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Franz Mehring 19041126 Militärjustiz

Franz Mehring: Militärjustiz

26. November 1904

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 275, 26. November 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 742-744]

Die Urteile, die von der deutschen Militärjustiz gefällt werden, rufen in sehr kurzen Zwischenräumen das äußerste Entsetzen der bürgerlichen Bevölkerung hervor. Man kann gerade nicht sagen, dass in den besitzenden Klassen das Rechtsgefühl besonders fein und stark ausgebildet ist, am wenigsten wenn es sich um Angehörige der arbeitenden Klassen handelt, aus denen sich ja überwiegend das Heer rekrutiert. Allein auch bürgerliche Blätter empören sich, und offenbar ganz aufrichtig, über so manche Sprüche der Militärjustiz, die allem ins Gesicht schlagen, was man auch nur vom bürgerlichen Standpunkt als Recht und Gerechtigkeit zu betrachten gewohnt ist.

Indessen so anerkennenswert diese Empörung in gewissem Sinne ist, so wenig darf man sich darüber täuschen, dass sie nicht den geringsten Einfluss auf die Militärjustiz hat, am allerwenigsten im mildernden Sinne. Keinem der Opfer, die Jahr für Jahr diesem Moloch geschlachtet werden, wird dadurch auch nur ein Haar auf dem Kopfe gerettet. Dann aber muss auch mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, dass die Proteste der bürgerlichen Blätter bei aller Anerkennung, die man ihnen sonst spenden mag, doch auch der bürgerlichen Politik ein sehr schlechtes Zeugnis ausstellen. Wenn an einem Giftstrauche Giftbeeren wachsen, so ist es zwar ganz nett, über die verheerenden Wirkungen dieser Giftbeeren die Hände über dem Kopfe zusammenzuschlagen, allein man soll sich dann nicht selbst verhöhnen, indem man den Giftstrauch als einen Baum des Lebens feiert, unter dessen Segen spendendem Schatten die ganze Nation in behaglichem Frieden ruhe.

Dies aber tut die bürgerliche Presse, indem sie einerseits zwar die himmelschreienden Urteile der Militärjustiz scharf kritisiert, aber daneben über das angebliche „Volk in Waffen" das Blaue vom Himmel herunter schwatzt. Ein „Volk in Waffen" gibt es in Deutschland nicht und hat es noch nie gegeben. Das beliebte Schlagwort ist ein elender Volksbetrug, mit dem gar nicht gründlich genug aufgeräumt werden kann. Es beruht auf der demagogischen Unterstellung, als ob mit der allgemeinen Wehrpflicht auch eine demokratische Heeresverfassung eingeführt worden sei. Das ist eben nicht der Fall. Als die preußischen Junker vor hundert Jahren von den französischen Heeren windelweich geprügelt worden waren, mussten sie sich freilich bequemen, das Söldnerheer aufzugeben, aber sie dachten gar nicht daran, auch die Verfassung dieses Heeres zu opfern, aus dem sehr einfachen und einleuchtenden Grunde nicht, weil ihre Herrschaft auch nicht einen einzigen Tag mehr gedauert haben würde, wenn sie ein „Volk in Waffen" hergestellt hätten.

In solchen Dingen lassen sich herrschende Klassen niemals ein X für ein U machen, und hierin nicht zuletzt beruht ihr Übergewicht über die beherrschten Klassen, die gar zu leicht sich durch tönende Schlagworte betören lassen, was zum Teil leider ja noch für die moderne Arbeiterklasse gilt. Im 18. Jahrhundert, zur Zeit des alten Fritz, waren die Despoten in diesem Punkte ja ganz offen; sie machten gar kein Hehl daraus, dass die stehenden Heere dazu berufen seien, jeden denkbaren und möglichen Widerstand der Bevölkerung gegen die despotische Herrschaft niederzuschlagen. Ihr Abscheu vor dem „Volk in Waffen" ging so weit, dass der alte Fritz im Siebenjährigen Kriege der bürgerlichen Bevölkerung verbot, sich den scheußlichen Plünderungen der Russen mit Waffengewalt zu widersetzen; er verlangte, dass seine geliebten Untertanen lieber ihre Frauen und Töchter vom „Landesfeinde" notzüchtigen oder sich den roten Hahn aufs Dach setzen lassen sollten, ehe sie eine Heugabel ergriffen, um sich zu wehren. Waffen konnte der tapfere Held in der Hand des „gemeinen Mannes" nicht anders sehen, als wenn der „gemeine Mann" unter der grausamen Folter Militärjustiz stand.

Diese heroische Gesinnung, die allerdings ihren guten Grund in seinem blutsaugerischen Despotismus hatte, vererbte er auf seine Nachfahren, und die „große Reform", die nach der Niederlage von Jena auf militärischem Gebiete einsetzte, bestand in nichts anderem, als notgedrungen die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, aber zugleich die barbarische Militärjustiz des friderizianischen Söldnerheeres beizubehalten, mit andern Worten, ein „Volk in Waffen" herzustellen, das sich von einem wirklichen Volksheer unterschied wie eine hohle Theaterphrase von einer historischen Tatsache. Das ist ihnen auch vortrefflich gelungen, denn in solchen Künsten waren die preußischen Junker immer sehr groß.

Diese Militärjustiz besteht im Wesen der Sache nun auch heute noch, und wenn man erwägt, wodurch sie sich im Wandel der Jahrzehnte und selbst der Jahrhunderte erhalten hat, so wird man leicht begreifen, sowohl weshalb sie so entsetzliche Urteile fällt, als auch weshalb alle Proteste gegen diese Urteile rein in den Wind gesprochen sind. Vielmehr wird diese „Rechtsprechung" immer ärger, was sich sehr einfach daraus erklärt, dass der moderne Militarismus immer größere Massen gebraucht und dass diese Massen sich immer klarer über sein inneres Wesen werden. Wollen also die bürgerlichen Kritiker der Militärjustiz etwas ausrichten, so mögen sie die Axt an die Wurzel des Übels legen und dem Militarismus die Gelder sperren, bis er auf die barbarische Militärjustiz überhaupt verzichtet und das „Volk in Waffen" aus einer Phrase zu einer Tatsache macht. Das kostet freilich eine andere Anstrengung, als dazu notwendig ist, ein paar entrüstete Leitartikel zu schreiben, nicht zu vergessen, dass der biedere Liberalismus, wenn es zum Klappen käme, sich auch noch sehr überlegen würde, ob ein wirkliches „Volk in Waffen" nicht ein gräulicheres Ding wäre als eine noch so gräuliche Militärjustiz.

Einen rücksichtslosen Krieg gegen diese Justiz kann nur die Arbeiterklasse führen, und sie wird ihn umso wirksamer führen, je weniger sie sich über den historischen Zusammenhang der Dinge täuscht. Je tiefer das Klassenbewusstsein die Arbeitermassen durchdringt, um so mehr wird der Moloch jener Justiz um seine Opfer geprellt werden, und um so eher wird die allgemeine Wehrpflicht das Schreckbild für alle Ausbeutung und Unterdrückung werden; das schon dem berufensten preußischen Despoten eine so gewaltige Angst einflößte.

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