Franz Mehring‎ > ‎1904‎ > ‎

Franz Mehring 19040706 Skandale und Skandalsucht

Franz Mehring: Skandale und Skandalsucht

6. Juli 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Zweiter Band, S. 449-452. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 708-711]

Die Affäre des Herrn v. Mirbach, der bei der Kaiserin das Amt des Oberhofmeisters bekleidet, hat sich zu einem Skandal ersten Ranges ausgewachsen. Ihre Einzelheiten sind aus der Tagespresse bekannt genug, so dass sie hier nicht wiederholt zu werden brauchen; zudem bringt fast jeder neue Tag eine neue „Mirbachiade", und es scheint, dass diese See von Korruption nicht so leicht auszuschöpfen ist.

Ebenso wenig soll hier die in der bürgerlichen Presse eifrig diskutierte Frage erörtert werden, ob Herr v. Mirbach sein Hofamt niederlegen wird oder nicht. Die einen behaupten es ebenso bestimmt, wie es die anderen bestreiten. Auf keinen Fall würde sein etwaiger Sturz ein Zugeständnis an die beleidigte Moral bedeuten. Herr v. Mirbach ist als Kirchenerbauer mit höchst bedenklichen und das Strafgesetzbuch streifenden Mitteln keine Person und vielleicht auch keine Klasse, aber jedenfalls eine Clique, die durchaus nicht daran denkt zu kapitulieren. Entschließt sich diese Clique, die Person des Mirbach zu opfern, was sie sicherlich nur im äußersten Notfall tun wird, so tut sie es nur, um als Clique weiter zu existieren. Das ist keine moralische, sondern höchstens eine sehr unmoralische „Sühne", und nur die liberale Kurzsichtigkeit, die niemals den Wald vor lauter Bäumen sieht, könnte triumphieren, wenn Herr v. Mirbach wirklich darauf verzichten sollte, fernerhin dem Hofe der Kaiserin vorzustehen.

Unser Interesse an diesem Hofskandal beschränkt sich auf seine symptomatische Seite. Er ist sicherlich ebenso groß, wie seinerzeit der Skandal des Halsbandprozesses war, den man in allen Geschichtsbüchern, die von ihm handeln, als einen Vorläufer der großen französischen Revolution verzeichnet findet, und er kann sich auch reichlich mit den Skandalen messen, die in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Sturz des Julikönigtums und den Anbruch des trotz alledem großen Jahres 1848 signalisierten. Auf der anderen Seite steht der Fall Mirbach in unserer Zeit nichts weniger als vereinzelt da; wenn seine Besprechung im Abgeordnetenhaus in der Hoffnung verhindert worden ist, dass er in einigen Monaten, bei dem Wiederzusammentritt dieser Körperschaft, über neuen Skandalen vergessen sein wird, so dürfte kein Kenner der Zeitgeschichte zu bestreiten wagen, dass diese Hoffnung durchaus berechtigt ist. Blickt man dreißig Jahre nur auf die deutsche Geschichte zurück, so findet man sie bis zum Bersten gefüllt mit Skandalen, die in ihrer Gesamtheit das Dutzend- und Hundertfache von dem bedeuten, was ehemals nach der überlieferten Geschichtsschreibung genügt hätte, nicht nur eine Regierung in die Luft zu sprengen, sondern sogar eine gesellschaftliche Umwälzung herbeizuführen. Nun kann aber niemand behaupten, dass diese Massenproduktion an Skandalen je auch nur einem Minister ein Haar gekrümmt, geschweige denn die kapitalistische Gesellschaft irgendwie erschüttert hat.

Die Schönfärber dieser Gesellschaft, die dazu verdammt sind, auch noch aus ihren widerwärtigsten Blüten Honig zu saugen, pflegen zu sagen, dass in der vorkapitalistischen Zeit tatsächlich noch weit mehr Skandale vorgekommen seien; der Unterschied bestände nur darin, dass heute, bei der unendlich erweiterten Öffentlichkeit, jeder Skandal sofort an die große Glocke gehängt würde und bei dem unendlich verfeinerten Rechtsgefühl der Massen einen viel tieferen Eindruck mache. Unzweifelhaft: Das feudalistische Zeitalter ist auch keine fromme Idylle gewesen, und der mittelalterliche Leibeigene hat sicherlich einen Puff mehr ausgehalten als der moderne Arbeiter. Allein diese Einwände bleiben, auch wenn sie nicht völlig aus der Luft gegriffen sein mögen, doch eine Schönfärberei, weil sie gerade den Punkt verfehlen, auf den es ankommt. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß; Skandale, die überhaupt nicht an die Öffentlichkeit gelangen, können keine öffentliche Wirkung ausüben. Wenn aber der Halsbandprozess, trotz des dazumal stumpferen Rechtsgefühls der Massen, gleichwohl eine starke revolutionäre Wirkung gehabt hat, so ist es ja nur um so unbegreiflicher, dass der Fall Mirbach und die ungeheure Masse von Skandalen, die sich seit einem Menschenalter in Deutschland abgespielt haben, auf das ungleich verfeinerte Rechtsgefühl der Nation durchaus nicht aufreizend im politischen Sinne gewirkt haben.

Die wirkliche Lösung des anscheinenden Rätsels liegt ganz woanders. Alle solche Skandale entspringen in letzter Instanz aus dem Privateigentum, von dem sie unzertrennlich sind und unzertrennlich bleiben werden. Solange diese Erkenntnis noch nicht durchgedrungen war, solange man hoffte, durch Reformen auf dem Boden des Privateigentums einen Zustand allgemeiner Glückseligkeit herzustellen, solange man die Skandale nicht als Produkte des Privateigentums an sich, sondern nur einer besonderen Form des Privateigentums betrachtete, solange übten sie auf die beherrschten Klassen einen aufrüttelnden und auf die herrschenden Klassen einen entnervenden Einfluss aus.

Jedoch, je mehr sich herausstellte, dass die gesellschaftlichen Skandale nichts anderes sind als Konflikte, die sich auf dem Boden des Privateigentums erzeugen und unerschöpflich neu erzeugen müssen, gleichviel welches seine Form sei, je mehr hörte ihre revolutionäre Wirkung auf. Die beherrschten Klassen begannen zu begreifen, dass man die Wirkungen nicht beseitigen könne, ehe man die Ursache zerstört habe, und die herrschenden Klassen begannen einzusehen, dass Skandale in den Kauf genommen werden müssen, wenn man nicht auf das Privateigentum verzichten wolle, woran sie natürlich nicht denken. Gewiss, könnten sie die Skandale abschaffen, ohne sich selbst abzuschaffen, so täten sie es mehr als gerne, gerade so wie sie die Soldatenmisshandlungen abschaffen würden, wenn sie es nur könnten, ohne das Heer aus einem Werkzeuge der Klassenherrschaft zu einem wirklichen und nicht bloß eingebildeten „Volk in Waffen" zu machen.

Aber da es nun einmal ohne Skandale nicht geht, so muss es mit Skandalen gehen, und selbst die Organe der bürgerlichen Presse, die sich dadurch interessant zu machen suchen, dass sie über die wachsenden Skandale der kapitalistischen Gesellschaft jammern, schlagen in ebenso bewegliche Klagen über die wachsende Skandalsucht der Sozialdemokratie um, sobald sie vor die entscheidende Frage gestellt werden.

Was es mit dieser angeblichen Skandalsucht auf sich hat, brauchen wir nach alledem nicht weitläufig darzulegen. Es ist die Pflicht wie das Recht der Arbeiterpresse, die Skandale der kapitalistischen Gesellschaft zu registrieren, als Wirkungen des Privateigentums und als Gradmesser seines immer mehr zunehmenden Verfalls. Wenn die Skandale der kapitalistischen Gesellschaft sich heute in ganz anderem Maße häufen als vor 1789 und vor 1848, so aus dem Grunde, weil damals nur eine bestimmte Form des Privateigentums zerfiel, heute aber das Privateigentum in der entwickeltsten und höchsten Gestalt zerfällt, die es überhaupt erreichen kann. Diese Zusammenhänge aufzuklären und eingehend aufzuzeigen, wie die besitzenden Klassen, die sich ein Herrschaftsrecht über die Volksmassen anmaßen, innerlich verfaulen, das ist eine unerlässliche Aufgabe der Arbeiterpresse, in deren Erfüllung sie sich keinen Augenblick durch prüde Zimperlichkeit oder durch die heuchlerischen Vorwände der Sünder, die von ihren Sünden nicht gesprochen haben wollen, beirren lassen darf.

Den Vorwurf der Skandalsucht würde sie erst in einem anderen, moralisch einwandfreien, aber politisch und sozial bedenklichen Sinne verdienen, wenn sie den revolutionierenden Einfluss der Skandale überschätzte und sich etwa einbildete, durch eine überwiegende Beschäftigung mit einer Kritik der kapitalistischen Skandale ihrem eigentlichen Beruf gerecht zu werden. Dabei würde sie in einen belletristischen Radikalismus geraten, der politisch wertlos wäre und sich für die Arbeitersache als sehr unfruchtbar erweisen würde. Sie darf nie vergessen, dass die kapitalistische Gesellschaft an ihren Skandalen nicht sterben wird, da sie sich längst mit diesen unvermeidlichen Begleiterscheinungen ihrer Herrlichkeit abgefunden hat, und dass selbst, wenn sie daran sterben könnte und würde, dem Proletariat durchaus nicht damit gedient wäre zu warten, bis es einmal eine durch und durch verfaulte Erbschaft antreten könnte.

Weit über der noch so geistreichen Kritik der kapitalistischen Skandale steht für die Arbeiterpresse die Notwendigkeit, die Massen mit sozialistischem Geiste zu durchdringen, ihnen das innere Wesen der kapitalistischen Gesellschaft klarzulegen und wieder jenen großen theoretischen Sinn zu erwecken, den ein Marx an den deutschen Arbeitern rühmte. Wissenschaftliche Erkenntnisse und straffe Organisationen sind die Waffen, die der Arbeiterklasse den Sieg verbürgen; die Skandalchronik der herrschenden Klassen ist für sie nur ein Orientierungsmittel über den Stand der Schlacht.

Kommentare