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Franz Mehring 19040427 Kohlenwucher

Franz Mehring: Kohlenwucher

27. April 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 129-133. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 666-692]

Vor drei Jahren hatte das Kohlensyndikat durch Einschränkung der Förderung eine künstliche Kohlennot geschaffen und unter deren Druck Preisnotierungen festgesetzt, wie sie auf dem Kohlenmarkt noch nicht dagewesen waren. Das Zentrum sah darin eine billige Gelegenheit, seine Reputation als angebliche Volkspartei aufzufrischen, und interpellierte am 27. November 1900 im Reichstag, was die verbündeten Regierungen zu tun gedächten, um der bestehenden, weite Volkskreise schwer bedrückenden Kohlenteuerung wirksam abzuhelfen und für die Zukunft die Wiederkehr solcher Missstände zu verhüten. Der Zentrumsabgeordnete Heim wetterte damals mächtig gegen das Kohlensyndikat, lenkte dann aber bedächtig ein, als ihm von sozialdemokratischer Seite „Brotwucher" zugerufen wurde; war doch jedes seiner Worte gegen das Kohlensyndikat zugleich eine Verurteilung der von ihm und seinen Freunden geforderten Kornzollerhöhung.

Auch sonst waren die Ciceros vom Zentrum am wenigsten berufen, gegen die Catilinas des Kohlenwuchers zu donnern. Neben dem Rheinisch-westfälischen Kohlensyndikat trieben auch die oberschlesischen Grubenbesitzer die Kohlenpreise in die Höhe, und in Oberschlesien gehören vier Siebentel der Gruben den Grafen und Fürsten des Zentrums. Zudem hatte das Zentrum die Organisation der Bergarbeiter geschwächt, indem es die katholischen Bergarbeiter von ihr loslöste und sie verhinderte, mit dem alten Verband gemeinsam vorzugehen. So war die Interpellation des Zentrums nichts weiter als ein Hieb in die Luft, und mehr sollte sie auch nicht sein. Das Kohlensyndikat fand seine Lobredner in dem alten Gründer v. Kardorff, dem Aufsichtsratsmitglied von Laurahütte, der aus dieser Sinekure ein jährliches Einkommen von 27 000 Mark bezieht, dem Dortmunder Bergwerksdirektor Hilbek und nicht zuletzt dem preußischen Handelsminister Brefeld, der den Schluss seiner amtlichen Wirksamkeit durch die kühne Behauptung vergoldete, das Syndikat reguliere die Preise in normaler Weise, und an der Teuerung sei nur der wucherische Gewinn der Zwischenhändler schuld. Übrigens zeichnete sich dieser Standpunkt vor den ultramontanen Tiraden durch eine gewisse Ehrlichkeit aus, denn an den Preistreibereien auf dem Kohlenmarkt war der preußische Staat als Bergwerksbesitzer ebenso mitschuldig wie die oberschlesischen Grubenlords, die im Zentrum saßen.

Wie immer, blieb es auch bei dieser Gelegenheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vorbehalten, die Interessen der Volksmassen tatkräftig zu vertreten. Ihr Redner wies nach, dass nicht, wie die Kohlenwucherpresse behauptete, die Streiks der Bergarbeiter, sondern die vom Syndikat befohlene Einschränkung der Förderung den Mangel an Kohlen und damit die Preissteigerung hervorgerufen haben. Er betonte, dass der Staat unter solchen Umständen mindestens die Pflicht gehabt hätte, die Ausfuhrprämien für Kohlen abzuschaffen, die nach einer Berechnung der Bielefelder Handelskammer den deutschen Kohlengrubenbesitzern jährlich 2½ Millionen Mark abwürfen. Eingehend schilderte er die trotz der hohen Kohlenpreise elende Lage der Bergarbeiter, ihre unzureichenden Löhne, den stets wachsenden Grad ihrer Ausbeutung und die dadurch verursachte Steigerung der Produktion, die Unsicherheit ihrer Existenz, indem sie nach dem Gutdünken des Syndikats bald zu Feierschichten, bald zur Überarbeit gezwungen würden, die überlange Arbeitszeit und den ungenügenden Schutz gegen Unfälle. Er meinte, das Kohlensyndikat scheine sich berufen zu fühlen, die Gemeingefährlichkeit der Syndikate vor aller Welt zu beweisen und damit zugleich den Widersinn der kapitalistischen Produktionsweise, deren vollendetster Ausdruck ja gerade die Syndikate seien.

Diese Prophezeiung hat sich in vollstem Maße erfüllt. Das Kohlensyndikat hat durch seinen neuesten Streich, die Stilllegung einer Reihe von Gruben im Ruhrrevier, den Widersinn der kapitalistischen Produktionsweise so auf die Spitze getrieben, dass er vor aller Welt bewiesen ist, und zwar gerade in dem Bestreben, ihn vor aller Welt zu verhüllen. Früher konnte ein Werk, das zum Syndikat gehörte, durch Erweiterung seiner Betriebsanlagen seine Beteiligungsziffer erhöhen. Diese allmähliche Erhöhung der Beteiligung passte aber den Drahtziehern des Syndikats nicht, weil eine beständige Erweiterung der Produktion die Preistreibereien des Kohlenwuchers in allzu grellem Lichte erscheinen ließ. Deshalb beschloss das Syndikat, von dessen 96 Werken allein 16 die Mehrheit haben, die Beteiligungsziffern, das heißt das Quantum, das im günstigsten Falle – falls nicht noch eine Einschränkung beschlossen wird – von dem Syndikat übernommen werden muss, für die Dauer des Vertrags bei jedem Werke festzulegen und unter keinen Umständen zu erhöhen. Man beschloss aber nicht, dass die gelieferte Kohle wirklich aus den bisherigen Gruben des beteiligten Werkes stammen solle, und so wurde für die großen Gesellschaften die Möglichkeit geschaffen, wenig ertragreiche Gruben anzukaufen und stillzulegen, um das diesen Gruben zustehende Quantum von Kohlen durch intensivere Produktion der eigenen Gruben an das Syndikat zu liefern, mit anderen Worten, es wurde ihnen die Möglichkeit geschaffen, die Bergwerksrente künstlich zu steigern und ihr Monopol zu verschärfen, indem die Besitzer der ertragreichsten Gruben nun auch die gleiche Rente aus minder ergiebigen Gruben beziehen konnten.

Es sei gestattet, das saubere Geschäft an dem Beispiel zu erläutern, das der Bergrat Pieper in der Gewerkversammlung der Zeche Konstantin der Große gab, indem er den Ankauf der Zechen Berneck und Glückwinkelburg empfahl, um sie stillzulegen. Diese beiden Zechen sind am Kohlensyndikat mit 260 000 Tonnen Kohlen beteiligt und ihre Kokereien mit 130 000 Tonnen Koks am Kokssyndikat. Die Zeche Konstantin der Große verdient nun an jeder geförderten Tonne Kohlen 2 Mark, an jeder Tonne Koks 2,50 Mark. Bei voller Beteiligung ergibt sich daraus ein Gewinn von 520 000 Mark an der Kohlen- und 325 000 Mark an der Koksförderung, also zusammen 845 000 Mark. Wird aber selbst, wie es jetzt geschehen ist, die Förderung durch Beschluss des Syndikats um 20 Prozent eingeschränkt, so bleiben immer noch 676 000 Mark neuer Profit. Demgegenüber steht nun der Ankaufspreis der Zechen Berneck und Glückwinkelburg mit rund 8 Millionen, die, mit 4½ Prozent verzinst, jährlich 360 000 Mark an Zinsen erfordern. Die Zeche Konstantin der Große macht also, indem sie jene beiden Zechen ankauft und stilllegt, einen jährlichen Profit von 316 000 Mark.

So glatt diese Rechnung für die großen Zechen ist, so bedeutet die Stilllegung der minder rentablen Zechen im Ruhrrevier – es handelt sich im ganzen um nicht weniger als 33 – für die Nation so viel wie der Einbruch eines verheerenden Feindes. Etwa 20 000 Arbeiter werden brotlos, dazu wird der große Teil der kleinbürgerlichen Bevölkerung, die von diesen Arbeitern lebt, in Grund und Boden ruiniert, der ganze südliche Ruhrbezirk verödet, und endlich wird das nationale Vermögen in schwerster Weise geschädigt. Denn die Kohlengruben, die stillgelegt worden sind oder stillgelegt werden sollen, sind durchaus nicht erschöpft, sie sind nicht einmal unrentabel, sondern nur weniger rentabel, verglichen mit anderen Gruben. Während vielfach schon die Gefahr des Kohlenmangels erörtert wird, der über kurz oder lang der Kulturwelt droht, wagt eine Handvoll Kapitalisten, um ihres Profits willen Millionen von Tonnen zu vergeuden. Denn wenn auch die Kohlenflöze im Boden bleiben, so ersaufen doch die Gruben und stürzen ein; gewaltige Mengen von Arbeit, die seit Jahren verrichtet worden ist, werden vernichtet, und neue Mengen von Arbeit müssen ganz überflüssigerweise aufgewandt werden, wenn der Kohlenmangel einmal dazu zwingt, die verlassenen Schätze zu heben. Wenn je, so ist in diesem Falle die ganze Kulturwidrigkeit der kapitalistischen Produktionsweise mit Händen zu greifen; überlebt, wie sie ist, bewirkt sie das gerade Gegenteil von dem, was sie selbst als ihren historischen Beruf verkündet; schuf sie einst neue Werte, sei es auch aus dem Blut und Schweiß der Arbeiterklasse, so kann sie sich heute nur noch aufrechterhalten, indem sie alle Werte zerstört und die Arbeiter hindert, neue Werte zu schaffen.

Da diese krassen Konsequenzen des Kapitalismus durchaus in seinem historischen Wesen liegen, so begreift es sich, dass sich die herrschenden Klassen nicht allzu sehr darüber aufregen, und am allerwenigsten die braven Regierungen, die ohnehin zu jeder Anklage gegen die kapitalistische Wirtschaft mit auf der Bank der Angeklagten erscheinen müssen. Bei der Interpellation, die im Abgeordnetenhause von ultramontaner Seite wegen der Vorgänge im Ruhrrevier eingebracht wurde, ging es denn auch recht sänftiglich her. Die parlamentarischen Vertreter der kapitalistischen Interessen erlaubten sich den offenkundigen Humbug, von „natürlichen Vorgängen" zu reden in dem Sinne, als wären die stillgelegten Zechen nicht mehr des Abbaus wert gewesen, und der preußische Handelsminister Möller sprach sogar von einer „Theaterpanik", womit er die Lorbeeren seines Vorgängers Brefeld noch überstrahlte. In der Art der preußischen Bürokratie machte er dann einige halbe und unverbindliche Versprechungen, an Hand des preußischen Berggesetzes zu sehen, was sich gegen die Stilllegung der Gruben tun ließe. Noch kürzer zog sich Graf Posadowsky aus der Affäre, die für eine vom großen Kapital ganz und gar abhängige Regierung ja peinlich genug sein mag: Aus Kompetenzbedenken verweigerte er überhaupt die Antwort auf die Interpellation, die im Reichstag von der sozialdemokratischen Fraktion gestellt wurde. Es war dem Genossen Hué leicht, in seiner auch sonst ausgezeichneten Rede nachzuweisen, dass diese Kompetenzbedenken eine leere Ausflucht seien, dass es sich gar nicht um bergtechnische, bergpolizeiliche oder bergrechtliche Fragen handle, die als solche vor die Einzellandtage gehören müssten, sondern um das Treiben des Syndikats, das der Reichsgesetzgebung unterstehe, wie bisher auch stets von der Regierung anerkannt worden sei.

Sonst unterschied sich die Debatte des Reichstags von der Debatte des Abgeordnetenhauses durch einen immer noch sanften, aber doch nicht ganz so sanften Ton. Das allgemeine Wahlrecht macht so weit seine Wirkungen geltend, dass sich keine offenen Verteidiger des Kohlensyndikats fanden. Graf Kanitz verurteilte das Bergarbeiterlegen so scharf, wie ihm die Erinnerung an das Bauernlegen seiner Vorfahren nur immer gestatten mochte, Herr Sattler von den Nationalliberalen appellierte an das edle Herz der Syndikatsschädlinge, Herr Bachem vom Zentrum befürwortete die Anstellung eines staatlichen Kommissars, der bei der Verwaltung der Syndikate die „sozialen Anforderungen", natürlich „voll und ganz", zu ihrem Rechte bringen solle, während Herr Gothein von der Freisinnigen Vereinigung umgekehrt den Staat „arger Mitschuld" an der volksausbeutenden Politik der Syndikate zieh. Einstimmig waren aber alle bürgerlichen Redner gegen die Verstaatlichung der Bergwerke, die Genosse Hué befürwortet hatte. Herr Gothein erinnerte an die Verstaatlichung der Eisenbahnen, die angeblich auch im allgemein wirtschaftlichen Interesse des Landes gefordert worden sei, während sie doch nur im einseitig fiskalischen Interesse gehandhabt werde. Herr Gothein gab dabei folgende Reminiszenz zum besten: „Bekanntlich war es Herr v. Miquel, der, als ihm als Finanzminister einmal diese Versprechungen von mir vorgehalten wurden, erklärte, ja, so dumm hätte man damals nicht sein sollen, etwas Derartiges zu glauben, er wenigstens hätte es nie geglaubt." Nun, wenn Herr Gothein nicht so klug war wie Herr Miquel, so ist es doch die Sozialdemokratie gewesen, und sie fordert auch heute die Verstaatlichung der Bergwerke nicht als letzten, sondern als ersten Schritt.

Einstweilen ist ja auch nicht einmal dieser erste Schritt von den bürgerlichen Parteien zu erwarten, und so bleibt nur die Möglichkeit übrig, die Verödung des Ruhrreviers zu hindern durch eine Agitation, die, wie Genosse Hué sagte, den Syndikatsschädlingen „die Herzen erbeben" lässt über die Folgen ihres Treibens. Und daran wird es wohl nicht fehlen.

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