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Franz Mehring 19040130 Eine Huldigung

Franz Mehring: Eine Huldigung

30. Januar 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 24, 30. Januar 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 639-641]

Im Reichstage spielt sich gegenwärtig die sozialpolitische Debatte ab, die seit einer Reihe von Jahren zu einer ständigen parlamentarischen Einrichtung geworden ist, sobald der Etat für den Reichstag des Innern1 zur Beratung gelangt. Über die zahlreichen Wiederholungen längst bekannter Dinge, an denen diese Debatte zu leiden pflegt und ihrer Natur nach auch leiden muss, machen sich die bürgerlichen Blätter lustig, was allerdings die bürgerlichen Parteien nicht hindert, das spöttisch so genannte „sozialpolitische Wettrennen" mitzumachen. Allein dieser Spott trifft nur die Spötter selbst und am allerwenigsten die, die er in erster Reihe treffen soll, nämlich die Sozialdemokratie.

Gewiss, wir wünschten auch, dass es mit der sozialpolitischen Entwicklung und Gesetzgebung in Deutschland ungleich schneller vorwärts ginge, als es tatsächlich vorwärts geht, dass es nicht notwendig wäre, tausendmal in dieselbe Kerbe zu hauen, bis zum tausend und ersten Mal vielleicht ein kleiner Fortschritt erreicht wird. Aber unsre Schuld ist es nicht, dass jeder Fortschritt auf diesem Gebiete einen so hartnäckigen und zähen Widerstand findet, wir stehen eben nur vor der Wahl, entweder auf jede soziale Reform zu verzichten oder sie dadurch zu erzwingen, dass die Tropfen allmählich den Stein höhlen. Ließen wir in dieser steten und ungestümen Berennung der feindlichen Festung einmal nach, im Vertrauen auf die Einsicht und die Menschenfreundlichkeit der Besatzung, so würden wir das sofort an ihrer vermehrten Hartnäckigkeit und Zähigkeit zu spüren haben. Dieses Eisen lässt sich nur schmieden, solange es heiß ist.

Wir sagen das nicht in dem Sinne, als ob die gegenwärtige Regierung oder der gegenwärtige Reichstag an einer besonderen Böswilligkeit litten. Es handelt sich vielmehr um eine ganz allgemeine, weltgeschichtliche Erscheinung, von der es ausnahmsweise keine Ausnahme gibt. Überall wo sich unterdrückte und unterdrückende, beherrschte und beherrschende Klassen gegenüberstehen, gibt es nur zwei Wege, auf denen die beherrschten und unterdrückten Klassen vorwärts kommen können. Entweder bricht das Gemeinwesen selbst an der Fäulnis der Unterdrückung zusammen, und die herrschenden Klassen müssen dann selbst so viele Reformen durchführen als notwendig sind, um den zusammengekrachten Bau wieder notdürftig zurechtzuflicken, oder die unterdrückte Klasse hilft sich selbst und zwingt ihre Unterdrücker, ihr gerecht zu werden. Es versteht sich, dass diese Methode viel gründlicher ist als jene.

Man erkennt das sofort an einem Vergleiche der Schlacht bei Jena mit der Berliner Märzrevolution. Bei Jena wurde der preußische Staat kurz und klein geschlagen, weil seine herrschenden Klassen sich so unfähig wie unwillig gezeigt hatten, die sozialen Reformen durchzuführen, die im Interesse der bäuerlichen Arbeiterklasse längst notwendig geworden waren. Aber da diese Klasse selbst nicht die Hand gerührt hatte, um sich zu helfen, so wurde ihr auch nur so weit geholfen, als es im Lebensinteresse der herrschenden Klassen absolut notwendig war. Sobald ihre Knochen auf den Schlachtfeldern von Großbeeren, Dennewitz, Leipzig bleichten, wurde sie womöglich noch ärger geprellt und noch rücksichtsloser geschunden als vor Jena. Erst als sie dann in der Revolution von 1848 praktisch zeigte, dass nunmehr ihre Geduld zu Ende sei, beeilten sich die herrschenden Klassen, die Bauern zu emanzipieren, soweit dies auf dem Boden des Klassenstaats überhaupt möglich war.

Sieht man nun aber von dem Unterschiede dieser beiden Methoden ab, so gibt es keine dritte Methode, durch die eine unterdrückte Klasse sich helfen kann. Graf Bülow ist gewiss ein ehrlicher Mann, aber ebenso gewiss kein unterrichteter Mann, und wenn er neulich im Reichstage sagte, ein Haupthindernis der sozialen Reform sei in Deutschland die republikanische Gesinnung der Arbeiter, so war diese Behauptung objektiv das genaue Gegenteil der Wahrheit. Setzen wir einmal den – an sich ja natürlich unmöglichen – Fall, dass die drei Millionen sozialdemokratischer Wähler plötzlich in heller Begeisterung für die Monarchie aufflammen und ihr aus ehrlichem Herzen ewige Treue schwören würden, so wäre dies das sicherste Mittel, das immer noch schwache Bäumchen der Sozialreform bis auf die letzte Wurzel auszurotten, und zwar wäre dies Mittel um so sicherer, je mehr die herrschenden Klassen von der Echtheit der monarchischen Gesinnung innerhalb der Arbeiterklasse überzeugt sein würden. Sie würden daraus die einzige und von ihrem Standpunkte aus auch gerechtfertigte Schlussfolgerung ziehen, dass die Arbeiter mit ihrem Lose vollkommen zufrieden wären und dass es höchst töricht sein würde, sie an höhere Ansprüche zu gewöhnen. Dass eine herrschende Klasse aus eigenem Antriebe je auch nur den Finger gerührt hat, der beherrschten Klasse zu helfen, ist nie in der Geschichte dagewesen und wird auch nie vorkommen, aus inneren psychologischen Gründen, die sich niemals ändern können, solange es herrschende und beherrschte Klassen gibt, wie sehr sich sonst immer die Verhältnisse dieser Klassen ändern mögen.

Deshalb ist es auch ein ausgewachsener Humbug, wenn die bürgerlichen Parteien, wie auch in früheren Jahren, so jetzt wieder in den sozialpolitischen Debatten des Reichstags sich rühmen, aus freien Stücken Sozialreform zu treiben. Die Junker haben einige hundert Jahre die Bauern bis auf die Knochen geschunden, ohne auch nur im Traume an eine Fürsorge für die geschundene Klasse zu denken; die katholische Kirche hat sogar ein paar Jahrtausende allen möglichen Plackereien aller möglichen unterdrückten Klassen ihren gottseligen Segen gegeben, und wenn die Bourgeoisie auch erst seit einigen Jahrzehnten die kapitalistische Peitsche schwingt, so hat sie diese verhältnismäßig kurze Zeit desto gründlicher ausgenützt. Erst als diese Klassen die Macht der Arbeiterklasse erstarken und ihre eigene Macht dahinschwinden sahen – wie man das gerade jetzt an dem Liberalismus studieren kann, der wirklich erst auf dem letzten Loche pfeifen musste, ehe er sich mit Ach und Krach entschloss, „sozialreformatorisch" zu werden –, erst da entschlossen sie sich, sich auf ein „Wettrennen" einzulassen, über das ihre eigenen Blätter, unter diesem Gesichtspunkte, denn freilich wohl mit Recht spotten mögen.

Allein die Sozialdemokratie steht über diesem Spotte. Sie erfüllt eine gebieterische Pflicht der Kultur, indem sie unaufhörlich den Hebel ansetzt, um den trägen Widerstand der herrschsüchtigen Masse zu überwinden, und sie lässt sich in kein „Wettrennen" ein, sondern sie ist die Treiberin, und die bürgerlichen Parteien sind die Getriebenen, wenn diese die sozialen Reformatoren spielen. Wie die Heuchelei ein Zoll an die Tugend, so ist der sozialreformerische Eifer der bürgerlichen Parteien nur eine Huldigung an die unermüdliche Energie, womit die Sozialdemokratie die Interessen der Arbeiterklasse vertritt.

1 Muss heißen: Reichsamt des Innern.

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