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Franz Mehring 19041207 Kritisches zur Etatsdebatte

Franz Mehring: Kritisches zur Etatsdebatte

7. Dezember 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 329-332. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 753-756]

Die Generaldebatte des Reichsetats, gewissermaßen das Pracht- und Prunkstück des bürgerlichen Parlamentarismus, gestaltet sich je länger je mehr zu einem rednerischen Zweikampf zwischen dem Reichskanzler und dem Redner der Sozialdemokratie um. Bürgerliche Blätter ärgern sich daran, und von ihrem Standpunkt aus kann man ihnen das nicht einmal so sehr übel nehmen. Aber sie sollten deshalb niemanden anklagen als sich selbst und die Parteien, denen sie dienen. In der Entwicklung der Etatsdebatte spiegelt sich nur die Entwicklung der Dinge selbst wider: Es gibt innerhalb der deutschen Grenzen nur noch eine ernsthafte und wirksame Opposition, nämlich die Sozialdemokratie, und der oberste Beamte des Reiches ist nichts anderes als der Beauftragte der herrschenden Klassen, der ihre gemeinsamen Interessen gegenüber der proletarischen Revolution vertritt.

Es entspricht ebenfalls nur der tatsächlichen Entwicklung der Dinge, dass in dem rednerischen Zweikampf zwischen Bebel und Bülow, wie er sich eben wieder abgespielt hat, der Sieg sich immer unverkennbarer auf die Seite Bebels neigt. An den Gewaltstößen, die er führen kann, gestützt auf den unaufhaltsam wachsenden Groll und Zorn der Massen, zersplittert der leichte Galanteriedegen, den Graf Bülow allein zu führen vermag. Immerhin – so schlecht wie diesmal hat der Reichskanzler doch noch niemals abgeschnitten. Das bisschen Flitter, womit er sich sonst auszustaffieren wusste, als sei er von anderem Kaliber als die landläufigen Sozialistentöter der preußischen Regierung, ist gänzlich zerstoben; er weiß nun auch nichts Besseres zu tun, als die berufenen Zitate aus sozialdemokratischen Blättern und Schriften hervor zu stöbern, die, selbst wenn sie das bewiesen, was sie beweisen sollen – und in den allermeisten Fällen werden sie nicht einmal diesem bescheidenen Anspruch gerecht –, immer noch nichts beweisen würden. Dazu kommen dann die ollen Kamellen von der fürchterlichen Tyrannei, die im sozialdemokratischen „Zukunftsstaat" herrschen werde und heute schon in der Sozialdemokratischen Partei herrsche, und endlich der feierliche Appell an den deutschen Philister, der sich vor allem in der Welt fürchtet, dass nämlich die Sozialdemokratie einen Krieg zwischen Deutschland und Russland anzetteln wolle.

Das sind die Ingredienzien zu dem Kuchen, den der Reichskanzler bäckt und mit staatsmännischer Miene auf den Tisch des Hauses niedersetzt, indem er die proletarische Opposition auffordert: Iss davon und stirb daran. Diese ganze Taktik hat nun längst kein politisches und kaum noch ein psychologisches, sondern nur noch ein pathologisches Interesse. Wie muss es in den Köpfen der Leute aussehen, die mit solchen Mitteln und Mittelchen die moderne Arbeiterbewegung hemmen zu können glauben, eine Bewegung, die sie doch nun seit vierzig Jahren zu studieren reichliche Zeit gehabt haben? Müsste sie nicht eine halbe Stunde ernsthaften Nachdenkens, selbst wenn sie die Sozialdemokratie noch so bitter hassen mögen, und gerade dann erst recht, von der gänzlichen Wirkungslosigkeit solcher Waffen überzeugen? Können sie sich denn wirklich der doch so nahe liegenden Einsicht verschließen, dass wenn es eine Möglichkeit gibt, den Gang der modernen Arbeiterbewegung aufzuhalten, diese Möglichkeit keine andere sein kann als eine reformatorische Gesetzgebung, die wenigstens einigermaßen den Übeln abhilft, unter denen die Volksmassen ein immer wachsendes Elend dahinschleppen müssen.

In der Tat dürfte hier der springende Punkt sein, der die reuige Rückkehr des Grafen Bülow zu den abgetakelten Mätzchen der seligen Eulenburg und Puttkamer erklärt. Er ist am Ende „geistreich" genug, ihre gänzliche Hohlheit zu erkennen, aber es reicht bei ihm lange nicht zu der Fähigkeit, die Dinge auf einen besseren Fuß zu stellen und wenigstens zu versuchen, ob sich die Sozialdemokratie nicht doch den Wind aus den Segeln nehmen lasse. So hat er sich einige Jahre lang mit mehr oder minder guten, oder richtiger mit mehr oder minder schlechten Witzen aus der Affäre zu ziehen gesucht, bis auch dieses Salz salzlos geworden ist und nun eben nichts mehr übrig bleibt, als der große Zitatensack preußischer Staatskunst und was darum und daran hängt. Irgendeine Wirkung verspricht sich der Reichskanzler, wie wir zu seiner Ehre anerkennen wollen, davon gewiss nicht; er markiert nur noch mit leeren Worten seinen Widerstand, den er mit Gründen nicht mehr leisten kann, aber freilich mit allen Machtmitteln der kapitalistischen Gesellschaft um so hartnäckiger zu leisten gedenkt.

In alledem ist er nichts anderes als der Beauftragte dieser Gesellschaft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nicht mehr, denn wäre er auch nur im bürgerlichen Sinne des Wortes ein Staatsmann, so würde er nimmermehr unter den heutigen Zuständen des Reiches zum Reichskanzler avanciert sein; nicht weniger, denn offenbar genügt das ihm beschiedene Maß politischer Leistungsfähigkeit allen bürgerlichen Parteien. Prüft man nämlich, was von diesen Parteien in der gegenwärtigen Generaldebatte des Reichstags geleistet worden ist, so wird man nicht nur keine irgendwie ernsthafte Opposition gegen das System Bülow entdecken, sondern man wird nahezu versucht sein, den Träger dieses Systems noch als den Einäugigen unter den Blinden anzuerkennen. Was kennzeichnet namentlich auch die liberalen Reden der Sattler, Schräder und Müller-Sagan denn anders als politische Altersschwäche? Was haben sie gegen ein Regierungssystem, das sich mit Haut und Haaren den Agrariern verschrieben hat, mehr einzuwenden als diese oder jene kleine Beschwerde, die Verweigerung der Reichstagsdiäten und dergleichen Kram, der politisch kaum in dritter oder vierter Reihe mitzählt? Wenn sie damit der Regierung zu imponieren glauben, so vergessen sie, dass Graf Bülow sich vor allem deshalb den Agrariern verschrieben hat, weil diese die einzige bürgerliche Richtung darstellen, die entschlossen und fähig ist, ihm zu einem ernsthaften Tanze aufzuspielen, falls er nicht so tanzt, wie sie pfeift.

Am wenigsten aber haben die Vertreter der bürgerlichen Parteien gegen das protestiert, was Graf Bülow über die Sozialdemokratie zu sagen hatte; höchstens dass der eine oder der andere bürgerliche Redner die Langeweile dieser Trivialitäten durch komische Grimassen erträglich zu machen suchte. Keinem von ihnen ist es eingefallen, die Debatte über das proletarische Problem auf eine höhere Stufe zu heben. Sie sind darin augenscheinlich ganz mit dem Reichskanzler einverstanden, und dies entlastet ihn für seine Person immerhin. Wollte er wirklich versuchen, durch eine reformatorische Politik die Sozialdemokratie lahm zu legen, so würde er auf den für ihn unzerbrechlichen Widerstand der herrschenden Klassen stoßen. Er passt zur bürgerlichen Mehrheit des Reichstags, wie sie zu ihm passt.

Für eine bürgerliche Opposition könnte das intellektuelle Versagen der Gegner unter Umständen sehr gefährlich werden. Ja, in gewissem Sinne ist es dem deutschen Liberalismus in seiner Blütezeit gefährlich geworden. Als zur Zeit der sechziger Jahre im vorigen Jahrhundert die Fortschrittspartei das preußische Abgeordnetenhaus beherrschte, bis auf einige Junker aus dem hintersten Hinterpommern, die mit Rednern wie Twesten, Waldeck, Mommsen, Sybel usw. nicht rivalisieren konnten, da glaubte der Liberalismus, im schwelgenden Gefühl seiner parlamentarischen Triumphe, schon seines Sieges sicher zu sein, bis dann doch die Reaktion obenauf kam, mit ihrem trockenen Programm: Lasst sie schwätzen, soviel sie wollen, denn die wirkliche Macht haben wir. Indessen, wenn die herrschenden Klassen gegenwärtig mit diesem selben Programm durchzukommen versuchen, so übersehen sie die Kleinigkeit, dass, was dem Liberalismus passieren musste, deshalb noch nicht der Sozialdemokratie zu passieren braucht und ihr in der Tat weder passieren kann noch wird.

Eine bürgerliche Opposition, die auf dem Gebiet des bürgerlichen Parlamentarismus nichts ausrichten kann, als wieder und wieder reden, ohne den geringsten praktischen Erfolg, so wie die Fortschrittspartei in der preußischen Konfliktszeit, ermüdet auf die Dauer ihre Wähler und macht sie geneigt, sich einer anderen bürgerlichen Partei zuzuwenden, die ihnen scheinbar oder wirklich etwas zu bieten vermag. Umgekehrt wird eine proletarische Opposition, die ihre Vertreter in einem bürgerlichen Parlament so siegreich einherschreiten sieht, dass die Gegner sich, um dem Ansturm auszuweichen, noch, sagen wir, unintelligenter anstellen, als sie wirklich sind, dadurch in ihrem Kraft- und Siegesbewusstsein nur gestärkt und gewinnt immer neue Anhänger. Und je größere Massen unter ihrer Fahne zusammenströmen, um so näher rückt der Tag ihres Sieges heran, denn alle noch so raffinierten Mordwerkzeuge der kapitalistischen Gesellschaft werden zum Kinderspielzeug, sobald die Mehrheit des modernen Proletariats, ohne das diese Gesellschaft auch nicht einen Tag bestehen kann, sich ihres Schicksals und ihres Willens klar bewusst wird.

Unter „nationalem" Gesichtspunkt mag die „unendliche Öde" dieser Etatsdebatte, die sogar einzelnen bürgerlichen Blättern auf die Nerven fällt, gerade keinen erhebenden Eindruck machen. Denkt man an die großen historischen Konflikte, die gegenwärtig mehr als einen Weltteil bewegen, so mag sie sogar ungemein beschämend wirken. Jedoch solange die „nationale" Politik von den herrschenden Klassen gemacht wird, brauchen wir uns darüber kein Kopfzerbrechen zu machen. Genug, dass aus der Blamage dieser Klassen ein reeller Nutzen für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse entspringt, dessen Sieg überhaupt erst eine nationale Politik ermöglicht, die diesen Namen verdient.

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