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Franz Mehring 19040907 Eine Illusion

Franz Mehring: Eine Illusion

7. September 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 737-740. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 708-711]

In einem schwer gelehrten Werke, das Professor Gustav Schmoller jüngst herausgegeben hat*, kommt er auf die Frage zu sprechen, wie Deutschland „als das Land des geringsten sozialen Druckes die revolutionärste politische Arbeiterbewegung bekommen" habe. Die Frage ist sehr heikel für einen preußischen Historiker, der seit reichlich einem Menschenalter „das soziale Königtum der Hohenzollern" als eine historische Erscheinung zu erweisen sucht, und man kann nicht ohne einiges Vergnügen verfolgen, wie Schmoller sich dreht und windet, um zu erklären, was, wenn anders die Rechnung seines wissenschaftlichen Lebens stimmen soll, ein unerforschliches Rätsel ist. Es handelt sich darum zu wissen, wie unter einem „sozialen Königtum", einem „liberalen, gerechten, anständigen Beamtentum, das manche arbeiter- und bauernfreundliche Reformen schuf", bei der Abwesenheit jeder Bourgeoisherrschaft, von der „in ganz Deutschland im ganzen neunzehnten Jahrhundert nirgends die Rede war", dennoch eine Arbeiterpartei als „politisch-wirtschaftliche Macht ersten Ranges, und zwar im Sinne republikanisch-revolutionärer Tendenzen", entstehen konnte.

Mit praktischer Umkehrung eines Dichterwortes meint Schmoller, dass ein Geist des Übels in dem Guten wohne. „Das Land der besten Volksschule, der besten Bürokratie, der besten Kasernen und der allgemeinen Wehrpflicht sowie der vollendeten Disziplinierung der Arbeiter in Riesenbetrieben, wie den Kruppschen, war kein ungünstiger Boden für die Disziplinierung der Industriearbeiter in einer politischen Partei unter diktatorischem Befehl." Dazu habe der idealistisch-doktrinäre Volkscharakter, die philosophisch-spekulative Neigung weiter Kreise ein Förderungsmittel unpraktisch sozialistischer Gedankensysteme gebildet. Am Rhein, in Sachsen, in Süddeutschland habe ein auf Unkenntnis ruhender törichter Preußen- und Hohenzollernhass geblüht, eine kindliche Schwärmerei für Republik und Volkssouveränität, für französisch-parlamentarische Freiheitsphrasen. Aber diese und einige ähnliche Gründe genügen für Schmoller selbst doch nicht; er meint schließlich, trotz alledem hätte die deutsche Arbeiterbewegung in ganz andere, viel weniger exzentrische Bahnen verlaufen können, wenn nicht zwei wirklich große Männer sie leidenschaftlich in solche gerissen hätten: Lassalle und Marx. Beide echt jüdische, zersetzende Geister, beide nationalökonomisch nur auf den Juden Ricardo eingeschworen, hätten sie bei scholastisch angelegten, fanatischen Politikern zunächst den nötigen literarischen Anhang gefunden; „die Masse der gelernten, bald auch der übrigen Arbeiter war gerade geistig soweit geweckt, um durch ihre Theorien sich begeistern zu lassen, politisch, philosophisch, volkswirtschaftlich sowenig gebildet, um an sie kritiklos zu glauben". Die Arbeiter hätten mit diesen Sätzen auf den Bahnen der Wissenschaft zu wandeln geglaubt; sie hätten nicht sehen können, dass sie damit die Kleider anzogen, die die Wissenschaft eben als verbraucht und unhaltbar abgelegt habe.

Wären Marx und Lassalle wirklich so gewesen, wie Schmoller sie schildert, so ist nicht recht zu verstehen, wo ihnen die „wirkliche Größe" gesessen haben soll. Indessen auf eine Unebenheit mehr oder weniger kommt es bei dieser ganzen Argumentation nicht an. Was uns jedoch interessiert, ist die Art, wie ein anderer namhafter Vertreter der bürgerlichen Gelehrsamkeit den von Schmoller angezettelten Faden fort spinnt. Professor Hans Delbrück sagt im neuesten Hefte der „Preußischen Jahrbücher" zu Schmollers Beweisführung: Gut soweit, „wie aber kam die deutsche Arbeiterbewegung gerade in die Hände dieser Persönlichkeiten?" Delbrück findet, dass diese Frage nicht bloß historisch, sondern auch praktisch-politisch sehr bedeutsam sei, denn sie entscheide darüber, was zuletzt das herrschende Element der deutschen Arbeiterbewegung sei, „das demokratische oder das sozialistische, das praktische oder das utopische, etwas, womit wir positiv zu rechnen, oder etwas, was wir schlechthin zu bekämpfen haben?"

Delbrück behauptet nun, dass der letzte Grund, weshalb Marx und Lassalle das Sozialistische so stark herausgearbeitet hätten, nicht in dem Sozialen selber läge, denn das meiste davon sei ja als Utopie bereits von den eigenen Anhängern aufgegeben worden, sondern darin, dass sie erkannt hätten, ohne ein solches Ideal seien die Massen zum Sturze der bestehenden Staatsordnung nicht zu bewegen. „Die Revolution als solche war ihnen die Hauptsache. Das ist der Grund, weshalb Juden, die keinerlei innere Beziehung zum überlieferten Staate hatten, an die Spitze der Bewegung traten; und das ist auch der Grund, weshalb gerade in Deutschland die Bewegung am allerstärksten geworden ist – obgleich, wie Schmoller sagt, Deutschland das Land nicht etwa des stärksten, sondern gerade des geringsten sozialen Druckes ist. Aber Deutschland ist das Land der festesten politischen Ordnung, das Land, wo die überlieferten Mächte ihren Besitz mit solcher Kraft und Zähigkeit festhalten, dass ebendieser Druck den Gegendruck erzeugte." Damit soll, worauf wir der Billigkeit wegen aufmerksam machen wollen, auch ein leiser Tadel der kapitalistischen Scharfmacherei ausgesprochen werden; sowohl Delbrück wie Schmoller wagen, aus gemessener Ferne anzuerkennen, dass die Arbeiterbewegung durch das Sozialistengesetz nicht nur nicht aufgehalten, sondern gefördert worden sei.

Ebendeshalb aber, weil diese Blüten sozialpolitischer Einsicht noch an verhältnismäßig grünen Zweigen sprossen, lohnt es, sie einmal zu pflücken. Gewiss nicht, um sie zu analysieren. Das wäre eine sehr unnütze Verschwendung an Kraft und Zeit. Was soll man auch zu der glorreichen Entdeckung Delbrücks sagen, dass Lassalle und Marx der bürgerlichen Gesellschaft den Krieg angesagt hätten, um den preußischen Staat umzubringen? Delbrück hat damit die Briefe wieder gefunden, die der brave Stieber schon in den halb verschollenen Tagen des Kölner Kommunistenprozesses ausbot, worauf Marx erwiderte: „Wessen direkter Zweck es wäre, den preußischen Staat zu stürzen, und wer zu diesem Behuf die Zertrümmerung der Gesellschaft als Mittel lehrte, der gliche jenem verrückten Ingenieur, der die Erde sprengen wollte, um einen Misthaufen aus dem Weg zu räumen."1 Indem Delbrück diese famose Stieberiade wiederholt, spielt er sich noch, was sein Vorläufer immerhin nicht getan hat, als den großen Denker auf, der von der heiteren Höhe seiner geistigen Überlegenheit auf den „komischen Anspruch" der Sozialdemokratie herab lächelt, „die wahre Wissenschaft zu vertreten"; er meint: „Man kann ja die heutigen Genossen, die wirklich mit der Wissenschaft in Fühlung stehen, an den Fingern aufzählen." In der Tat, und es wäre noch viel schöner, wenn Herr Delbrück nicht einmal einen Finger seiner Hand zu bemühen brauchte, um einen Genossen aufzuzählen, der mit seiner Sorte von Wissenschaft in Fühlung stände.

Wir glauben nicht, dass es einen Genossen gibt, der mit den Ansichten Delbrücks und Schmollers über Marx und Lassalle sei es selbst nur die leiseste Fühlung nehmen möchte. Aber es gibt ihrer mehr als einen, der des süßen Traumes lebt, dass der proletarische Klassenkampf von der bürgerlichen Intelligenz mehr und mehr verstanden werde, wodurch er mildere Formen annehme. Darauf geben denn die Urteile Delbrücks und Schmollers über die deutsche Arbeiterbewegung die erschöpfende Antwort, und deshalb haben wir diese Urteile niedriger gehängt. Sie zeigen schlagend, dass, je mehr „das meiste davon als Utopie von den eigenen Anhängern aufgehoben" wird, oder, wie Schmoller sich ausdrückt, je mehr die Lehre von der Verelendung der Massen, dem Schwinden des Mittelstandes usw. in die „Rumpelkammer der sozialistischen Antiquitäten verwiesen" wird, die bürgerliche Gelehrsamkeit sich nicht um so einsichtiger und entgegenkommender, sondern im Gegenteil um so bockiger und verstockter gibt, bis zur Wiederherstellung des seligen Stieber als eines richtigen Deuters marxistischer Gedankengänge. Den Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft ist es nicht um eine sachliche Diskussion zu tun, sondern eben um eine Apologie; über die harmlosen Leute, die mit ihnen unterhandeln, um ja nicht ungerecht zu werden, lachen sie sich ins Fäustchen und umstellen sie mit ihren Truppen, bis sie mitten im Feindeslager stehen oder doch zu stehen scheinen. Denn sowenig diejenigen Genossen, denen das ewige Zweifeln am Marxismus das halbe oder auch das ganze Leben ist, daran denken, zum Gegner überzugehen, sosehr suchen ihre bürgerlichen Bewunderer den Schein hervorzurufen, als ob sie zu ihnen übergegangen seien. Die Wirkung dieser Zweifelsucht ist dann aber nicht eine Milderung, sondern eine Verschärfung des proletarischen Klassenkampfes ; die herrschenden Klassen werden in demselben Grade üppiger, worin sie zu erkennen glauben, dass die Arbeiterklasse für Ziele kämpft, an deren Berechtigung sie selbst nicht mehr glaubt.

Man wird sich gewiss hüten müssen, aus dieser Tatsache, die durch die von uns angezogenen Äußerungen zweier angesehener bürgerlicher Historiker so grell beleuchtet wird, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist den skeptisch veranlagten Genossen kein Vorwurf daraus zu machen, dass sie den Gegnern die ersehnte Gelegenheit geben, Siegeslieder über die Hinfälligkeit der sozialistischen Theorie anzustimmen. Sie können mit Luther sagen: Ärgernis hin, Ärgernis her, wir müssen unseres Gewissens raten, mag daraus folgen, was da will, und sie können sich auf die perfide Weise berufen, womit von der feindlichen Seite nur zitiert wird, was sie am Marxismus auszusetzen haben, nicht aber, was sie von ihm beibehalten wollen. Zudem ist wohl zu erwägen, ob der proletarische Klassenkampf alles in allem nicht besser vorwärts kommt, wenn er mit Gegnern zu tun hat, die völlig verblendet sind, als mit Gegnern, die einigermaßen um sich wissen. Gelingt es dem Revisionismus, die bürgerliche Universitätsgelehrsamkeit auf den Grad Stieberscher Weisheit zu beschränken, so kann er sich um den siegreichen Fortschritt des proletarischen Klassenkampfes ein zwar ungewolltes, aber beträchtliches Verdienst erwerben.

Alles das sei bereitwillig zugegeben. Aber deshalb darf der tatsächliche Sachverhalt nicht verschleiert werden, darf in den eigenen Kreisen keine Illusion darüber um sich greifen, was die Wirkungen einer Politik sind, die mit der Möglichkeit eines friedlich-schiedlichen Ausgleichs zwischen Bourgeoisie und Proletariat rechnet. Die moderne Arbeiterklasse darf den Preis ihrer sibyllinischen Bücher immer nur steigern; lässt sie sich aufs Abhandeln ein, so werden sie zu jener Makulatur, auf der die Runen bürgerlicher Weisheit über Marx und Lassalle verzeichnet sind.

* Gustav Schmoller, Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre. 2. Teil. Leipzig, Duncker & Humblot. 718 S. 15 Mk.

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