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Franz Mehring 19040912 Ein historisches Beispiel

Franz Mehring: Ein historisches Beispiel

12. September 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 212, 12. September 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 722-724]

In welcher Art die Bourgeoispresse die innerhalb der internationalen Sozialdemokratie über die Taktik bestehenden Meinungsverschiedenheiten für ihre eigennützigen Zwecke auszubeuten sucht, das zeigt die „Frankfurter Zeitung" an einem neuesten Beispiele in drastischer Weise. Unter dem prunkenden Titel: Jaurès über das Frankfurter Parlament, lässt sie sich aus Paris telegraphieren, dass Jaurès in der „Humanité" eine Artikelserie über die deutsche Sozialdemokratie veröffentliche, darin auch die demokratische Bewegung von 1848 behandele und das Frankfurter Parlament gegen Marxens spätere Kritik verteidige. Jaurès bedauere, dass die Geschichte dieser Bewegung in Frankreich so wenig bekannt sei, denn sie würde den Sozialismus beider Länder zu gegenseitigem Vertrauen und Verständnis führen.

Liest man nun aber das, was Jaurès wirklich geschrieben hat, so findet man keine Verteidigung des Frankfurter Parlaments gegen Marx, dessen Name in dem Artikel nur einmal ganz beiläufig erwähnt wird, in der nicht einmal ausgesprochenen, sondern nur angedeuteten Meinung, dass er allzu scharf über das Frankfurter Parlament geurteilt habe. Darüber lässt sich ja gewiss streiten; Marx selbst würde, wenn er heute lebte, vermutlich auch nicht jedes Wort wiederholen, was er über das Frankfurter Parlament im Drang und Sturm der Revolutionsjahre geschrieben hat, wie denn die so genannten „orthodoxen Marxisten" lange vor Jaurès ihre Vorbehalte in dieser Beziehung gemacht haben. Im Übrigen ist die „Artikelserie", die Jaurès über die „deutsche Sozialdemokratie" veröffentlichen soll, nichts anderes als eine Fortsetzung seiner Amsterdamer Diskussion mit Bebel1, dem er Sophismen und Unkenntnis der historischen Tatsachen vorwirft. Ob dieser Pfeil getroffen hat oder auf die Brust des Schützen zurückprallt, können wir erst prüfen, wenn Jaurès seine Artikel beendet hat; soweit sie bisher vorliegen, lässt sich noch nicht genau erkennen, wohinaus Jaurès eigentlich will, und wir halten es für billig, ihn erst ausreden zu lassen, ehe wir urteilen. Einstweilen haben wir es nur mit der „Frankfurter Zeitung" zu tun, nicht eigentlich, um ihr einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie voreilig imaginäre Rosinen aus dem Kuchen pickt, den Jaurès bäckt, sondern um ihr im Gegenteil dafür zu danken, dass sie das Frankfurter Parlament als Zankapfel in die inneren Parteidifferenzen der internationalen Sozialdemokratie zu werfen sucht.

Es gibt nämlich nicht leicht ein historisches Beispiel, das ein so helles, bis zum Augenschmerzen helles Licht auf die revisionistische Richtung wirft wie dieses, und wir müssen uns selbst tadelnswerter Kurzsichtigkeit anklagen, dass wir nicht längst selbst auf den trefflichen Prüfstein verfallen sind. Wenn das historische Wesen des Revisionismus in der Frage besteht, ob die revolutionäre Arbeiterpartei, nachdem sie auf eine gewisse Höhe der Entwicklung gelangt ist, nicht klug daran tut, ihre revolutionäre Taktik aufzugeben, oder doch insoweit einzuschränken, dass sie durch friedlich-schiedliche Auseinandersetzung mit den herrschenden Klassen ihre Zwecke zu erreichen sucht, so stand das Frankfurter Parlament und ebenso das Berliner genau vor derselben Frage, als sie im Mai 1848 zusammentraten. Es ist bekannt, sowohl dass sie sich für den Vergleich oder, wie man damals sagte, für die „Vereinbarung" mit den bisher herrschenden Klassen entschieden, als auch dass sie sich dadurch selbst dem schmählichsten Untergange weihten.

Weshalb das so gekommen ist und so kommen musste, haben Marx und Engels und Lassalle oft genug nachgewiesen, und von diesem Nachweise hat weder Jaurès noch sonst irgendein Sterblicher je eine Silbe widerlegt, obgleich, wie wir schon andeuteten, nicht bestritten werden soll, dass Marx und Engels und Lassalle dem Frankfurter und dem Berliner Parlamente auch einmal zu viel getan haben mögen, indem sie nicht genügend die mildernden Umstände erwogen, auf die sich diese Verhandlungen vor dem Richterstuhle der Geschichte berufen können. Mildernde Umstände, die übrigens der heutigen revisionistischen Taktik unter keinen Umständen mehr zugebilligt werden könnten. Denn sie bestanden erstens in der Neuheit der Aufgabe, vor die jene Parlamente durch den plötzlichen Ausbruch der Revolution gestellt worden waren, und zweitens in der Tatsache, dass eine „Vereinbarung" zwischen absolutistischen und kapitalistischen Herrschaftsgelüsten historisch denkbar und möglich sein mag, während jede Ausgleichung zwischen kapitalistischer Herrschaft und proletarischer Emanzipation historisch undenkbar und unmöglich ist. Mit jedem Versuche dieser Art treibt die Arbeiterklasse eine noch weit verhängnisvollere Politik, als je die gleiche Politik der Bourgeoisie gewesen ist.

Als das Frankfurter Parlament im Jahre 1848 zusammentrat, besaß es wirkliche Macht, und diese Macht hatte es aus der Revolution geschöpft.

Es war den sechsunddreißig Potentaten in Deutschland überlegen, und die einfachste Logik musste ihm sagen, dass seine Aufgabe darin bestünde, immer wachsende Kraft aus den Brüsten der Mutter zu trinken, die es geboren hatte. Wie nach dem Worte des römischen Historikers die Staaten durch dieselben Mittel bestehen, durch die sie begründet wurden, so musste das Frankfurter Parlament auf revolutionärem Wege weiter schreiten und sich die Machtpositionen sichern, aus denen die Revolution die Fürsten geworfen hatte. Stattdessen wusste es nichts Besseres zu tun, als die Hand der Fürsten wieder zu stärken in der lächerlichen Einbildung, dass diese Gegner sich dadurch rühren lassen und ihm einen Anteil an der Macht gewähren würden. Herrschende Klassen sind aber immer frei von aller Sentimentalität, und als das Frankfurter Parlament seine selbstmörderische Politik damit krönte, dass es dem preußischen Könige die deutsche Kaiserkrone auf dem Präsentierteller anbot, wurde es von diesem Despoten mit einem derben Fußtritte auseinandergejagt.

Die deutsche Bourgeoisie wäre selig, wenn sie der deutschen Arbeiterklasse auch einmal diesen Fußtritt versetzen könnte, und insofern erklärt es sich, dass die „Frankfurter Zeitung" sich krampfhaft bemüht, das Frankfurter Parlament der revisionistischen Taktik als Musterbild vorzuhalten. Aber verwünscht gescheit, wie diese Politik sein mag, ist sie doch herzlich dumm. Denn die moderne Arbeiterklasse macht das bekannte Wort Hegels zuschanden und hat wirklich etwas aus der Geschichte gelernt.

1 Erster Diskussionspunkt auf dem Amsterdamer Kongress der II. Internationale 1904 war (nach Eintritt Millerands in die französische Regierung): „Internationale Regeln der sozialistischen Politik". Bebels Auftreten gegen Jaurès vor allem führte dazu, dass auf dem Kongress die Mitarbeit sozialdemokratischer Mitglieder in bürgerlichen Ministerien von der Mehrheit verurteilt wurde. Der Kongress nahm beinahe unverändert die Resolution des Dresdener Parteitages 1903 der deutschen Partei an.

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