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Franz Mehring 19040629 Eine Pritsche

Franz Mehring: Eine Pritsche

29. Juni 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 148, 29. Juni 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 705-707]

Der Opportunismus ist eine Fäulniserscheinung, die weder Fleisch noch Haut, noch Knochen verschont. Er verdirbt nicht nur den Charakter, sondern auch die Intelligenz. Einen schlagenden Beweis für diese melancholische Erfahrung bietet Jean Jaurès in einem langen Artikel, den er in seinem neu gegründeten Blatte der deutschen Sozialdemokratie widmet. Die deutsche Bourgeoispresse hat sicherlich schon vielen Widersinn über unsre Partei zusammengeschrieben, aber wir entsinnen uns keiner Leistung von ihr, die sich in dieser Beziehung mit dem Artikel von Jaurès messen könnte. Und dabei wird diese Weisheit noch im „Neuen Montagsblatte" ohne ein Wort der Kritik registriert.

Es ist bezeichnend, dass Jaurès von einem falsch verstandenen und falsch übersetzten Satze des „Vorwärts" ausgeht. Nach ihm soll der „Vorwärts" gesagt haben, dass der deutsche Sozialismus, um theoretische Werke zu produzieren, der praktischen Untätigkeit und Unverantwortlichkeit bedürfe. Das hat der „Vorwärts" nicht gesagt, und man braucht es ihm nicht einmal zum Verdienste anzurechnen, dass er es nicht gesagt hat. Jedes deutsche Parteiblatt, das so etwas sagen würde, könnte sich unter dem Hohngelächter der deutschen Arbeiterklasse begraben lassen. Seitdem es eine deutsche Sozialdemokratie gibt, hat ihre unüberwindliche Stärke in der innigen Durchdringung von Theorie und Praxis bestanden; ihre Theorie ist nie etwas andres als die richtig verstandene Praxis, und ihre Praxis nie etwas andres als die richtig angewandte Theorie gewesen.

Auf seine falsche Interpretation des „Vorwärts" hin hält sich Jaurès nun für berufen, die deutsche Sozialdemokratie zu trösten. Sie werde eher zum Handeln kommen, als sie sich's versehe. Die russenfreundliche Haltung des deutschen Kaisers werde die Geister aufrütteln. Wird Deutschland in den wachsenden Verwicklungen der Weltpolitik sein ganzes Schicksal der alleinigen Weisheit, dem eigentlichen Antriebe eines Herrn unterwerfen? Oder wird es sich um einen entscheidenden Einfluss auf seine ganze äußere und innere Politik bemühen? Damit käme die Demokratie ans Ruder.

Aber wo wird in dem notwendigen Kampfe gegen den Absolutismus der Stützpunkt der Nation sein, wenn nicht in dieser sozialistischen Partei, die mit der Macht der Zahl die Macht der Idee verbindet?" Diese Entwicklung sei umso wahrscheinlicher, als der demokratische und sozialistische Geist in Frankreich den Revanchegedanken gründlich ausrotte. „Gegenüber der französischen Demokratie, die entschieden friedlich ist, welcher Vorwand wird dem deutschen Kaiserreiche bleiben, der deutschen Nation, die ohnehin mit Ausgaben für die Flotte belastet ist, noch die schwere Landrüstung aufzuerlegen?" Diese friedliche Annäherung an Frankreich könne die deutsche Nation nur vollziehen, indem sie sich auf die große sozialistische Partei stütze.

Man kann in der Kinderstube nicht naivere Politik treiben. Weil „die deutsche Nation", das heißt in diesem Zusammenhange die deutsche Bourgeoisie, sich gegen den modernen Imperialismus, der im letzten Grunde doch nur ihre, noch so kurzsichtige und verblendete, aber immerhin ihre Politik treibt, empören will, stützt sie sich auf ihre eigenen Totengräber, das deutsche Proletariat. Sie, die gerade aus Angst vor dem Proletariat in die Bajonette des Absolutismus abgedankt hat, soll diese Bajonette mit Hilfe der Arbeiterklasse zerbrechen. In der Tat, eine großartige Perspektive ! Und dann diese Begriffe vom Militarismus, über dessen inneres, mit der Entwickelung der kapitalistischen Produktionsweise unlöslich zusammenhängendes Wesen sich die deutsche Arbeiterklasse, dank ihrer großen Denker, seit einem Menschenalter klar geworden ist. Weil einer der zahllosen Vorwände, mit denen Moloch seine kulturwidrige Existenz zu verteidigen sucht, nämlich das französische Revanchegelüste, heute fadenscheiniger geworden ist, als es vor dreißig Jahren war, soll der deutsche Militarismus abdanken, noch dazu unter Berufung darauf, dass die Marinelasten schwer genug seien. Es ist wirklich eine Politik aus der Puppenstube.

Dann aber schwingt sich Jaurès auf die Höhe des Propheten, indem er schreibt:

Die Stunde des Handelns und der Verantwortlichkeit wird also vielleicht bald für den deutschen Sozialismus schlagen, und wenn es wahr ist; dass er der Untätigkeit und Unverantwortlichkeit bedarf, um theoretische Werke hervorzubringen, so muss er sich eilen. Aber gerade das Handeln und das Leben werden im deutschen Sozialismus den absterbenden theoretischen Sinn wieder beleben. Um seine ganze nützliche Wirkung hervorzubringen und in einem neuen System zu enden, hat dem kritischen Werke Bernsteins nur ein höherer Grad politischen Lebens und demokratischer Aktion in Deutschland gefehlt. Wenn Eduard David in seiner Studie über den Sozialismus und die Landwirtschaft ein Werk geschaffen hat, das bei allen Vorbehalten die einzige ernsthafte theoretische Anstrengung des deutschen Sozialismus seit dem Hinscheiden von Marx und Engels ist, so nur, weil er sich um die Aktion sorgt und sie voraus empfindet, weil er sich mit den Mitteln beschäftigt, eine ländliche Demokratie zu schaffen und sie mit dem industriellen Proletariat für den politischen und sozialen Befreiungskampf zu verbinden. Die Aktion allein erweckt den lebenden Gedanken, indem sie ihn von verjährten Formeln befreit. Weil der deutsche Sozialismus politisch noch kraftlos und ohnmächtig ist, konnte der deutsche sozialistische Gedanke unter der Geißel Mehrings platt geschlagen werden. Und ich bin überzeugt, dass in Frankreich die demokratische Aktion, in die der Sozialismus durch die Macht der Ereignisse und durch die Logik der republikanischen Einrichtungen geworfen worden ist, zu einer weiten theoretischen Erneuerung des Sozialismus führen wird.

Besäßen wir mit dem Genie Lassalles auch ein Recht auf Lassalles Grobheit, so würden wir zu diesem prophetischen Ausbruche nichts sagen als Bim bam, bam bim! So jedoch wollen wir den Genossen David gegen die Unterstellung in Schutz nehmen, als habe er um praktischer Bedürfnisse willen die Theorie revidiert. Er hat umgekehrt die Theorie revidiert, weil und soweit sie ihm, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, falsch erschien und daraus seine praktischen Schlussfolgerungen gezogen. Es ist nicht die Ansicht Davids, aber es kennzeichnet seinen Bewunderer Jaurès, dass die Theorie nicht die Praxis zu leiten, sondern sich nach den praktischen Bedürfnissen zu richten hat.

Was dann die „Geißel Mehrings" anbetrifft, so hat Jaurès damit die Briefe des Biedermanns Harden gefunden. Ob der französische Denker sich bei dem deutschen Denker eine kleine Anleihe erlaubt hat, oder beide aus den Tiefen ihrer „schöpferischen Arbeit" gleichzeitig den glorreichen Witz geboren haben, müssen wir unentschieden lassen. Im Übrigen genügt uns festzustellen, dass die Pritsche, die Jaurès über die deutsche Sozialdemokratie schwingt, weder ihre Gedanken- noch ihre Tatkraft platt schlagen wird.

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