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Franz Mehring 19040206 Querulanten

Franz Mehring: Querulanten

6. Februar 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 30, 6. Februar 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 642-644]

Als ein Parteiblatt nach dem 16. Juni ausrief: Wir haben die Welt erobert, erlaubten wir uns die Anmerkung, vorausgesetzt, dass mit dem Stimmzettel die Welt zu erobern wäre. Die Berechtigung dieses bescheidenen Einwands ist inzwischen durch die Erfahrung bestätigt worden. Wie übrigens auch schon Genosse Bebel auf dem Dresdner Parteitage vorhersagte, macht es für die praktische Politik zunächst keinen Unterschied, ob 81 oder 58 Abgeordnete im Reichstage sitzen. Die Reichstagsmühle wird in den nächsten fünf Jahren klappern, wie sie in den letzten fünf Jahren geklappert hat: mit viel Geräusch, aber mit wenig Mehl.

Umso dringender erscheint die Notwendigkeit, die Parteiorganisation im Lande auszubauen und das deutsche Proletariat immer breiter und tiefer mit revolutionärem Klassenbewusstsein zu durchdringen. Jedoch wie es damit steht, hat die Diskussion gezeigt, die in der vergangenen Woche zwischen den Genossen Kautsky und Schippel geführt worden ist. Schippel hat wieder einmal sein agrarisches Herz entdeckt und in einer Agitationsrede die agrarischen Argumente wiederholt, die er schon seit Jahren in seinen Schriften niedergelegt hatte. Es ist ihm offenbar bittrer Ernst um die Sache, und wir machen ihm an und für sich daraus keinen Vorwurf. Er ist über Rodbertus zur Partei gekommen, und die alte Farbe schlägt wieder durch. Soweit wir die geistige Entwicklung des Genossen Schippel verfolgt haben, ist er in erklärlicher und moralisch unanfechtbarer Weise zu seinen agrarischen Gesinnungen gekommen, und wenn wir ihm einen Vorwurf machen, so ist es nicht der, zu viel, sondern umgekehrt noch nicht genug Rodbertusianer zu sein. Rodbertus war sich darüber vollkommen klar, dass sich seine agrarischen Gesinnungen nicht mit dem sozialdemokratischen Programm vertrugen, und zu dieser Klarheit ist sein Schüler Schippel noch nicht gelangt.

Auf die Versuche Kautskys, diese letzte Hülle von den Augen Schippels zu nehmen, antwortete dieser erst ausweichend, dann aber, als ihm Kautsky einen Ausweg nach dem andern verlegte, fertigte er den Gegner mit dem stolzen Worte ab, Kautsky sei längst als Querulant bekannt, um dessen Meinung sich niemand zu kümmern brauche. So meint Kautsky in einem Schlusswort, die Sache komme nun an die Triarier, nämlich an die Fraktionskollegen Schippels, und es gibt auch sonst Leute, die da meinen, nun werde ein entscheidendes Wort über die Frage fallen, ob ein sozialdemokratischer Abgeordneter agrarische Politik treiben dürfe. Wir an unserem Teil glauben daran aber nicht. Wir sehen in Kautskys Schlusswort nicht das Ende vom Anfang, sondern das Ende selbst. Schippel wird ungestört weiter thronen auf seinem parlamentarischen Sessel, und Kautsky wird in der Tat als lästiger Querulant vor der Tür stehen bleiben.

Möglich auch, dass Kautsky selbst sich nicht über dieses Resultat seines Feldzuges täuscht. Wir möchten es fast aus seinem Satze schließen: „Es wäre ein schlimmes Zeichen für die innere Gesundheit unsrer Partei, sollte sie um des lieben Friedens, das heißt der Bequemlichkeit willen, zur Mode werden lassen, dass man einzelnen unsrer Abgeordneten Doppelzüngigkeit und Verrat vorwerfen darf, ohne dass ein Hahn danach kräht." Das heißt mit anderen Worten: Der Fall Schippel kann nicht geschlichtet werden, ohne dass andre Fälle wieder auftauchen, die nicht geschlichtet, sondern nur vertuscht worden sind. „Das zehrt am Marke der Partei", meinte Genosse Parvus, als diese andern Fälle diskutiert wurden, aber Parvus ist auch nur ein Querulant wie Kautsky.

Zu diesen Querulanten gehörte auch Labriola, dessen Tod wir eben betrauern. Er schrieb im Jahre 1899: „Wenn ich die Geschichte und die gegenwärtige Lage der deutschen Sozialdemokratie aus der Nähe betrachte, so erfüllt mich nicht in erster Reihe die beständige Vermehrung der Wählerstimmen mit Bewunderung und starker Hoffnung. Statt auf diese Stimmen zu bauen, als wenn sie nach den manchmal trügerischen Berechnungen des statistischen Beweises die Zukunft verbürgten, fühle ich mich voll Bewunderung für den wahrhaft neuen und imposanten Fall sozialer Pädagogie, der darin besteht, dass sich in einer so beträchtlichen Masse von Menschen, und hauptsächlich von Arbeitern und Kleinbürgern, ein neues Bewusstsein bildet: ein Bewusstsein, zu dem in gleichem Maße die unmittelbare Empfindung der ökonomischen Lage, die zum Kampf treibt, und die Propaganda des Sozialismus zusammenwirken, der als ein Ziel verstanden wird." Wir brauchen nur diese Ansicht Labriolas umzukehren, um die gegenwärtige Lage der Partei zu erkennen.

Statt des revolutionären Bewusstseins, das eine gewaltige Masse zu einer ehernen Einheit zusammenschweißt, an der aller Widerstand der Gegner zerschellt, vertraut man auf die „manchmal trügerische" Zahl der Stimmen und der Mandate. Der geweihte Abgeordnete darf eine Politik treiben, bei der den Brotwucherern das Herz im Leibe lacht, während der Mann aus dem niederen Volke, der an jenes revolutionäre Bewusstsein appelliert, das unsern italienischen Freunden zu so stolzer Genugtuung gereichte, als lästiger Querulant vor der verschlossenen Tür stehen muss. Wir haben das schon einmal in Deutschland erlebt, vor vierzig Jahren, als der Liberalismus über eine gewaltige Masse von Arbeitern und Kleinbürgern verfügte und jeden Riss, der sich in dem anscheinend schwindelnden Riesenbau zeigte, mit den großmächtigen Ziffern seiner parlamentarischen Mandate übertünchte. Damals sprach Karl Marx von „parlamentarischem Kretinismus"1, aber Marx war auch ein arger Querulant; es scheint, dass sie nicht ausstirbt, diese boshafte Rasse, die nicht begreifen will, dass die holde Harmonie der Konfusion das Zeichen ist, worin die Arbeiterklasse siegen wird.

Jedoch besteht ein großer und tröstlicher Unterschied zwischen dem Liberalismus und dem Sozialismus; an der „hohen Politik", woran jener untergegangen ist, kann und wird dieser nicht untergehen. Der Sozialismus strömt aus zu tiefen und unerschöpflichen Quellen, als dass wucherndes Gestrüpp und Unkraut sie je versperren könnten. Darum sorgen wir wahrlich auch nicht einmal einen Augenblick; was wir beklagen, ist nur, dass der in seinem Laufe gehemmte Strom die umliegenden Fluren verwüstet, dass die Krisis, die den Querulanten ihr Recht gibt, sich unter desto peinlicheren Formen entladen wird, je länger sie verschleppt worden ist.

1 Mehrings Angabe „vor vierzig Jahren" ist ungenau. Zuerst findet sich der Ausdruck bei Friedrich Engels: Revolution und Konterrevolution in Deutschland. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 8, S. 87. Engels weist aber darauf hin, dass der Ausdruck von Marx stammt (siehe „Marx und die .Neue Rheinische Zeitung' 1848". In: Ebenda, Bd. 21, S. 21). Bei Marx 1879 „parlamentarischer Idiotismus". In: Marx und Engels: Ausgewählte Briefe, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 392.

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