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Franz Mehring 19041019 Ein Schulfall

Franz Mehring: Ein Schulfall

19. Oktober 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 733-737]

Neben dem Froschmäusekrieg in Lippe, der die bürgerliche Presse noch immer gewaltig aufregt, aber die Arbeiterpresse sehr kalt lässt, hat sich auch in dem Großherzogtum Oldenburg ein Thronfolgestreit abgespielt, der in der bürgerlichen Presse ziemlich kühl behandelt worden ist, jedoch in der Arbeiterpresse einen Streit entzündet hat, der nicht ohne eine gewisse Lebhaftigkeit geführt wird. Während die Parteigenossen in Lippe sich, getreu dem republikanischen Bekenntnis der Partei, ganz abseits der Frage gestellt haben, ob die Biesterfelder oder die Schaumberger im „Rechte" sind, haben die sozialdemokratischen Abgeordneten im Oldenburger Landtag zwar auch den republikanischen Standpunkt der Partei theoretisch gewahrt, jedoch praktisch den Streit zugunsten einer Fürstenlinie gegen eine andere entscheiden helfen.

Das hat nun in einer Anzahl von Parteiblättern böses Blut gemacht, so in dem Kieler und namentlich auch in dem Hamburger Parteiblatt, dem man gewiss nicht nachsagen kann, dass es an dem Fehler leide, zu den inneren Parteigegensätzen eine voreilige Stellung zu nehmen. Das „Hamburger Echo" wirft den sozialdemokratischen Mitgliedern des Oldenburger Landtags vor, sie hätten sich nachgerade in die viel berufene „praktische Arbeit" so hineingearbeitet, dass ihr Sinn für prinzipiell-demokratische Politik bedenklich abgestumpft worden sei, und es fügt hinzu, auch anderwärts hätten sich, wenngleich nicht in so krasser Form, die Folgen gezeigt, die das Versteifen auf einseitige „praktische" Arbeit habe und haben müsse. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Oldenburger Fall allerdings geradezu ein Schulfall, weil er einerseits bei der verhältnismäßigen Geringfügigkeit der ganzen Affäre ohne große Erhitzung der Gemüter erörtert werden kann, andererseits aber gerade durch diese Geringfügigkeit zeigt, wie leicht die entscheidendsten Prinzipien der Partei preisgegeben werden, wenn nur irgendwo in ungewissem Scheine so genannte praktische Vorteile aufzudämmern scheinen.

Die sozialdemokratischen Mitglieder des Oldenburger Landtags haben durch ihren Sprecher, den Genossen Hug, zwei Gründe für ihr Votum geltend gemacht. Erstens seien sie für das verfassungsmäßige Recht des Landtags eingetreten, die Thronfolgefrage zu regeln, ohne Rücksicht auf agnatische Erbansprüche, und zweitens hätten sie die Unteilbarkeit des Großherzogtums Oldenburg sichern wollen. Der erste Grund ließe sich nun etwa hören, wenn es sich um das Recht des Landtags gehandelt hätte, unbekümmert um alle agnatischen Erbansprüche die Thronfolgefrage zu regeln, also je nach seinem souveränen Willen auch eine oldenburgische Republik zu proklamieren. Tatsächlich handelte es sich aber nur darum, ob der oldenburgische Landtag das Recht einer gewissen Wahl unter den verschiedenen agnatischen Ansprüchen habe, und um einer solchen Bagatelle lohnte es sich wahrlich nicht, eins der wichtigsten Parteiprinzipien zu verleugnen. Um diese ganze Argumentation ins richtige Licht zu stellen, so läuft sie auf das Beispiel eines mittelalterlichen Ketzers hinaus; der seine religiöse Überzeugung verleugnet, wenn ihm das Recht eingeräumt wird, bei der Frage mitzusprechen, ob er enthauptet oder gevierteilt werden soll.

Tatsächlich ist denn auch wohl der zweite Grund, die Angst vor der Vier- oder wenigstens Zweiteilung des Großherzogtums Oldenburg, die eigentliche Triebfeder für die angefochtene Abstimmung unserer Oldenburger Genossen gewesen. Sie haben sich gesagt, dass eine Zerreißung des Ländchens, schon durch die dann doppelte Hofhaltung, Verwaltung usw., die Lage des oldenburgischen Proletariats verschlechtern würde. Allein diese Sorge ist etwas sehr weit hergeholt. Hat es selbst der deutsche Bundestag seligen Angedenkens niemals gewagt, einen Kleinstaat nochmals zu zerreißen, trotz aller agnatischen Katzbalgereien in seinem Schoße, so ist diese Möglichkeit unter den heutigen Verhältnissen trotz alledem nahezu eine Unmöglichkeit. Und selbst wenn dem anders wäre, so führt es in die Sackgasse einer kleinlichen Kirchturmspolitik, wenn ein Prinzip, an dessen Aufrechterhaltung das gesamtdeutsche Proletariat das höchste Interesse hat, ohne alle Umschweife preisgegeben wird, um einem verhältnismäßig kleinen Bruchteil dieses Proletariats eine künftige Vermehrung seiner Lasten zu ersparen.

Den Punkt über dem i erhält diese „praktische" Politik dadurch, dass sie gar nicht aus einer praktischen Notwendigkeit getrieben worden ist. Auch wenn sich die sozialdemokratischen Abgeordneten der Stimme enthalten hätten, so wäre das Thronfolgegesetz doch in der Form angenommen worden, für die sie gestimmt haben. Nun ist ihnen sicherlich kein Vorwurf daraus zu machen, dass, wenn sie einmal dieser Meinung waren; sie damit nicht hinter dem Berge gehalten haben, aber indem sie ohne jeden äußeren Druck und Zwang sich zur „praktischen Arbeit" solcher Art bekannten, stellten sie diese Arbeit sozusagen als Prinzip den prinzipiellen Forderungen des Parteiprogramms entgegen. Dadurch erhält dieser Oldenburger Fall den letzten charakteristischen Zug eines Schulfalls.

Die werbende Kraft der sozialdemokratischen Propaganda liegt in der Klarheit und Unerschütterlichkeit ihrer Prinzipien, die ihre Klarheit und Unerschütterlichkeit wieder aus den Bedingungen und Notwendigkeiten des proletarischen Emanzipationskampfes schöpfen. Es handelt sich darum, diesen Kampf so gründlich und so schnell wie möglich an sein Ziel zu führen, an die Befreiung der Arbeiterklasse aus den Fesseln der Lohnsklaverei; das ist der entscheidende Gesichtspunkt, der die prinzipielle Stellung der Partei zu allen politischen und sozialen Fragen bestimmt. Sie bekämpft die Monarchie und tritt für die Republik ein, nicht weil die Republik aus irgendwelchen Gründen „vernünftiger" ist als die Monarchie – die historische Vernunft hat oft genug für die Monarchie und gegen die Republik entschieden –; sie tritt auch nicht für die Republik ein, weil die Arbeiterklasse in einer Republik ein leidlicheres Dasein hat als in einer Monarchie – oft genug hat historisch das Gegenteil stattgefunden –, sondern weil die Republik dem proletarischen Klassenkampf ein ungleich günstigeres Schlachtfeld bietet als die Monarchie. Aus diesem Grunde muss das klassenbewusste Proletariat immer antimonarchisch sein, muss es immer der Republik den Vorzug vor der Monarchie geben, darf es an seiner republikanischen Gesinnung als einem Fundamentalprinzip seines Klassenkampfes, einer notwendigen Vorbedingung seines Sieges, niemals rütteln oder schütteln lassen.

Vor einigen Wochen wurde Bebel aus der Partei heraus eines argen Widerspruchs beschuldigt, weil er in Dresden gesagt habe, wir hätten unter allen Umständen die Republik der Monarchie vorzuziehen, während er in Amsterdam umgekehrt gesagt habe, die Monarchie leiste unter Umständen mehr für die Arbeiter als die Republik. In der Tat lag hier aber gar kein Widerspruch Bebels, sondern nur eine prinzipielle Unklarheit seiner Kritiker vor. In Dresden und in Amsterdam handelte es sich nicht um dieselbe Frage, sondern um zwei ganz verschiedene Fragen, die Bebel beide Male vollkommen klar und konsequent gemäß den grundlegenden Parteiprinzipien beantwortet hat. In Dresden fragte es sich, ob von sozialdemokratischer Seite der Monarchie irgendein Entgegenkommen bewiesen werden dürfe, worauf Bebel antwortete: Nein, wir müssen unbedingt an der Republik festhalten, weil sie uns das günstigste Kampffeld bietet. In Amsterdam stand die Frage aber so: Soll die bürgerliche Republik ein Feld des Kampfes oder der Versöhnung zwischen Bourgeoisie und Proletariat sein? Darauf antwortete Bebel wieder ganz konsequent: Versteht sich, ein Feld des Kampfes, denn wenn sie ein Feld der Versöhnung sein soll, so ist nicht abzusehen, weshalb wir für sie eintreten, da unter Umständen die Monarchie mehr für die Arbeiter leistet als die Republik.

Damit sind wir in den Mittelpunkt jener „praktischen Arbeit" gelangt; die alles mitnimmt, was sie für die Arbeiter bekommen kann, unbekümmert, ob dabei die Prinzipien der Partei verletzt werden. Die Parteiprinzipien verbieten keineswegs die praktische Arbeit auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft, sondern gebieten sie vielmehr, soweit diese praktische Arbeit mittel- oder unmittelbar die Kraft des Proletariats für seinen Befreiungskampf stärkt; es sei nur daran erinnert, wie oft Marx den gesetzlichen Achtstundentag als eine notwendige Vorbedingung für den Sieg der Arbeiterschaft bezeichnet hat. Allein eine „praktische Arbeit", die jeden kleinen Vorteil für einzelne Arbeiter oder einzelne Arbeiterschichten oder auch für die ganze Arbeiterklasse eines Landes vergnügt einsteckt, ohne zu fragen, ob dadurch die leitenden Grundsätze des proletarischen Emanzipationskampfes verleugnet werden, verzichtet überhaupt auf diesen Kampf. Sie beschränkt sich darauf, den Arbeitern das Leben auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft so erträglich wie möglich zu machen, und hört damit auf, sozialdemokratisch zu sein, um kathedersozialistisch oder sozialreformerisch im bürgerlichen Sinne zu werden.

Eine solche Art „praktischer Arbeit" verfährt und verfälscht den proletarischen Emanzipationskampf. Dieser Kampf kann im Gegenteil erheischen, dass die Arbeiter je nachdem auch Vorteile, die sie auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft erreichen können, freiwillig verschmähen und sich selbst eine schlechtere Lebenshaltung auferlegen, als sie haben könnten, nur um ihren Klassenkampf desto nachdrücklicher zu führen. Man denke nur an die Energie, womit die französischen Arbeiter die Danaergeschenke eines Bonaparte und die deutschen Arbeiter die Danaergeschenke eines Bismarck zurückgewiesen haben. Nichts kann ja auch klarer sein, als dass, wenn die Republik das entscheidende Schlachtfeld zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist, über kurz oder lang der Zeitpunkt eintreten muss, wo die Republik die Arbeiter grausamer misshandelt, als sie je von der Monarchie misshandelt worden sind, ein Zeitpunkt, den die französischen Arbeiter schon zweimal, im Juni 1848 und im Mai 1871, erlebt haben. Aber nichts kann auch unklarer sein als die Schlussfolgerung, die daraus in jener Polemik gegen Bebel gezogen worden ist: nämlich wenn dem so wäre, dann hätten die Arbeiter ja gar kein Interesse, für die Republik einzutreten.

Der Oldenburger Fall ist nun ein klassisches Beispiel dafür, in welchen Abgrund die „praktische Arbeit" ohne prinzipiellen Boden führt. Weil eine ganz entfernte, in Wirklichkeit so gut wie unmögliche Möglichkeit vorhanden ist, dass ein keineswegs zahlreicher Bruchteil der deutschen Arbeiterklasse in Zukunft eine Vermehrung seiner Steuerlast zu erwarten hat, wenn das sozialdemokratische Prinzip gewahrt wird, muss dies Prinzip daran glauben, wird es zwar noch mit Worten in den Silberschrank gestellt, aber mit Taten verleugnet, wird der Schein hervorgerufen, als ob die Sozialdemokratie mit der Monarchie auf dem Fuße stände, dass kleine Geschenke die Freundschaft erhalten, wird die werbende Kraft eines sozialdemokratischen Fundamentalprinzips geschwächt und die Zuversicht der Volksmassen auf die Festigkeit und Klarheit aller Parteiprinzipien erschüttert.

Mit alledem wollen wir die praktischen Wirkungen des Oldenburger Zwischenfalls keineswegs übertreiben. Die Partei als solche ist für ihn nicht verantwortlich, und der Protest, der sich fast allgemein in der Parteipresse gegen ihn erhoben hat, lässt ihn mehr als eine beklagenswerte, denn als eine verhängnisvolle Ausnahme von der Regel erscheinen. Auch in dieser Beziehung ist er nur ein Schulfall, aber umso unbefangener kann man an ihm die Folgen jener „praktischen Arbeit" studieren, die den Leitstern des Prinzips aus den Augen verliert.

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