles hochtrabende Gerede von den „idealen Gesichtspunkten", die bei der Schulfrage mitspielen sollen, um kein Atom ernsthafter werden. Soweit sich die herrschenden Klassen um dieser Frage willen raufen, handelt es sich für sie um sehr reelle Dinge, um Herrschaftsmittel und nichts anderes, um ein sozialpolitisches, nicht um ein pädagogisches Problem. In ihren Augen hat die Volksschule die Aufgabe, das „Volk", das heißt die Masse der Ausgebeuteten, nicht bloß zu unterrichten, sondern auch zu „erziehen", an Unterwürfigkeit, Gehorsam, unermüdlichen Fleiß und die genügsamste Bescheidenheit zu gewöhnen. Ob Bourgeois, ob Junker, ob Freimaurer, ob Orthodoxe, sie sind einig, dass die Volksschule diese „sittliche" Aufgabe habe, und nur darüber streitet man, ob das Auswendiglernen von Katechismussätzen und Bibelversen oder das von „allgemein menschlichen" Moralsprüchlein das geeignetste Mittel für so erhabene Zwecke sei.

Wenn sich die herrschenden Klassen gerade in der Schulfrage früher besonders heftig in die Haare gerieten, so war das nicht durch ihre „ideale Gesinnung", wie sie sich selbst einredeten, sondern durch ihre ideologische Überschätzung der Rolle verschuldet, die den Ideen in der historischen Entwicklung beschieden sein soll. Wer die Schule hat, der hat die Jugend, und wer die Jugend hat, der hat die Zukunft; dies Verslein gehört ja zu den trivialsten Redensarten. Die guten Leute tun so, als seien sie selbst nie zur Schule gegangen, als hätten sie nie erfahren, wie begrenzt die Macht des Lehrers über die Köpfe seiner Schüler ist und wie schnell die Schulweisheit vergessen wird, wenn das Leben sie nicht befruchtet und fortentwickelt.

Man denke nur an die vielen hellen Köpfe, die aus den Jesuitenschulen hervorgegangen sind! Unter den Momenten, die das heranwachsende Geschlecht beeinflussen, ist die Schule nur eins, und keineswegs das wichtigste. Unsre Kinder lernen, wie wir selbst, durch das ganze Leben; sie lernen in ihren Spielen, ihren Kämpfen, ihren Arbeiten, ihren Leiden und Freuden. Ihre tiefsten Eindrücke stammen von dem, was sie erleben, nicht von dem, was ihnen erzählt wird. Was sie in der Schule lernen, erweist sich nur insofern wirksam, als es zu ihren Erfahrungen im wirklichen Leben stimmt, als es sie diese Erfahrungen verstehen und begreifen lehrt. Was ihren Erfahrungen widerspricht oder ihnen unverständlich ist, das geht zu einem Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Solange man die Verhältnisse nicht ändert, in denen die Proletarierkinder aufwachsen, wird man sie nicht hindern, Sozialdemokraten zu werden, auch wenn man ihre Köpfe noch mehr als bisher mit Bibelsprüchen und frommen Versen voll stopft.

Unter diesem Gesichtspunkte würde die völlige Auslieferung der Volksschule an den Klerikalismus höchstens die eine Folge haben, dass es mit dem Programmsatze: Religion ist Privatsache noch mehr hapern würde als bisher. Das wäre gewiss kein Fortschritt, denn die Schlachten des modernen Proletariats werden nicht auf religiösem, sondern auf ökonomischem und politischem Felde geschlagen. Es ist jetzt schon eine nicht eben erfreuliche Folge der Überladung der Volksschule mit religiösem Memorierstoff, dass Schriften wie Corvins „Pfaffenspiegel" und dergleichen oberflächlicher Literatur mehr in manchen Arbeiterkreisen begieriger gelesen werden als die einfachsten und verständlichsten Programmschriften eines Marx oder eines Lassalle. Was sich darin geltend macht, ist die erbitterte Reaktion der Arbeiter gegen die Art, wie sie um kostbare Entwicklungsjahre betrogen worden sind. Diese Erscheinung, die ein gewisses Hindernis für die theoretische Aufklärung des Proletariats ist, würde in demselben Maße anwachsen, worin die Volksschule dem Klerikalismus vollends ausgeliefert wird. Allein bei all ihrer Unerfreulichkeit ist sie verhältnismäßig doch nur von nebensächlicher Bedeutung, und insofern könnte man glauben, als hätte die Arbeiterklasse an dem Kampfe um die Schule innerhalb der herrschenden Klassen kein besonderes Interesse. Hat der Liberalismus der klerikal-konservativen Reaktion gegenüber auf seine Herrschaftsmittel eins nach dem andern verzichtet, so erscheint es als eine unabwendbare Konsequenz, dass er ihr nun auch die Schule als Herrschaftsmittel ausliefert.

Allein sosehr der Kampf um die Schule innerhalb der herrschenden Klassen nur ein Kampf um ein Herrschaftsmittel ist und so verhältnismäßig gleichgültig er unter diesem Gesichtspunkte der Arbeiterklasse sein kann, so hat die Schule für den modernen Produktionsprozess doch noch eine andre Bedeutung, an der gerade auch die Arbeiter in hohem, ja in höchstem Grade interessiert sind. Hierauf behalten wir uns vor, in einem besonderen Artikel zurückzukommen.

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