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Franz Mehring 19040106 Marx im Hühnerhof

Franz Mehring: Marx im Hühnerhof

6. Januar 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Erster Band, S. 449-453. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 628-632]

In der bürgerlichen Presse wird einiges Aufheben gemacht von einem „sehr heftigen" Angriff, den der außerordentliche Professor Sombart in Breslau in der Hardenschen „Zukunft" gegen den ordentlichen Professor Delbrück in Berlin gerichtet hat. Nach Angabe dieser Presse soll darin ein Strauß zwischen dem idealistischen Rankeaner Delbrück und dem materialistischen Marxisten Sombart ausgefochten werden.

Daraufhin hielten wir es der Mühe für wert, uns den Artikel Sombarts anzusehen, waren aber sehr enttäuscht, auf eine kleine Schimpferei von fünf bis sechs Seiten zu stoßen, in der Delbrück allerdings angeklagt wird, in Marx einen „ganz Großen", einen „præceptor Germaniæ" beleidigt zu haben, jedoch wird die Anklage nur mit Argumenten begründet, wie sie in dem landläufigen Krakeel der kapitalistischen Blätter hergebracht sind: Delbrück schreibe „dummes Zeug" und „Galimathiasse", er sei ein „Naturburschennationalökonom", seine „Preußischen Jahrbücher", Schatten einer „ruhmvollen Vergangenheit", hielten sich nur dadurch am Leben, dass sie in den Leseklubs aus alter Gewohnheit abonniert und was dergleichen polemische Kinkerlitzchen mehr sind.

Für die Leser der „Preußischen Jahrbücher" hat der sonst geschmacklose Spaß allerdings einen gewissen Beigeschmack. Im Augustheft dieser Zeitschrift hatte nämlich Delbrück die drei dicken Bände besprochen, die Sombart im vergangenen Jahre veröffentlicht hat, und zwar ohne das Wohlwollen, das ein ordentlicher Professor am Ende einem außerordentlichen schuldet. Delbrück hatte namentlich, und zwar ohne Schimpfworte, eine Anzahl historischer Schnitzer aufgedeckt, die er in Sombarts Bänden gefunden zu haben glaubte, und sein Urteil über Sombart dann in den Worten zusammengefasst: „Er hat das Unglück gehabt, früh von Karl Marx eingefangen worden zu sein. Zwar muss man anerkennen, dass er sich jetzt vielfach von ihm emanzipiert hat: er macht noch immer von Zeit zu Zeit eine tiefe Verbeugung vor dem großen Namen, tatsächlich aber folgt er seinen Spuren nur noch streckenweise. Wer aber einmal in die Tretmühle dieses Pseudodenkers hineingeraten ist, der findet sich nicht so leicht wieder zurück. Das dürfte die Signatur von Sombarts geistiger Entwicklung gewesen sein." Wegen solcher und noch einer ähnlichen Lästerung über Marx klagt Cicero-Sombart gegen Catilina-Delbrück, ohne dem Hörerkreis, dessen sittliche Empörung er aufruft, auch nur mit einer Silbe zu verraten, dass Catilinas eigentliches Verbrechen darin besteht, an der Unsterblichkeit von Ciceros Werken gezweifelt zu haben.

Dies echte Professorenstücklein wäre nun an sich keiner Erwähnung wert, wenn nicht die bürgerliche Presse daraus einen Krieg zwischen idealistischen Rankeanern und materialistischen Marxisten machte. Vollkommen hinfällig, wie diese Ansicht schon auf den ersten Blick ist, enthält sie doch einen gewissen greifbaren Kern, insoweit als sie in Delbrück und Sombart zwei verschiedene Typen bürgerlicher Geschichtsschreibung erblickt. Diese Verschiedenheit beruht aber nicht in der Verschiedenheit von Ranke und Marx, sondern in der verschiedenen Stellung, die Delbrück und Sombart zu Marx einnehmen, worin sich zugleich die Stellung widerspiegelt, welche die bürgerliche Geschichtsforschung überhaupt zum historischen Materialismus behauptet, nachdem sie eingesehen hat, dass es weder mit dem Totschweigen noch mit dem so genannten Widerlegen getan ist. Da der große Stein des Anstoßes weder so noch so weggeräumt werden kann, so scheidet sich der Strom; sein einer Arm sucht von jener, sein anderer von dieser Seite herum zu fließen. Delbrück sagt, Sombart könne nicht begrifflich und logisch denken, weil er ein Marxist sei; genau denselben Vorwurf aber erhebt Sombart gegen Delbrück, weil dieser kein Marxist sei. Der Humor davon aber ist, dass jeder von beiden sich gründlich über seine eigene Stellung zu Marx täuscht. Soweit ein bürgerlicher Marxist überhaupt möglich sein kann, ist es Delbrück, nicht jedoch Sombart.

Möglich, dass sich Delbrück für einen idealistischen Rankeaner hält. Gewiss, dass er auf demjenigen historischen Spezialgebiet, auf dem er wirklich etwas leistet, weit entfernt von der holden Einbildung ist, dass die Ideen die Geschichte machen. In seiner Rezension Sombarts sagt er selbst: „Die Geschichte der Kriegskunst und der Kriegsverfassungen, der ich einen so wesentlichen Teil meiner Lebensarbeit gewidmet habe und fortdauernd widme, hängt mit der Wirtschaftsgeschichte aufs engste zusammen." In der Ableitung der Kriegsgeschichte aus der in letzter Instanz entscheidenden ökonomischen Entwicklung hat sich Delbrück seine Verdienste als Geschichtsschreiber erworben; gleich die Abhandlung über die friderizianische und die napoleonische Kriegführung, womit er sich vor einigen zwanzig Jahren an der Berliner Universität habilitierte, könnte im Wesentlichen von jedem historischen Materialisten unterschrieben werden. Delbrück hat seitdem eine längere Reihe von kriegsgeschichtlichen Arbeiten veröffentlicht und neuerdings eine groß angelegte Geschichte der Kriegskunst herauszugeben begonnen, die reich an historischer Aufklärung sind, einen achtungswerten Mut in der Zerstörung von Legenden, auch sehr ehrwürdigen und patriotischen Legenden entwickeln und teilweise geradezu glänzende Partien enthalten. Gleich im Anfang von Delbrücks Geschichte der Kriegskunst sind seine Darstellungen der Schlacht bei Marathon und des Kampfes in den Thermopylen kleine Kabinettsstücke einer aufbauenden Kritik. Alles das wäre von vornherein abgeschnitten gewesen, wenn Delbrück wirklich nur idealistischer Rankeaner wäre, was er sich vielleicht einbildet zu sein.

Freilich ein historischer Materialist im Sinne Marxens ist er auch nicht und kann er als bürgerlicher Historiker nicht sein. Die revolutionäre Dialektik des historischen Materialismus ist ihm ein Grauen, und wo er ihr zu nahe kommt, da rettet er sich durch die spitzfindigsten Ausflüchte und die wunderlichsten Seitensprünge. Nachdem man zehn Seiten der scharfsinnigsten Ausführungen bei ihm gelesen hat, strandet man auf der elften oft an einer trostlosen Sandbank. Das entspringt nicht irgendeiner Feigheit oder Unehrlichkeit oder sonst einem unlauteren Beweggrunde, sondern der bürgerlichen Beschränkung seines Denkens. So meint er es denn auch durchaus ehrlich, wenn er zur Beruhigung seines Gewissens alle sechs und manchmal sogar schon alle drei Monate in den „Preußischen Jahrbüchern" einen feierlichen Bannfluch gegen Marx erlässt, wie wir deren eben einen gehört haben: Marx sei ein „Pseudodenker", er habe in der historischen Wissenschaft nichts zu suchen, er verwirre in unheilvoller Weise die Köpfe und ähnliches mehr.

Genau umgekehrt treibt es Sombart. Er verhimmelt Marx als einen „ganz Großen", als „das wissenschaftliche Gewissen für jeden Jünger der Nationalökonomie", „nicht nur als den præceptor Germaniæ, sondern der ganzen zivilisierten Welt, in der heute Nationalökonomie ernsthaft betrieben" wird. Aber indem er ihn mit der ehrfurchtsvollen Scheu des dankbaren Schülers weiterzubilden behauptet, schlägt er ihn einfach tot. Nur ein Beispiel: Marx definiert das Kapital als eine Summe von Tauschwerten, die dadurch zu Kapital werde, dass sie als selbständige gesellschaftliche Macht, als die Macht eines Teiles der Gesellschaft sich erhalte und vermehre durch den Austausch gegen die unmittelbare lebendige Arbeitskraft, und die somit zur notwendigen Voraussetzung eine Klasse habe, die nichts besitze als diese Arbeitskraft.1 Dagegen weist Herr Sombart die „ganze lustige Geschichte" von der Ausbeutung und derartige „laienhafte Betrachtung" zurück, die „der wissenschaftliche Charakter unserer Erörterung von vornherein" verbiete. Nach ihm ist Kapital ein „Sachvermögen", das sich „durch eine Summe von Vertragsabschlüssen über geldwerte Leistungen und Gegenleistungen" verwertet, das heißt mit einem Aufschlag (Profit) dem Eigentümer reproduziert. Es ist sicherlich ein Verbrechen des Herrn Delbrück, sich über eine so tiefsinnige Definition lustig gemacht zu haben, aber dies Verbrechen ist nicht an Marx, sondern an Sombart begangen.

Nachdem Herr Sombart die Lohnarbeiter aus der kapitalistischen Produktionsweise beseitigt hat, muss er zusehen, wie er den Profit erklärt. Er definiert ihn nach Schulze-Delitzsch seligen Angedenkens als geistigen Arbeitslohn, den der kapitalistische Unternehmer beziehe wie der Schutzmann, der Erfinder, der Verwaltungsbeamte oder der Professor an der technischen Hochschule. Um jedoch „den klaren theoretischen Ausblick nicht durch die Nebelschleier ethischer Sentiments" trüben zu lassen, fügt Herr Sombart noch zwei Erläuterungen hinzu.

Wenn die geistigen Arbeitslöhne freilich Abzüge von dem Arbeitsertrag der technischen Arbeiter sind und also auch der Unternehmerprofit es ist, so zeichnet sich dieser doch dadurch von den Gehältern des Schutzmanns und des Kreissekretärs aus, dass er keineswegs die Erträgnisse der technischen Arbeit zu schmälern braucht. „Im Gegenteil kann – und in der empirischen Gestaltung der Dinge bildet dieser Fall wohl sogar die Regel – nach Abzug der auf den Profit entfallenden Quote des Arbeitsertrags dessen Rest ein größeres Güterquantum repräsentieren, als es ohne das Dazwischentreten des kapitalistischen Unternehmers der Fall sein würde… Ob ein Schuster ein oder zwei Paar Stiefel in einem Tage herzustellen vermag, hängt natürlich am letzten Ende ebenso von der Tätigkeit des organisierten Kapitalisten wie von derjenigen des Schusters ab, der in seiner Fabrik arbeitet. Und sicherlich ist die Begründung und Leitung einer Schuhfabrik eine ‚produktivere' Leistung als das Hantieren des handwerksmäßigen Schusters mit Hammer und Pfriemen." Was alles bei den ollen ehrlichen Manchesterleuten von vor fünfzig Jahren viel origineller zu lesen war.

Ferner aber ist es nach Herrn Sombart „eine ganz verkehrte Vorstellung", „ein verfehlter Ausgangspunkt", „eine grundfalsche Anschauung", die den „genialen Mann" – nämlich Marx – veranlasst haben, zu behaupten, dass der Profit des kapitalistischen Unternehmers immer nur aus Anteilen am Arbeitsertrag der in seinem Dienste oder im Dienste anderer beschäftigten Lohnarbeiter bestehen könne. Herr Sombart konstatiert vielmehr ausdrücklich, dass der Profit ebenso wie aus einbehaltenen Arbeitsertragen der Lohnarbeiterklasse aus Anteilen sich zusammensetzen könne, die dem Kapitalisten von den Arbeitserträgen selbständiger Produzenten (Bauern oder Handwerker) zufließen. „Warum in aller Welt soll ein Kapital von einer Million Mark, das in einem Friseurgeschäft investiert ist, sich nicht normal verwerten können, auch wenn die von ihm betriebene Tätigkeit lediglich inmitten von Bauern oder Handwerkern ausgeübt wird; jede Bezahlung eines Shampooings enthält alsdann die Gewährung eines Anteils an dem Arbeitsertrag des betroffenen selbständig produzierenden Bauern oder Handwerkers." Wenn der Profit dieses Friseurmillionengeschäftes sich nach Marx aus der unbezahlten Arbeit der Lohnarbeiter bilden würde, mit denen es betrieben werden muss, so bildet er sich nach Herrn Sombart aus dem Obolus, den der „betroffene" Bauer und Handwerker dafür entrichten muss, dass ihm Bart oder Haar gestutzt wird. Das würde selbst dem seligen Schulze-Delitzsch über die Hutschnur gehen, wenn er es hören könnte.

Da Herr Sombart jeden Zweifler an seiner Theorie des Kapitalprofits mit dem Donnerworte begrüßt: „Sapienti sat! Und für den Insipiens schreibe ich nicht", so werden wir uns hüten, ihm zu widersprechen. Es kommt in unserem Zusammenhang nur darauf an, mit welchem Rechte dieser Herr, der in einer Kardinalfrage der politischen Ökonomie den præceptor Germaniæ; bis hinter Schulze-Delitzsch rückwärts revidiert, sich öffentlich mit Pauken und Trompeten als Ehrenretter des Mannes aufspielen darf, dessen Lebensarbeit er in so unqualifizierter Weise zu verderben sucht.

Aber typisch ist Herr Sombart in seiner Art, wie Herr Delbrück in der seinigen. Die bürgerliche Historie sieht ein, dass Marx auf die Dauer nicht von ihrem Hühnerhof ferngehalten werden kann. Sie lässt ihn also ein und sucht ihn hühnermäßig für ihre Zwecke zu appretieren. Die einen backen sich ihre Kuchen aus den Eiern, die dieses Huhn legt, um dann zu erklären, dass ein Huhn nur einen hühnermäßigen Verstand haben könne. Die anderen aber weiden das Huhn bis auf das letzte Knöchelchen aus, füllen es mit der Farce der vulgärsten Vulgärökonomie und sinken vor dem also verrenkten Ungetümchen anbetend auf die Knie als vor dem præceptor Germaniæ.

Es ist eine Komödie der Irrungen, auf die Herr Sombart ganz recht getan hat, durch seine Attacke gegen Herrn Delbrück die öffentliche Aufmerksamkeit zu lenken. Wer auf der gesicherten Warte marxistischer Erkenntnis steht, wird sie mit lebhaftem Vergnügen genießen.

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