Franz Mehring‎ > ‎1904‎ > ‎

Franz Mehring 19040214 Etwas über Terrorismus

Franz Mehring: Etwas über Terrorismus

14. Februar 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Erster Band, S. 681-685. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 652-657]

Für die gutgläubigen Leute, die sich einbilden und uns einreden möchten, dass die bürgerliche Welt endlich ein gewisses Verständnis für die Arbeiterbewegung zeige und es nunmehr unsere Sache sei, ihr entgegenzukommen, ist der vorgestrige Tag ein Tag herber Enttäuschung gewesen. Die parlamentarische Komödie, die am Montag im preußischen Abgeordnetenhaus aufgeführt wurde, erinnerte an die Blütezeit der Ära Bismarck-Puttkamer; frivoler als diesmal ist auch in jener verrufenen Zeit nicht mit der Wahrheit gespielt worden; feiger als diesmal haben sich auch damals die bürgerlichen Parteien nicht benommen, von der Rechten bis zur Linken. Höchstens insofern fällt ein milderndes Licht, nicht zwar auf die Schönstedt und Hammerstein, sondern auf die Bismarck und Puttkamer, als diese den Schauplatz ihrer Heldentaten nicht aus dem Reichstag, wo wirklich geschossen werden kann, in das Geldsackparlament verlegten, wo sie sicher vor jedem Schusse waren. Auch kämpften sie um ihre eigene Existenz, wenn sie die deutsche Arbeiterklasse beschimpften, während die jetzigen Helden der Staatsrettung sich nicht vor der Denunziation und Verdächtigung der eigenen Volksgenossen scheuen, bloß um ein gnädiges Kopfnicken aus Petersburg zu erhalten.

Herr Schönstedt, dieser treffliche Verwalter preußischer Justiz, hat jetzt mit dürren Worten zugestanden, was ja freilich längst kein Geheimnis mehr war, dass nämlich die Regierung deutsche Staatsbürger einem ausländischen Despoten angezeigt und sich erboten hat, ihre eigenen Landsleute abzustrafen, wenn es anders in den allerhöchsten Wünschen Väterchens liege, sie wegen eines angeblichen Attentats auf seine heiligen Interessen abgestraft zu sehen. Treitschke, der offizielle Historiker des neudeutschen Reiches, hat einmal eine solche Politik mit den Worten gekennzeichnet: „Die arischen Völker haben ihren Thersites, ihren Loki; einen Ham, der seines Vaters Scham entblößt, kennen nur die Sagen der Orientalen." Inzwischen wenn sich der asiatische Despotismus nur mit asiatischen Mitteln aufrechterhalten lässt, so kann man gegen das Verfahren der preußischen Behörden, die um die gnädige Genehmigung Väterchens zur Einkerkerung deutscher Staatsbürger nachgesucht haben, vom Standpunkt der Logik nichts einwenden, höchstens etwas vom Standpunkt der Ästhetik, insofern, als die preußische Regierung sich noch das salzlose Späßchen erlaubt hat, anzufragen, ob sie auf Gegenseitigkeit rechnen dürfe. Soviel wissen doch die Herren Schönstedt und Hammerstein von vornherein, dass davon gar keine Rede sein kann, dass deutsche Spitzel sich auf russischem Boden nicht so lümmeln dürfen wie russische Spitzel auf deutschem Boden. Väterchen hält wenigstens in seiner knutenhaften Weise auf sich, und es ist nur mit dem bekannten Augurenlächeln, wenn seine Botschafter und Generalkonsuln dem Vasallen Gegendienste versprechen, die sie ihm sowenig leisten werden wie jemals geleistet haben. Die ganze Politik des Grafen Bülow erschöpft sich in dem Chor des „Berliner Nationalliedes", das Platen vor sechzig Jahren gedichtet hat:

Diesen Kuss den Moskowiten, deren Nasen sind so schmuck;

Rom mit seinen Jesuiten nehme diesen Händedruck!

Wer diese Zeilen auswendig kann, der kennt auch die äußere und innere Politik des Reichskanzlers auswendig. Seitdem das ostelbische Junkertum innerlich unterminiert ist, hält es sich äußerlich dadurch aufrecht, dass es sich auf den Moskowiten und auf den Jesuiten stützt. Der deutsche Michel aber, der vor sechzig Jahren weder den Moskowiten noch den Jesuiten nennen hören konnte, ohne mit Händen und Füßen um sich zu schlagen, erträgt nun den einen wie den anderen mit rührender Geduld und bildet sich immer noch ein, an der Spitze der Zivilisation zu marschieren. Immerhin aber hatte ihn die moskowitische Fuchtel, wie sie sich gar so unbeschämt in dem Königsberger Geheimbundprozess1 hervorwagte, doch ein wenig geschmerzt; die überaus klägliche Rolle, die der Unterstaatssekretär v. Richthofen gegenüber der sozialdemokratischen Interpellation im Reichstag spielte, war den getreuesten Hurrapatrioten doch ein wenig wider den Strich gegangen, und so wurde jenes bezaubernde Schauspiel im preußischen Abgeordnetenhaus arrangiert, wo man sicher vor jeder unbequemen Kritik war und für etliche Tage renommieren konnte: So lag ich und führt' ich meine Klinge.

Freilich die borussisch-russische Sache ist so schlecht, dass, wenn in dem Dreiklassenparlament nur noch ein Mann säße, der so glücklich wäre, ein Rückgrat zu besitzen, das durchsichtige Spiel der Schönstedt und Hammerstein nicht einmal einen Augenblick hätte glücken dürfen. Denn die eigentliche Schmach des Handels haben sie gar nicht beschönigen können und auch gar nicht zu beschönigen versucht: die Denunziation deutscher Staatsbürger an einen auswärtigen Despoten und die Opferung des staatlichen Hoheitsrechtes an eine Bande russischer Spitzel. Womit sie sich entschuldigten, waren erstens einige blutrünstige Flugschriften gegen den Zarismus, die schon von weitem einen Spitzelgeruch ausströmten und bei deutschen Staatsbürgern gefunden worden sein sollten, waren zweitens angebliche Widerlegungen des Unfugs, den die Spitzel des Zaren in Deutschland trieben, und war drittens die dreiste Behauptung, dass die deutsche Sozialdemokratie oder gar der sozialdemokratische Parteivorstand die terroristische Propaganda gegen den zarischen Despotismus begünstige. Gegenüber diesen Ausreden wäre es doch selbst für einen bürgerlichen Oppositionsverstand ein leichtes gewesen, die beiden ersten in den Reichstag zu verweisen, wo die Ankläger sitzen, und die dritte als eine handgreifliche Unwahrheit aufzudecken. Aber nein: Die bürgerlichen Helden machten alle ihren Kotau vor diesen neuen Zerschmetterern der Sozialdemokratie, und die Ironie des Schicksals wollte es sogar, dass gleich nach Herrn v. Hammerstein der politische Redakteur der „Frankfurter Zeitung" die Tribüne betrat, um mit bewundernder Geste auf die eifrigen Verteidiger des Zarismus zu zeigen: Seht diese Lämmlein, weiß wie Schnee.

Inzwischen wird im Reichstag schon das Gericht über die edle Firma Schönstedt-Hammerstein ergangen sein. Wir begnügen uns deshalb mit einigen Anmerkungen über die terroristische Propaganda in Russland überhaupt und die Stellung der Sozialdemokratie zu ihr. Es ist dabei zweierlei zu unterscheiden. Eine Gewaltherrschaft, wie sie in Russland besteht – und nie hat eine Gewaltherrschaft in ruch- und schamloseren Formen bestanden –, ruft immer in ihren Opfern den Willen hervor, Gewalt mit Gewalt zu erwidern. Das mag für die Gewalthaber eine unangenehme Sache sein, aber wenn sie darüber jammern, so muss man ihnen antworten: Vous l'avez voulu, Georges Dandin! Mögen sie mit ihrem Druck aufhören, so wird auch der Gegendruck verschwinden! Solange die zarischen Schergen wie wütende Bestien in den russischen Volksmassen hausen, solange müssen sie auch die Konsequenz auf sich nehmen, einmal unter dem Dolche oder der Kugel eines Rächers zu fallen. In solchen Fällen wird die menschliche Sympathie jedes zivilisierten Menschen immer bei dem Rächer sein, der die beleidigte Menschheit sühnt, indem er sich selbst opfert, um ein entmenschtes Scheusal zu strafen. Dies ist die Anschauung der zivilisierten Menschheit gewesen, von den Tagen der Harmodios und Aristogeiton bis auf die Tage Wilhelm Tells, und von den Tagen Wilhelm Tells bis auf die Tage des Burschenschafters Sand. Es ist jene Anschauung, die Schiller seinem Stauffacher in den Mund legt:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,

Wenn unerträglich wird die Last – greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte,

Die droben hangen unveräußerlich

Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst –

Der alte Urständ der Natur kehrt wieder,

Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht.

Diese Verse Schillers kommentiert F. A. Lange – und es wird sich gleich zeigen, weshalb speziell dieser Kommentar Langes sehr zur Sache gehört – mit folgenden Worten: „Dies ist nicht die tragische Dialektik der Leidenschaften, sondern einfache, echt philosophische Wahrheit und auf soziale Verhältnisse ebenso anwendbar wie auf politische. Sobald der Buchstabe des Rechtes sich gegen den Geist desselben wendet und der durch eine missbrauchte Formel in Bewegung gesetzte Arm der Staatsgewalt mit gleicher Rücksichtslosigkeit und gleichem Trotze gegen alle Anforderungen des natürlichen Rechtes gehandhabt wird, wie die physischen Waffen in einer Zeit des Faustrechtes, so geht jeder Anspruch auf allgemeine Unterwerfung unter die Satzungen eines solchen Rechtes verloren, und die Unterdrückten mögen sich helfen, wie sie wollen und können, bis sie wieder ein wirkliches Recht herzustellen imstande sind." Diese Anschauung, wie wir sie hier in den Worten Schillers und Langes wiedergegeben haben, ist von jeher auch die Anschauung der zivilisierten Menschheit gewesen und damit auch der deutschen Sozialdemokratie, weil sie zur zivilisierten Menschheit gehört.

Solange die Bourgeoisie sich zur zivilisierten Menschheit rechnete, war sie eben derselben Ansicht; wenn sie jetzt mit der ganzen Wucht ihrer sittlichen Entrüstung über die kühnen und stolzen Charaktere herfällt, die sich selbst opfern, um die beleidigte Menschheit an irgendeinem bluttriefenden Scheusal zu rächen, so beweist sie nur, dass sie – man verzeihe die groben Worte, aber wir zitieren Fichte – freilich nicht mehr „gewalttätig", sondern nur „dumm und unwissend, feige, faul und niederträchtig" ist.

Allein sosehr die deutsche Sozialdemokratie sich zur zivilisierten Menschheit rechnen darf, so ist sie der bürgerlichen Zivilisation doch immer einen weiten Schritt voraus. Indem sie mit Lange darin übereinstimmt, dass eine Gewalt- und Willkürherrschaft, wie sie in Russland besteht, jeden Anspruch auf allgemeine Unterwerfung verwirkt hat, stimmt sie keineswegs mit Langes Satz überein: „Die Unterdrückten mögen sich helfen, wie sie wollen und können." Sie sagt vielmehr: Die Unterdrückten müssen sich so helfen, dass sie die Gewaltherrschaft abschütteln, die auf ihnen lastet, und sie weist nach, dass der Märtyrertod einzelner Revolutionäre bei aller sittlichen Hoheit, die ihm innewohnen mag, doch das aller verkehrteste Mittel ist, irgendeine Gewaltherrschaft zu stürzen. Deshalb ist die deutsche Sozialdemokratie stets die unerbittlichste Gegnerin jeder terroristischen Politik gewesen, nicht aus irgendwelchen philiströsen Gründen, nicht weil sie das Leben solcher hundertfach gesiebter Schurken zu heilig hält, wie die zarischen Schergen sind, sondern aus dem eigensten Interesse der Revolution, für deren unaufhaltsames Fortschreiten jede terroristische Politik ein Hemmnis und kein Hebel ist.

Je mehr sich die Grundsätze der deutschen Sozialdemokratie, die theoretischen Auffassungen unserer großen Vorkämpfer Marx und Engels, in Russland zu verbreiten begannen, desto mehr verschwand auch der Terror aus der revolutionären Bewegung der russischen Volksmassen. Er wäre heute schon ganz erloschen, wenn, ja wenn es keinen Revisionismus gäbe. Die terroristische Strömung, die sich seit einigen Jahren in Russland bemerkbar macht, das heißt also nicht der jeweilige Ausbruch des Volkszornes gegen besonders nichtswürdige Träger eines nichtswürdigen Systems, der, solange der zarische Despotismus dauert, niemals ganz auszurotten sein wird, sondern die politische Tendenz, durch terroristische Mittel die revolutionäre Politik zu fördern, ist eine konsequente Folgeerscheinung des russischen Revisionismus, der, wie anderswo auch, jede theoretische Begründung eines Parteiprogramms, ja jedes Streben nach theoretischer Klarheit als schädlichen Dogmatismus und Doktrinarismus verwirft. Im einzelnen hat diesen inneren Zusammenhang zwischen russischem Revisionismus und russischem Terrorismus Wera Sassulitsch im vorigen Jahrgang dieser Zeitschrift so eingehend wie überzeugend nachgewiesen; im allgemeinen ergibt er sich schon daraus, dass jede Zerstörung der theoretischen Klarheit über Gang und Ziel der revolutionären Politik gerade in Russland wieder zum Aufleben des Terrorismus führen muss. Wenn man den Ruf: Zurück auf Lange! erhebt, sagt man auch mit Lange: Die Unterdrückten mögen sich helfen, wie sie wollen und können, was praktisch auf eine ratlose Politik der Verzweiflung hinausläuft.

Soviel zur tatsächlichen Aufklärung, speziell auch für die radikaleren Bourgeoisblätter, die in einem Atem den deutschen Revisionismus verherrlichen und den russischen Terrorismus verfluchen. In ihrer Kenntnis der modernen Arbeiterbewegung sind sie in der Tat würdige Rivalen der Schönstedt und Hammerstein. Im übrigen – wenn der Revisionismus in Deutschland nie über die Grenzen einer ohnmächtigen Stimmung hinausgelangt ist, so wird der Terrorismus in Russland bald auf dieselben Grenzen beschränkt sein, freilich nicht durch den zarischen Despotismus und seine deutschen Helfershelfer, sondern durch die siegessicheren Prinzipien der internationalen Sozialdemokratie, die allem Despotismus den endgültigen Garaus machen werden.

1 Der Königsberger Prozess fand vom 12. bis 25. Juli 1904 statt. Deutsche Sozialdemokraten, die gemeinsam mit russischen Revolutionären Propagandamaterial der russischen Sozialdemokratie illegal ins Zarenreich geschmuggelt hatten, waren deshalb der „Geheimbündelei, des Hochverrats gegen Russland und der Zarenbeleidigung" angeklagt worden. Ähnlich wie der Kölner Kommunistenprozess schlug jedoch auch dieser Prozess auf seine Urheber, die mit dem Zarismus verbündete preußische Reaktion, zurück. Dank dem klassenbewussten Auftreten der Angeklagten und ihrer hervorragenden Verteidigung durch Karl Liebknecht wurde im Verlauf des Verfahrens auch den reaktionären Kräften in Deutschland ein schwerer Schlag versetzt. (Siehe Franz Mehring: Aufsätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Anmerkung 270.)

Kommentare