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Franz Mehring 19041123 Ein Spinnwebfaden

Franz Mehring: Ein Spinnwebfaden

23. November 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 257-260. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 738-741]

Die „Frankfurter Zeitung" hat für sich und die „Nation" des Herrn Theodor Barth eine merkwürdige Entdeckung gemacht. Danach haben die beiden Organe seit Jahrzehnten den proletarischen Klassenkampf geführt. Gemäß der „Frankfurter Zeitung" bedeutet nämlich dieser Kampf „in konkreten Fällen nichts weiter, als ganz aus eigener Kraft von den anderen sich tüchtig wichsen" zu lassen. Da nun seit Jahrzehnten keine politische Partei in Deutschland so „tüchtig gewichst" worden ist wie die Richtung, die von der „Frankfurter Zeitung" und von der „Nation" vertreten wird, so liegt die Schlussfolgerung auf der Hand, vorausgesetzt, dass der proletarische Klassenkampf wirklich „nichts weiter" bedeutet, als er nach dem Frankfurter Blatte bedeuten soll.

Bittere Enttäuschung ist immer eine schlechte Ratgeberin, und so nehmen wir der „Frankfurter Zeitung" ihren Scherz nicht übel. Sie und die „Nation" haben politisch nichts mehr hinter sich als ein kleines Häuflein guter Leute und schlechter Musikanten, mit denen platterdings kein ernsthafter Krieg geführt werden kann, und so dünken sie sich gerade noch gut genug als Generalstäbler der Sozialdemokratischen Partei, die nach ihren Rezepten nun gut machen soll, was sie seit vierzig Jahren angeblich schlecht gemacht hat. Allmählich kommen sie aber dahinter, dass es mit diesem feinen Plänchen auch nichts ist, und so reden sie sich in einen blinden Zorn gegen den proletarischen Klassenkampf hinein, dem sie gerade die politische Impotenz vorwerfen, die ihr eigentliches Kennzeichen und Merkmal ist.

Das ist menschlich begreiflich und insoweit auch verzeihlich. Man muss sich sogar hüten, diesen liebenswürdigen Gönnern einen Tadel auszusprechen. Denn dann würden sie sofort ein gewaltiges Hallo erheben und die gesamte Menschheit zum Zeugen dafür aufrufen, wie sehr sie gefürchtet würden. Wohl aber darf man mit einiger Genugtuung registrieren, dass sie in ihrer gründlichen Verstimmung allerlei Gedanken ausplaudern, die sie sonst in der keuschen Tiefe ihrer Herzen zu verbergen pflegen. Sie verhöhnen den proletarischen Klassenkampf in der schon angedeuteten, zwar salz-, aber deshalb nicht giftlosen Weise; sie sagen, es sei das Schicksal dieses Kampfes, immer und überall geschlagen zu werden; sie zucken die Achseln über die Möglichkeit, dass die Arbeiterklasse je aus eigener Kraft gegen die Bourgeoisie aufkommen könne; sie präsentieren sich endlich als das moralische Gewissen der herrschenden Klassen, an das zu appellieren dem Proletariat die einzige Möglichkeit der Rettung biete.

Alles das ist in der „Nation" zu lesen, und die „Frankfurter Zeitung" summt dieselbe Melodie. Diese Geständnisse verdienen immerhin niedriger gehängt zu werden. Ursprünglich nämlich las man es ganz anders. Da sollte das Bündnis zwischen Bourgeoisie und Sozialdemokratie nur geschlossen werden, um gemeinsam gegen die absolutistisch-feudalistische Reaktion zu kämpfen. Das hatte noch einen gewissen logischen, wenn auch keineswegs zwingenden Sinn. Denn ein solches Bündnis war ganz überflüssig, da die Arbeiterklasse noch nie auch nur einen Augenblick gezögert hat, die Bourgeoisie zu unterstützen, sobald diese bereit war, einen wirklichen Kampf gegen die Reaktion zu führen. Nicht an die Arbeiter, sondern an ihre eigene Klasse hätten die Befürworter dieses Bündnisses ihre Beschwörungen richten müssen, denn die Liberalen haben ihre politische Pflicht bekanntlich bisher fast immer versäumt, sobald es galt, die Reaktion dadurch zu bekämpfen, dass man die Sozialdemokratie unterstützte.

Indessen, wenn die Gelehrten der „Nation" und der „Frankfurter Zeitung" gelegentlich auch ihresgleichen abkanzelten, so fiel der erquickende Tau ihrer Beredsamkeit doch vorzugsweise auf die sozialdemokratischen Felder. Die Sozialdemokratie sollte sich „mausern", um der Ehre würdig zu werden, von solchen Generalstäblern kommandiert zu werden. Dies stand nun schon in einem höchst sonderbaren Widerspruch zu der ursprünglichen oder richtiger der vorgeschützten Absicht. Um die Reaktion zu stürzen, zieht man sich auf die Heermassen der Arbeiterklasse zurück, was insoweit nicht unvernünftig war, aber indem diese Heermassen ins Feld rücken sollen, mutet man ihnen zu, sich zu desorganisieren. Es ist just solch genialer Einfall, als wenn Benedek sich im Jahre 1870 den deutschen Heeren als Oberbefehlshaber empfohlen hätte, unter der Bedingung, dass sie seine Strategie und Taktik von 1866 nachahmten.

Da es nun aber mit der „Mauserung" seine guten Wege hat, lassen die großen Strategen die Maske fallen und verspotten dieselbe Partei, ohne deren Hilfe sie eben erst die Reaktion für unbesiegbar erklärt haben, als ein Nichts, als einen Schatten und einen Schemen, der jeden Augenblick mit dem kleinen Finger des kapitalistischen Gewaltstaats zerdrückt werden könnte. Liest man diese Rodomontaden in der „Nation" und in der „Frankfurter Zeitung", so erscheinen sie um kein Haarbreit wahrer als in der „Post", aber allerdings noch um einige Haaresbreiten unschöner. Denn die scharfmacherische Presse glaubt doch ein für allemal an ihr Kredo, während diejenigen Leute, die der Sozialdemokratie nachlaufen und sie dann erst für eine gemeingefährliche Utopie erklären, wenn sie sich ihren Utopien unzugänglich erwiesen hat, in der Tat zum Schaden noch den Spott verdienen.

Jedoch es ist ganz nützlich, wenn sie selbst offenbaren, worauf es ihnen bei ihrem Liebeswerben um die Sozialdemokratie eigentlich angekommen ist. Man darf nicht daran zweifeln, dass sie die Reaktion hassen, dass sie den Bülow und Hammerstein und Schönstedt gern zuherrschen möchten: Hebet euch von unseren Ministersesseln, damit wir uns darauf niederlassen können. Man darf ebenso wenig daran zweifeln, dass sie aus Mangel an eigenen Truppen für diesen Zweck die Arbeitermassen gern aufbieten möchten. Insoweit sind sie ganz ehrlich. Aber die Arbeitermassen müssen nach ihrem Kommando und beileibe nicht nach eigenem Plane marschieren, denn sonst sind die trefflichen Strategen von ihrem Bourgeoisstandpunkt aus keinen Augenblick sicher, dass sie den Teufel nicht durch Beelzebub vertreiben; lieber liegen sie sich, weinend vor Schmerz und vor Freude, mit den ärgsten Reaktionären in den Armen, ehe sie dem Proletariat auch nur eine Handvoll reeller Macht gönnen.

Dies ist der eigentliche Sinn der „Mauserung", von der Herr Barth und seine Frankfurter Freunde singen und sagen; so erklärt sich der Widerspruch, weshalb sie in demselben Augenblick, wo sie angeblich die Sozialdemokratie als geschlossene Macht gegen die Reaktion aufbieten wollen, durch alle möglichen Hetzereien von hinten herum ebendiese Macht zu sprengen suchen. Ohne die Hilfe der Arbeiterklasse können sie gar nicht daran denken, die Reaktion zu stürzen, aber diese Hilfe kann für sie ebenso gefährlich werden wie für die Reaktion, wenn die Arbeiter nicht vom Kopfe bis zum Fuße in liberale Flausen eingewickelt worden sind. Lässt sich diese Vorbedingung nicht erfüllen, so lassen die braven Männer ihrer angeborenen Arbeiterfeindschaft alle Zügel schießen und legen sich, wie eben jetzt, ins gesellschafts- und staatserhaltende Zeug, dass man nicht mehr weiß, ob man die „Nation" oder die „Post" liest.

Von praktischer Bedeutung ist ihre Selbstenthüllung gewiss nicht, denn die kleine Gruppe, um die es sich hier handelt, hat in der praktischen Politik überhaupt nichts zu sagen. Aber symptomatisch ist die Sache immerhin wert, verzeichnet zu werden. Innerhalb der bürgerlichen Klassen gibt es keine einzige Richtung, von der, wir sagen nicht einmal ein aufrichtiges Interesse für, sondern nur ein ehrliches Bündnis mit einer Arbeiterpartei zu erwarten wäre. Solch Interesse und Bündnis ist höchstens die Sache einzelner bürgerlicher Ideologen, aber keines bürgerlichen Fraktiönchens, und sei es so klein, wie die anderthalb Dutzend Männlein, die hinter der „Frankfurter Zeitung" und der „Nation" einher ziehen. Mögen sie noch so breitspurig und noch so erhaben von ihrer Bereitwilligkeit reden, mit der Sozialdemokratie gemeinsam die Reaktion zu bekämpfen, ihr Hintergedanke ist immer, die Sozialdemokratie als Katzenpfötchen zu missbrauchen, um die Kastanien der Bourgeoisie aus der heißen Asche der Reaktion zu holen.

Gefährlich für die Partei ist dies Treiben an und für sich nicht. Wenn die Barth und Genossen nicht nachgerade daran verzweifelten, mit ihren kleinen Mätzchen eine „Mauserung" der Sozialdemokratie herbeizuführen, so würden sie trotz all ihrer enttäuschten Hoffnungen doch nicht so offen mit der Sprache herausgehen, wie sie jetzt tun. Was ihnen dennoch den Mut aufrechterhält, das ist die hier oder da in der Partei hervortretende Neigung, diesen Brüdern mit ihrer eigenen Münze zu zahlen. Es sei nur an die Kompromisse bei den Gemeindewahlen in einzelnen Parteiorten verwiesen, auf die sich die „Frankfurter Zeitung" denn auch mit großer Emphase beruft. In solcher Art des Kampfes sind die bürgerlichen Intriganten immer den sozialdemokratischen Politikern überlegen, und wir stimmen ganz mit Bebel überein, der kürzlich in einer französischen Zeitschrift geschrieben hat, der Sozialdemokrat, der sich einbilde, eine bürgerliche Partei durch eine klug berechnete Mäßigung einwickeln oder täuschen zu können, sei ein politischer Dummkopf.

Gewiss kann auch die Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien ein Abkommen schließen, aber sie darf dabei nie, wie es neuerdings mehrfach geschehen ist, den prinzipiellen Boden des proletarischen Klassenkampfes verlassen, den die Männer der „Frankfurter Zeitung" und der „Nation" so krampfhaft zu verhöhnen suchen, weil sie wissen, wie uneinnehmbar er für all ihre Ränke und Schwanke ist. Es ist nur ein Spinnwebfaden, woran ihre luftigen Hoffnungen hängen, und ehe sie sich's versehen, wird er zerrissen sein.

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