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Franz Mehring 19041130 Reichstag und Sozialdemokratie

Franz Mehring: Reichstag und Sozialdemokratie

30. November 1904

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 297-300. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 745-749]

Der Reichstag ist wieder zusammengetreten, und mit seinen Beratungen beginnt das, was in der bürgerlichen Presse die „politische Hochsaison" genannt wird. Für die Sozialdemokratische Partei hat dies Wort keinen rechten Sinn, denn für sie ist die politische Bewegung immer in gleich regem Flusse: ihrer Agitation gibt die Tagung des Reichstags keinen neuen Anstoß, sondern nur einen stärkeren Widerhall.

Trotz der „politischen Hochsaison" erneuern sich mit deren angeblichem Beginn in der bürgerlichen Welt die Klagen über das sinkende Ansehen des Reichstags. Sie sind auch durchaus berechtigt, soweit es auf die bürgerliche Welt ankommt. Welches Interesse kann auf die Dauer ein Parlament einflößen, von dessen Mehrheit jedermann im Voraus weiß, dass sie nur Ja und Amen zu den Beschlüssen der Regierung sagt? Entweder regiert ein Parlament selbst, und dann wird es ihm niemals an der gebührenden Aufmerksamkeit fehlen, oder wenn es das politische Heft noch nicht in Händen hat, so trachtet es danach, die politische Herrschaft zu erlangen, und dann wird es ihm ebenfalls nicht an der geziemenden Achtung fehlen, am wenigsten, wenn die Nation unter einer Regierung leidet, wie wir sie gegenwärtig in Deutschland haben. Jedoch die Resignation, die sich damit bescheidet, eine politische Null zu sein, hat noch keinem Parlament auf die Beine geholfen.

Daran würde auch durchaus nichts die Gewährung von Diäten ändern, worin die bürgerlichen Parteien das Heilmittel aller parlamentarischen Schäden sehen. Dies Hindernis der parlamentarischen Betätigung ist für jede Partei von frischer Lebenskraft sehr leicht zu bewältigen, wie das Beispiel der Sozialdemokratischen Partei zeigt. Indessen wenn man auch davon absieht, so ist das ewige Jammern um Diäten selbst nur ein neuer Beweis für die hoffnungslose Ohnmacht des bürgerlichen Parlamentarismus in Deutschland. Nicht einmal diese geringfügige und nebensächliche Forderung hat er in vierzig Jahren durchzusetzen gewusst, in einer Zeit, wo er fort und fort auf barsches Heischen der Regierung die schwersten Lasten auf den Nacken der Nation gewälzt hat. Hätte er ein wenig Rückgrat, so hätte er der Regierung längst die Diäten abgetrotzt; wenn er sie jetzt etwa bekommen sollte, so nur aus dem erhebenden Grunde, weil die Regierung selbst sie für notwendig erachtet, um ihre parlamentarische Jasagemaschine in notdürftigem Gange zu erhalten.

Allerdings bietet dem Reichstag jede seiner Tagungen die günstige Gelegenheit, sich zu bessern, und so auch die gestern begonnene. Wachsende Militärlasten und wachsendes Defizit; die Hebel, mit denen sich von jeher Parlamente politische Macht errungen haben, liegen parat. Aber wer glaubt daran, dass die Mehrheit dieses Reichstags sie gebrauchen wird? Einfach niemand, und ebendeshalb erregen ihre Verhandlungen keine andere Empfindung als das Gefühl verzweifelter Gleichgültigkeit. Der Reichstag wird alles bewilligen, was die Regierung verlangt, höchstens dass diese oder jene bürgerliche Fraktion einen kleinen Stoßseufzer laut werden lässt. Selbst damit wird es aber kaum weit her sein, zumal da die Regierung so herablassend gewesen ist, eine so genannte Konzession mit der gesetzlichen Festlegung der zweijährigen Dienstzeit zu machen, wovon in der bürgerlichen Presse schon ein großes Gemäre ist. Tatsächlich handelt es sich dabei nur, wie der selige Stephan zu sagen pflegte, um einen „konstitutionellen Schaumkloß": Die Regierung kann gar nicht mehr daran denken, die dreijährige Dienstzeit wieder einzuführen, aber was ihr eine bittere Notwendigkeit abzwingt, tauscht sie in scheinbar großmütiger Gebelaune gegen eine neue Vermehrung ihrer Machtmittel aus.

In dieser Frage lässt sich so recht das innere Wesen des deutschen Parlamentarismus studieren. Um die zweijährige Dienstzeit bewegte sich der preußische Verfassungsstreit der sechziger Jahre. Die bürgerliche Opposition forderte sie als Ausgleich für neue Militärlasten, und sie war völlig in ihrem Rechte, wenn sie dadurch die militärische Leistungsfähigkeit des Heeres nicht vermindert sah. In der Tat sollte die dreijährige Dienstzeit nur dazu dienen, um das Heer für Staatsstreichszwecke tauglich zu erhalten. Um dieses erhabenen Zwecks willen ließ es das Ministerium Bismarck-Roon auf die budgetlose Regierung ankommen, in der dann auch bestätigten Annahme, dass aus den Löwenfellen der liberalen Volkstribunen schließlich doch nur Schneider Schnocks hervor kriechen würden. Was diese Helden nicht durchzusetzen vermocht hatten, das setzte der Militarismus selbst durch, indem er zu den kolossalen Dimensionen anwuchs, die der dreijährigen Dienstzeit wohl oder übel den Garaus machten. Aber wenn der Parlamentarismus nicht den Kern aus der Nuss zu lösen vermochte, so weiß die Regierung sogar mit der wertlos gewordenen Schale gute Geschäfte zu machen: sie verhandelt die endgültige Preisgabe der dreijährigen Dienstzeit noch gegen neue Militärlasten. Das ist ein Vorspiel dazu, wie sich auch die Militärfrage lösen wird. Die Regierung wird einmal Diäten gewähren müssen, um den ihr so nützlichen und sogar unentbehrlichen Scheinkonstitutionalismus aufrechtzuerhalten, aber sie wird dann auch die großmütige Geberin spielen und „Kompensationen" verlangen, die der Nation teuer zu stehen kommen sollen.

Was den Reichstag trotz alledem über dem Niveau der preußischen Landratskammer erhält, ist allein die Tatsache, dass die Arbeiterklasse stark in ihm vertreten ist. Gewiss kann die sozialdemokratische Fraktion als eine Minderheit den Reichstag nicht umschaffen, aber sie macht ihn zu der Stätte, wo noch die reine und ungeschminkte Wahrheit über unsere öffentlichen Zustände verkündet wird, und das ist eine Aufgabe, deren gewissenhafte Erfüllung dem Reichstag, auch so wie er ist, noch wirkliches Ansehen in den Volksmassen gibt. Insofern mag man sagen, dass die Tätigkeit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gewissermaßen „staatserhaltend" sei, dass sie der wachsenden Unzufriedenheit über ein rückständiges Regierungssystem, die sonst vielleicht eher den Kessel sprengen würde, ein Ventil eröffne. Wenn bürgerliche Gegner diese Argumente gegen die blinde Wut der Scharfmacher ins Feld führen, so haben sie von ihrem bürgerlichen Standpunkt aus vielleicht nicht so unrecht. Allein der bürgerliche Gedanke, auch in seiner relativ vernünftigsten Fassung, ist nicht unser Gedanke. Wir haben gar kein Interesse an bewusstlosen Explosionen, bei denen die Trümmer des Kessels unberechenbare Zerstörungen anrichten; die soziale Revolution geht auf anderen Wegen und zu anderen Zielen als die bürgerliche Revolution. Sie kann allein durch die Wucht denkender und entschlossener Massen siegen, und deshalb ist die aufklärende Propaganda, die von der Tribüne des Reichstags betrieben werden kann, von hohem Werte, auch wenn sie in den sorgenden Gemütern der Bourgeoisie manchmal trügerische Hoffnungen erwecken mag.

Eine wie reiche Ernte diesmal der sozialdemokratischen Kritik im Reichstag harrt, braucht an dieser Stelle nicht noch ausführlich dargelegt zu werden. Es sind nicht nur die wachsenden Militärlasten und das wachsende Defizit, nicht nur die neuen Handelsverträge: Es kommen hinzu der Kolonialkrieg in Südwestafrika, die Schande des Königsberger Prozesses, die immer schauerlicheren Urteile der Militärjustiz, die „Weltpolitik" des Grafen Bülow, das ewige offizielle Festefeiern mit jener pomphaften Beredsamkeit, die das Ausland in demselben Masse amüsiert, worin sie ihm imponieren soll, und was dieses Kalibers ist. Es ist ein endlos langes Register, und wenn es nur in den „endlosen" Reden erledigt werden sollte, die der bürgerlichen Presse so großen Kummer bereiten, so ist es nicht die Schuld derer, die mit ihrer Kritik den Auftrag ihrer Wähler erfüllen, sondern die Schuld der anderen, die so unermüdlich daran arbeiten, der Kritik immer neuen Stoff zu liefern.

In banger Erwartung dieser kommenden Dinge mokieren sich bürgerliche Blätter augenblicklich über eine Äußerung, die nach einem Bericht sozialdemokratischer Blätter vom Reichstagsabgeordneten Südekum in einer Nürnberger Versammlung getan worden sein soll. Diese Äußerung geht dahin, es sei hoch an der Zeit, im Reichstag einmal mit gewissen Personen, wie es Pernerstorfer im österreichischen Reichsrat getan, ganz ernsthaft ins Gericht zu gehen und die pathologischen Momente des Absolutismus zu erörtern. Wir wissen nicht, ob diese Äußerung wirklich so gefallen ist, und es liegt uns auch durchaus fern, die Taktik Pernerstorfers zu kritisieren, die sehr wohl den österreichischen Verhältnissen angepasst gewesen sein kann. Aber da bürgerliche Blätter mit jener angeblichen Äußerung eines sozialdemokratischen Abgeordneten, die immerhin durch den Bericht sozialdemokratischer Blätter beglaubigt ist, eifrig krebsen, so lohnt es sich wohl, nebenbei zu bemerken, dass ein parlamentarisches Vorgehen dieser Art sowohl der prinzipiellen wie der taktischen Auffassung der deutschen Sozialdemokratie widersprechen würde.

Prinzipiell hat die deutsche Partei stets den Standpunkt vertreten, dass die „pathologischen Momente des Absolutismus" die Konsequenzen der ökonomischen und politischen Zustände sind, worin der Absolutismus wurzelt. Sie sucht die Wurzel auszurotten, aber sie schnipfelt nicht an den Zweigen herum, die immer wieder wachsen werden, solange die Wurzel bleibt, und die durch die fleißig angewandte Schere nur eine desto geilere Triebkraft gewinnen. Sie donnert nicht gegen die Fürsten als die Ursachen alles Übels, sondern sie sucht die Zustände zu beseitigen, durch die es ermöglicht wird, dass überhaupt Fürsten existieren. Weshalb sie so verfährt, hat Karl Marx schon im Jahre 1847 gegen Karl Heinzen nachgewiesen, und es ist überflüssig, diese, wie wir glauben, längst in Fleisch und Blut der Partei übergegangenen Argumente nochmals zu wiederholen.

Nun mag man einwenden, dass Karl Marx gleichwohl ein Jahr später in der „Neuen Rheinischen Zeitung" überaus scharfe Worte gegen Friedrich Wilhelm IV. gebraucht habe. Das ist richtig, aber hierbei spielte nicht die prinzipielle Frage mit, wie sich die Sozialdemokratie zur Monarchie stelle, sondern nur die taktische Frage, wie man einen Monarchen, mit dem man kämpft, am schärfsten treffen könne. Unter diesem Gesichtspunkt mag Pernerstorfers Vorgehen bei den österreichischen Verhältnissen gerechtfertigt gewesen sein, worüber wir uns, wie gesagt, jedes Urteils enthalten; wir behaupten nur, dass unter den deutschen Verhältnissen jede Nachahmung dieses Vorgehens dem Angegriffenen ebenso nützen wie dem Angreifer schaden würde. Die Philister würden sich vielleicht im Geheimen freuen, wenn die Sozialdemokratie einmal offen ausspräche, was sie sich auf der Bierbank nur in die Ohren zu raunen wagen, aber das würde sie durchaus nicht hindern, in jene tobsüchtigen Paroxysmen des Patriotismus zu verfallen, die aus dem Sommer des Jahres 1878 doch in lebhafter Erinnerung sein sollten1.

Um nicht missverstanden zu werden, fügen wir noch hinzu, dass wir in der Lage, die uns den Gebrauch dieser Waffe als unrätlich erscheinen lässt, nicht ein zurückgebliebenes, sondern ein vorgeschrittenes Stadium des Klassenkampfes sehen, worin sich die deutsche Arbeiterklasse befindet.

1 Anspielung auf die Ausfälle gegen die Sozialdemokratie und die chauvinistische Demagogie während der Durchsetzung des Sozialistengesetzes im Reichstag.

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