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Franz Mehring 19041207 Ein Propagandist

Franz Mehring: Ein Propagandist

7. Dezember 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 284, 7. Dezember 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 757-759]

Diesmal hat es der Reichskanzler mit seiner Etatsrede auch in den Augen seiner Bewunderer nicht getroffen. Im vorigen Jahre konnten die Witzeleien über Dresden doch noch aufgepufft werden, um den Philister, der nur darauf lauert, verblendet zu werden, nun auch wirklich zu verblenden, aber diesmal nichts als eine Handvoll Zitate, wie sie der selige Eulenburg vor dreißig und der ebenfalls selige Puttkamer vor zwanzig Jahren immerhin noch frischer produzierten, das will selbst dem patriotischen Spießer nicht einleuchten. Er meint nicht so ganz mit Unrecht, dazu brauche man keinen Reichskanzler; das könne er selbst am Ende auch.

In der Tat kann er das auch, und wirklich ist der große Zitatensack, aus dem die deutschen und speziell die preußischen Staatsmänner seit nunmehr einem Menschenalter ihre Weisheit über die moderne Arbeiterbewegung holen, zuerst von einem nun auch schon seligen Pfarrer Schuster angelegt worden. Wir wollen billig sein und bereitwillig anerkennen, dass seit dreißig Jahren manches in der sozialdemokratischen Presse veröffentlicht worden ist und auch wohl noch veröffentlicht wird, was der bürgerlichen Kritik manche Handhabe bietet. Weltgeschichtliche Bewegungen vollziehen sich nicht in einem Tempo, das dem Philister behagt. Es gibt nicht leicht eine widersinnigere Schrift als die Offenbarung Johannis, die älteste Schrift des Christentums; sie ist noch älter als die Evangelien, die im Punkte des Widersinns übrigens auch alles Mögliche leisten. Nach der tiefsinnigen Theorie Bülow-Eulenburg-Puttkamer-Staatsmannschaft wäre nun das Christentum im Keime erstickt worden, wenn nur die römischen Präfekten beizeiten dafür gesorgt hätten, durch passend ausgewählte Zitate aus der Offenbarung Johannis oder auch aus den Evangelien die Bevölkerung des römischen Weltreichs rechtzeitig aufzuklären.

Dieser Vergleich ist sogar noch viel zu schmeichelhaft für die Bülow und Genossen. Er passt im Grunde nur für reaktionäre Minister vom Schlage der Guizot und Metternich, die den Sozialismus erst in der utopistischen Form der Fourier und Cabet vor sich hatten. Heute wo der Sozialismus längst die Kinderschuhe ausgetreten hat, wo er eine politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Macht geworden ist und auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens siegreich vordringt, heute würden sich die Metternich und namentlich die Guizot, wenn sie noch lebten, sehr hüten, mit einem Zitatentrödel vorzurücken, der aller Welt nichts beweist, als dass die Kolporteure dieses Trödels den Gegner, den sie damit vernichten wollen, nicht einmal begreifen, geschweige denn bekämpfen oder gar vernichten können.

Eine so absolut geistige Nichtigkeit von Männern, die an der Spitze eines modernen Großstaats stehen, ist sicherlich eine merkwürdige Erscheinung der Zeit. Der ehemalige schwedische Kanzler Oxenstierna hat zuvor seinem Sohne bei dessen Eintritt in die amtliche Laufbahn das ermutigende Wort zugerufen: Du glaubst nicht, mein Sohn, mit wie wenig Weisheit die Welt regiert wird, und Sancho Pansa, der Knappe des edlen Don Quichotte, tröstete sich, als er die Statthalterschaft der Insel Barataria übernahm, dass mit dem Amte der Verstand kommen werde. Aber Graf Bülow ist nun schon bald ein halbes Jahrzehnt Reichskanzler, ohne dass sein Amt ihm einen blassen Begriff von der bedeutsamsten Bewegung der Zeit beigebracht hätte, und auch der Trost Oxenstiernas will nicht verfangen, da die Art der Regiererei, wie sie heute im Deutschen Reiche heimisch ist, selbst nicht einmal ein wenig Weisheit erkennen lässt.

Nichts rätselhafter, als dass angesichts solcher Selbstoffenbarungen, wie sie Graf Bülow eben wieder geleistet hat, die Ansicht innerhalb des Sozialismus auftauchen konnte, die Arbeiterklasse sei noch nicht reif für die politische Herrschaft und würde, wenn ihr diese Herrschaft heute schon zufiele, einem unvermeidlichen Bankrott entgegengehen. Man braucht nicht zu verkennen, dass in dem heutigen Regierungsmechanismus auch noch tüchtigere Elemente tätig sind als die Bülow, Eulenburg, Puttkamer – denn sonst würde der Karren nicht einmal mehr fortholpern, sondern sofort im Graben liegen –, allein solche Elemente sind technische Arbeitskräfte, die sich unter der Herrschaft der Arbeiterklasse viel freier bewegen und entfalten könnten als heute unter der Herrschaft der Junkerklasse. Dies wäre aber überhaupt die einzige Verlegenheit, die dem Proletariat im Falle seines Sieges entstehen könnte, und obendrein auch nur eine momentane Verlegenheit, denn gerade technische Arbeitskräfte würden sich sehr schnell aus seinem Schoße erzeugen, wie sich auch die Bürokratie des Klassenstaats, wenn sie nicht völlig versteinern will, aus den „unteren Schichten" des Volkes erfrischen muss und zu erfrischen pflegt.

Sowenig wir dem Grafen Bülow sonst ein politisches Verdienst zuzuerkennen vermögen, so können wir ihm doch nicht abstreiten, dass er ein trefflicher Propagandist gegen jene verzagte Auffassung ist, als sei die Arbeiterklasse noch nicht reif, die Zügel der Herrschaft zu ergreifen. Er ist es umso mehr, als er in seiner Klasse immerhin noch hervor ragt und keineswegs seine individuelle Unfähigkeit, sondern nur ihre typische Borniertheit repräsentiert. Die herrschenden Klassen haben es immer verstanden, die Weisheit des Regierens als ein dunkles Geheimnis darzustellen, das nur die Eingeweihten begreifen können; nun vollbringt Graf Bülow die historische Tat, auf öffentlichem Markte zu zeigen, dass hinter diesem Mysterium der Jahrtausende wirklich auch gar nichts steckt. Es ist reif, verabschiedet zu werden von der unterdrücktesten aller unterdrückten Klassen, die nur deshalb die Herrschaft ergreifen wird, um alle politische und soziale Ausbeutung und Unterdrückung zu liquidieren.

Hoffentlich ist unser trefflicher Propagandist und Zitaterich bald wieder auf dem Plane, um die Sozialdemokratie mausetot zu schlagen.

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