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Franz Mehring 19040915 „Ideale" Fragen

Franz Mehring: „Ideale" Fragen

15. September 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 215, 15. September 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 725-727]

Der deutsche Liberalismus gehört seit lange zu jenen historischen Gebilden, die keine Kraft mehr zum Leben, aber deshalb auch keine Neigung zum Sterben haben. Er versucht sich immer wieder aufzuraffen, und an und für sich stehen wir diesen Versuchen, die ja von den noch halbwegs lebenskräftigen Elementen des Liberalismus ausgehen, nicht ohne eine gewisse Sympathie gegenüber. Indessen pflegen solche Versuche von vornherein den Todeskeim in sich zu tragen, indem sie regelmäßig zeigen, dass der deutsche Liberalismus nichts lernt und nichts vergisst, wodurch sich am unzweideutigsten offenbart, dass er der historischen Entwicklung abgestorben ist.

Augenblicklich suchen sich die liberalen Trümmer, die nicht spurlos im allgemeinen Reaktionsbrei untergehen wollen, um eine „ideale Fahne", um die gründliche Reform des Volksschulwesens zu sammeln. Das Ziel ist gewiss lobenswert, aber man gleitet schon mitten in den alten Phrasensumpf hinein, wenn es als ein „ideales" Ziel gepriesen, wenn austrompetet wird; gerade in „idealen" Fragen lasse sich das deutsche Bürgertum am leichtesten sammeln. Das ist die reine Illusion. Es ist wirklich nicht abzusehen, wo die Bourgeoisie ihren „Idealismus" sitzen haben soll, denn mit „idealen" Fragen hat sie sich niemals abgegeben, und sie hat es auch nicht nötig. Eine ihrer ersten Kundgebungen in der Weltliteratur war die unsterbliche Verspottung des fahrenden Ritters Don Quichotte, der mit seiner rostigen Lanze für Ideale ficht und dabei gegen Windmühlen als angebliche Riesen kämpft.

Es liegt durchaus kein vernünftiger Grund für den Liberalismus vor zu verhehlen, dass es ihm, wenn er für eine Reform der Volksschule eintritt, um die bürgerlichen Klasseninteressen zu tun ist und keineswegs um „Ideale". Für ihn, wie für jede herrschende Klasse, ist die Volksschule ein Herrschaftsmittel, das er möglichst für seine Zwecke zu schmieden sucht; aus dem „idealen" Grunde, alle Menschen im Guten und Wahren zu unterrichten, hat der Liberalismus noch keine Schule gegründet und wird er auch keine Schule gründen. Mit solchen Tiraden täuscht man nicht die Gegner, sondern die eignen Anhänger, die es sehr an sich kommen lassen, wenn es sich um „ideale" Fragen handelt, während sie gegen eine drohende Gefährdung ihrer materiellen Interessen viel eher auf die Beine zu bringen sind. Mit dem Nachweise, dass, wenn es mit dem gänzlichen Verfalle der Volksschule so weitergeht wie in den letzten Jahrzehnten, die deutsche Industrie aufs schwerste geschädigt werden wird, lockt man den Hund leichter vom Ofen als mit den wunderschönsten Schlagworten über die „idealen" Ziele der Volksbildung und Volkserziehung.

Der Liberalismus könnte in dieser Frage um so eher ein ehrliches Spiel spielen, als er dabei gar nicht die Gefahr läuft, in dem berühmten „Kampfe gegen zwei Fronten" zu verbluten. Sowenig sich die Arbeiterklasse über die Gründe täuscht, aus denen der Liberalismus in „idealer" Begeisterung für die Schule schwärmt, sosehr erkennt sie an, dass die liberale Schulreform eine annehmbare Abschlagszahlung ist, dass sie den proletarischen Interessen, wenn auch keineswegs gerecht, so doch immerhin gerechter wird als die absolutistisch-reaktionäre Volksschule. Von dieser Seite hat der Liberalismus also gar nichts zu fürchten, wenn er ehrlich und offen eine Schulreform aus dem einleuchtenden Grunde fordert, dass die kapitalistische Produktionsweise gebildetere und intelligentere Arbeitskräfte gebraucht als die feudale. Vorausgesetzt, dass der Liberalismus keine Begeisterung für seine „idealen" Flausen beansprucht, könnte er also gerade auf dem Gebiete der Schulreform in der Sozialdemokratischen Partei eine Stütze seiner Bestrebungen finden, wie er sie aus eigner Kraft längst nicht mehr herzustellen vermag.

Freilich ernst müsste es ihm schon um die Sache sein, und ob es selbst denjenigen Elementen des Liberalismus, die sich wenigstens noch auf diesem Gebiete trutziglich gebärden, um die Schulreform gar so ernst ist, daran muss man fast zweifeln, wenn man sieht, wer die neueste, natürlich wie immer „großartige" Kundgebung für eine liberale Volksschule veranstaltet hat. Es sind dieselben Politiker, die dem Moloch des Militarismus nicht genug Futter in den Rachen schütten können, die Herren Barth und Schräder, Gerlach und Naumann. Das Schulprogramm, das sie aufgestellt haben, ist gar nicht so übel, vom bürgerlich-liberalen Standpunkte aus, und wenn seine Forderungen auch nicht an die der Sozialdemokratischen Partei heranreichen, so würde ihre Verwirklichung doch ein wesentlicher Fortschritt sein, den auch wir bereitwillig anerkennen könnten. Allein die Herren haben bei diesem trefflichen Programm nur das eine vergessen zu sagen, wer denn für die Kosten der liberalen Schulreform aufkommen soll, wenn nach ihrer Ansicht vor allen andern Dingen die Steuerkraft der Nation für den Militarismus und Marinismus bis zum äußersten angespannt werden muss.

Auch unter diesem Gesichtspunkte hat die geschwollene Redensart von den „idealen" Zielen nichts hinter sich. Soll unsre Volksschule aus den unsäglich elenden Zuständen, worin sie sich befindet, halbwegs auf die Höhe gebracht werden, die sich für eine zivilisierte Nation ziemt, so ist das eine äußerst kostspielige Sache, die am Ende ebensolchen Etat beansprucht wie Militär und Marine. Das ist natürlich kein Grund gegen die Schulreform; denn für einen produktiven Kulturzweck dieser Art, der sich hundertfach bezahlt macht, würden die breiten Massen des Volkes gern jedes Opfer bringen. Aber wenn sie schon durch den Marinismus und Militarismus bis auf den letzten Heller ausgepowert werden, so ist in der Tat nicht zu sagen, wie eine Schulreform praktisch durchgeführt werden soll, und dann wird das Schulprogramm der Herren Barth und Genossen allerdings ein höchst „ideales", d. h. gut deutsch gesprochen, ein ganz nichts sagendes Programm.

Will man also nicht annehmen, dass diese Herren mit ihrem Schulprogramm bloßen Ulk treiben, und dies anzunehmen sind wir weit entfernt, so gebieten sie nicht einmal über die logische Kraft des Einmaleins, wie man es sogar schon in der deutschen Volksschule lernen kann. Das Recht, über die Reform der Volksschule ein Wort zu verlieren, erwerben sie erst dann, wenn sie dem entnervenden und verdummenden Kultus des Molochs entsagt haben.

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