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Franz Mehring 19040305 Gewalt und Friedsamkeit

Franz Mehring: Gewalt und Friedsamkeit

5. März 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 53, 5. März 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 664-666]

In der neuesten Nummer der „Sozialistischen Monatshefte" veröffentlicht Genosse David einen Aufsatz über die Eroberung der politischen Macht, worin er über den Literatenrevolutionarismus der Genossen Kautsky, Parvus und Luxemburg spottet und dann erklärt, dass die Partei jede Verantwortung für die Produkte revolutionärer Literatenphantasie ablehne. Wir wissen nicht, ob Genosse David zur Veröffentlichung dieser Erklärung von den berufenen Parteiinstanzen autorisiert worden ist, halten es aber nicht für wahrscheinlich und wollen jedenfalls, soweit wir zur Partei gehören, ebenso offen erklären, dass wir keineswegs die revolutionären Literatenphantasien der Genossen Kautsky, Parvus und Luxemburg ablehnen, ihnen im Gegenteile einen sehr entschiedenen Vorzug geben vor den staatsmännischen Erwägungen des Genossen David, die einstweilen nur erst den lebhaften Beifall der bürgerlichen Presse entfesselt haben.

Aus Rücksicht auf den „guten Ton" gedenken wir mit dem Genossen David nicht in demselben Stile zu diskutieren, mit dem er die Genossen Kautsky, Parvus und Luxemburg haranguiert. Wir lassen uns daran genügen, den sachlichen Unterschied klarzustellen, der zwischen ihm und den „Revolutionsliteraten" besteht. Man macht sich diesen Unterschied am leichtesten klar, wenn man sich erinnert, was Lassalle schon vor vierzig Jahren dem Berliner Kammergerichte sagte und was seitdem die „berufensten Wortführer" der Partei oft genug mit anderen Worten wiederholt haben: „In diesem Sinne kann ich sagen, dass ich jedenfalls von dem künftigen Eintreten einer Revolution (worunter er, wie er ausdrücklich explizierte, immer nur die Durchführung eines neuen Prinzips verstand) überzeugt bin. Sie wird entweder eintreten in voller Gesetzlichkeit und mit allen Segnungen des Friedens, wenn man die Weisheit hat, sich zu ihrer Einführung zu entschließen beizeiten und von oben herab – oder aber sie wird innerhalb irgendeines Zeitraums hereinbrechen unter allen Konvulsionen der Gewalt, mit wild wehendem Lockenhaare, erzene Sandalen an ihren Sohlen." Was Lassalle in diesen Worten schon andeutet, hat er dann später noch durch die Nachweisung ergänzt, dass die Frage, ob sich die Revolution so oder so vollziehen werde, nicht von der Arbeiterklasse abhinge, sondern von den herrschenden Klassen. Die Emanzipation der Arbeiterklasse, ihre Befreiung aus den Fesseln der Lohnsklaverei, sei ein gebieterisches und unbedingtes Erfordernis der Zivilisation, dem unter allen Umständen genügt werden müsse, sei es nun mit dem Willen der herrschenden Klassen durch eine friedliche Reform, sei es gegen ihren Willen durch eine gewaltsame Umwälzung.

Der Unterschied zwischen dem Genossen David und den „Revolutionsliteraten" ist nur der, dass diese Unglücklichen nach den Erfahrungen der letzten vierzig Jahre den zweiten Teil der Lassalleschen Alternative für wahrscheinlicher halten und die damit gegebenen historischen Bedingungen erwägen, während Genosse David, überwältigt von der edlen Bereitwilligkeit, womit die herrschenden Klassen von der Ära Bismarck bis zur Ära Bülow für die Emanzipation der Arbeiterklasse gesorgt haben und sorgen, nur den ersten Teil der Lassalleschen Alternative ins Auge gefasst haben will, „in dem ehrlichen Bestreben, die Gewalt, die seit Jahrtausenden ein reaktionärer Faktor ist, in aller künftigen Entwickelung auszuschalten". Diese Absicht ist gewiss nur anzuerkennen, aber ob sie von Erfolg gekrönt sein wird, liegt nicht bei der Arbeiterklasse, sondern bei den herrschenden Klassen, die bisher leider noch nichts von den friedlichen Gesinnungen des Genossen David verraten haben.

Wir glauben auch nicht, dass sie ihm so wohlwollend entgegenkommen werden, wie er ihnen. Freilich spenden sie ihm lauten Beifall auf Kosten der „Revolutionsliteraten", aber heimlich lachen sie sich ins Fäustchen über seine Behauptung, dass die Gewalt seit Jahrtausenden ein reaktionärer Faktor sei. Sie ist es insoweit gewesen, als alle Klassenherrschaft in letzter Instanz auf Gewalt beruht, aber wenn sie ebendeshalb in letzter Instanz nur durch Gewalt gebrochen werden kann, so wirkt diese Gewalt sehr revolutionär. Die bürgerliche Klasse hat sich nie und nirgends anders emanzipiert als durch Gewalt, und zwar blutige Gewalt, seit den Tagen, wo Cromwells Eisenseiten den König von England erst aufs Haupt schlugen, um ihm dann das Haupt abzuschlagen, bis zu den Stürmern der Bastille und den Berliner Barrikadenkämpfern. Man begreift aber das doppelte Gaudium der Bourgeoisie, wenn Genosse David ihre revolutionären Jugendsünden aus der Geschichte streicht und dafür das Gelübde in ihre Hände legt, die Arbeiter würden, auch wenn ihnen ein Entscheidungskampf aufgedrängt würde, „der Ungesetzlichkeit die Gesetzlichkeit entgegenstellen und der Gewalt mit Friedsamkeit begegnen".

Betonte der Genosse David nicht so sehr seine Ehrlichkeit, an der wir auch durchaus nicht zweifeln, so hätten wir ihn fast im Verdachte, die Bourgeoisie aufs Glatteis locken zu wollen, indem er trügerische Hoffnungen in ihr erweckt. Es ist den deutschen Arbeitern noch nie eingefallen, der Ungesetzlichkeit die Gesetzlichkeit entgegenzustellen und der Gewalt mit Friedsamkeit zu begegnen. Diesen famosen passiven Widerstand hat niemand ärger verspottet als Marx und Lassalle. Mit dem Heilmittel des Genossen David hat sich die deutsche Bourgeoisie allerdings oft genug den zerprügelten Rücken gesalbt. Das deutsche Proletariat aber hat zu seinem Heile, sobald man ihm mit Gewalt und Ungesetzlichkeit kam, auf einen Schelmen anderthalbe zu setzen gewusst. Siehe die ganze Geschichte des Sozialistengesetzes!

Dabei wird es auch wohl in Zukunft bleiben, trotz des Genossen David. Die proletarische Revolution braucht die bürgerliche Revolution nicht durchaus zu kopieren; sie kann sich sehr wohl dadurch von ihrer Vorläuferin unterscheiden, dass sie sich vollzieht, ohne dass ein Tropfen Blut fließt, auch nur eine Fensterscheibe zerbrochen wird. Aber dazu gehört zweierlei: Erstens muss die Arbeiterklasse eine solche Macht hinter sich zu sammeln gewusst haben, dass es die herrschenden Klassen gar nicht erst auf eine Gewaltprobe ankommen lassen, und zweitens müssen die herrschenden Klassen wissen, dass die Arbeiter von dieser Macht den rücksichtslosesten Gebrauch machen werden, um jede Gewalt zu zertrümmern; mit der ihr Emanzipationskampf auf seiner weltgeschichtlichen Bahn aufgehalten werden soll. Die Erfüllung dieser Bedingungen ist die Quintessenz dessen, was die „Revolutionsliteraten" wollen, und sie befinden sich dabei in vollkommener Übereinstimmung mit den „berufensten Wortführern der Partei", speziell mit Lassalle, der über die „Revolutionäre im Heugabelsinne" nicht bitterer gespottet hat als über die gewiegten Staatsmänner, die über die Anwendung von Gewalt auch dann noch die Brauen runzeln, wenn die Klassenherrschaft nicht anders als durch Gewalt gebrochen werden kann.

Ein Glück, dass die herrschenden Klassen niemals an die „Friedsamkeit" geglaubt haben, die Genosse David den deutschen Arbeitern bescheinigt. Denn sonst hätten sie sich noch nicht einmal zu der Handvoll Reformen bequemt, die ihnen nur die Angst vor dem proletarischen Ansturm entrissen hat.

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