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Franz Mehring 19040120 Triumphe sind wie Niederlagen

Franz Mehring: Triumphe sind wie Niederlagen

20. Januar 1904

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Erster Band, S. 521-525. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 633-638]

Als wir vor drei Wochen an dieser Stelle über den Crimmitschauer Streik sprachen, meinten wir, dass es sich nicht schicken würde, den streikenden Arbeitern dreinzureden, auf welche Bedingungen hin sie die Arbeit wieder aufnehmen wollten. Nachdem sie nunmehr beschlossen haben, ohne jede Bedingung wieder in die Fabriken einzutreten, versagen wir uns die Kritik eines Entschlusses, der deshalb nicht weniger gut begründet sein kann, weil er aller Welt überraschend gekommen ist. Ein erschöpfendes Urteil über die taktischen Gesichtspunkte, die dabei ins Spiel kamen, steht nur denen zu, die mitten im Kampfe gestanden haben; wenn sie die Waffen, die sie fünf Monate hindurch mit wahrem Heldenmut geführt haben, freiwillig niederlegen, so werden sie wissen, was sie tun und weshalb sie es tun.

Die Früchte, die dieser große Kampf für die allgemeine Sache der Arbeiter gezeitigt hat, sind deshalb unverloren, und es gibt im parlamentarischen Sprachschatz kein Wort, mit dem das Siegesgeschrei der kapitalistischen Presse zutreffend gekennzeichnet werden könnte. Was ist denn geschehen? Das abgearbeitete Proletariat eines alten Zentrums der deutschen Textilindustrie wünscht den zehnstündigen Arbeitstag, der in der englischen Textilindustrie seit fast sechzig Jahren gesetzliche Kraft hat; sie petitioniert jahrelang darum, und nachdem sie wieder und wieder abschlägig beschieden worden ist, wagt sie einen leisen Druck auf die Unternehmer auszuüben, indem die Arbeiter von fünf Fabriken kündigen. Sofort werfen sämtliche Fabrikanten in Crimmitschau ihre Arbeiter aufs Pflaster; die staatlichen und städtischen Behörden fallen über die Ausgesperrten her, schlagen ihnen alle Waffen des Koalitionsrechtes aus der Hand, verhängen ohne jeden Grund den Belagerungszustand über die Stadt; die fromme Klerisei schlägt sich zu den Fabrikanten und den Behörden; endlich macht das industrielle Kapital in ganz Deutschland mobil, um den Fuß zu stärken, den die Fabrikanten in Crimmitschau den ausgesperrten Arbeitern in den Nacken setzen. Gegenüber einer so erdrückenden Übermacht halten diese Arbeiter fünf Monate lang mit einer Kraft aus, die jedes Lob entwaffnet, und erst als sie erkennen, dass die deutschen Unternehmer entschlossen sind, eher ein Zentrum der deutschen Industrie zu ruinieren, als einen kleinen Kulturfortschritt zuzugeben, erklären sie, lieber noch einmal das alte Joch auf sich zu nehmen, als einen Vandalismus zuzulassen, der das Gemeinwesen, dem sie angehören, in den Abgrund reißen würde.

Über diesen „Sieg" der Fabrikanten, über diese „Niederlage" der Arbeiter zu triumphieren, dazu gehören in der Tat intellektuelle und moralische Eigenschaften, die sich mit parlamentarischen Worten nicht wohl kennzeichnen lassen. Für den unbefangenen Blick ergibt sich vielmehr, dass, wenn die deutschen Kapitalisten in solcher Art beweisen, dass sie „Herren im Hause" sind, sie zugleich die innere Vermorschtheit dieser Herrschaft in überwältigender Weise aufdecken. Eine Herrschaft, die sich nur dadurch aufrechterhält, dass sie nicht bloß droht, sondern sich auch tatsächlich entschlossen zeigt, das Haus an allen vier Ecken anzuzünden, ehe sie aufhört, in diesem Hause zu kommandieren, erklärt damit vor aller Welt ihre historische Abdankung. Allein, so unglaublich die Torheit der „Sieger" ist, so verstehen sie dennoch, selbst diese Torheit noch zu übergipfeln, indem sie durch die „siegreiche" Beendigung ihres Crimmitschauer Feldzugs die Sozialdemokratie für geschlagen erklären. Wir sehen ganz davon ab, dass die Sozialdemokratie als solche mit dem Crimmitschauer Streik nichts zu tun hat1, aber wenn sie wirklich das wäre, was sie nach der Behauptung der Scharfmacher sein soll, wenn sie in raffinierter Weise darauf bedacht wäre, die Arbeiter gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu „hetzen", dann hätte sie heute allen Anlass, die deutschen Fabrikanten, das sächsische Staatsministerium, die städtischen Behörden und die evangelische Geistlichkeit in Crimmitschau mit dem Lorbeer dankbarer Anerkennung zu schmücken.

Man kann sich kein schlagenderes Beispiel für den Satz denken, dass alles Herumflicken an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verlorene Arbeit ist und nur ihre revolutionäre Umwälzung den Arbeitern helfen kann, als der Crimmitschauer Streik vom ersten bis zum letzten Tage war. Bescheidener, geduldiger, langmütiger und friedensbedürftiger noch mitten im Kampfe, als die dortigen Spinner und Weber waren, kann keine Schicht der modernen Arbeiterklasse sein, vorausgesetzt, dass sie überhaupt nicht auf jede Besserung ihrer Lage verzichten und sich mit Haut und Haaren der kapitalistischen Ausbeutung opfern will. Haben diese Arbeiter dennoch vor dem so böswilligen wie hartnäckigen, so hartnäckigen wie stumpfsinnigen Widerstand des Kapitalismus kapitulieren müssen, so ist damit über die viel gepriesene Harmonie von Kapital und Arbeit ein Licht verbreitet, das auch die vertrauensseligsten Augen beizen muss. Sowenig es die Sache der Sozialdemokratie ist, solche Kraftproben auf das unveräußerliche Wesen des Kapitalismus herauszufordern, so unverantwortlich würde sie handeln, wenn sie nicht die Konsequenzen aus den brutalen Schlägen zöge, womit der Crimmitschauer Streik niedergeworfen worden ist.

Wer auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft steht und vom Profithunger nicht gänzlich geblendet ist, der musste den Crimmitschauer Arbeitern den Sieg wünschen, eben um bewiesen zu sehen, dass den Arbeitern innerhalb dieser Gesellschaft wenigstens ein bescheidenes Maß sozialer Reformen zu erreichen möglich ist. Mit solchem Nachweis wäre für die Anhänger des Kapitalismus ungleich mehr gewonnen gewesen als für den proletarischen Emanzipationskampf mit einem siegreichen Streik. Umgekehrt ist dieser Kampf der wahre Gewinner bei dem so genannten Erfolge, den eine blinde Gewaltpolitik über die Crimmitschauer Arbeiter davongetragen hat. Die guten Leute, die sich einbilden, dass die vergewaltigten Arbeiter nunmehr die Hand küssen werden, die sie mit raffinierter Grausamkeit gezüchtigt hat, vergessen nur die Kleinigkeit, dass deutsche Arbeiter keine Neger und chinesische Kulis sind. Die Saat kapitalistischer „Siege" ist immer eine Drachensaat, und geharnischte Männer werden erstehen, wo friedfertige und langmütige Bittsteller in frivolem Übermut niedergeworfen worden sind.

Wenn deutsche Arbeiter preußische Junker oder russische Spitzel wären, so möchte der großmächtige Kanzler des großmächtigen Reiches wohl dreingefahren sein, wie er gegen das gesetzwidrige Treiben sächsischer Behörden, gegen die widerrechtliche Verkürzung des von Reichs wegen verbürgten Koalitionsrechts, nicht dreingefahren ist. Für die Kulturzustände des Reiches ist es in hohem Maße bezeichnend, dass mit der Kapitulation der Crimmitschauer Arbeiter vor rechtloser Übermacht eine Kapitulation des Reichskanzlers vor dem ostelbischen Krautjunkertum und der russischen Geheimpolizei zusammenfällt. In der Thronrede, womit der preußische Landtag eröffnet wurde, verzichtet Graf Bülow zum Abschluss einer jahrelangen Tragikomödie auf den Mittellandkanal und bekräftigt damit die Tatsache, dass nicht die Hohenzollern, sondern die Junker die „Herren im Hause" sind. Das ist zwar keine Neuigkeit – und am wenigsten wird es für den Reichskanzler eine Neuigkeit sein, der ja dem verbreitetsten Junkergeschlecht Ostelbiens angehört –, aber für den ersten Beamten der Krone, die sich mit so großem Nachdruck für den Bau des Mittellandkanals eingesetzt hat, gehört schon etwas dazu, gerade in dieser Frage die letzte Retirade anzutreten. Es gehörte auch etwas dazu, als Graf Bülow, kaum dass die Thronrede verhallt war, im Herrenhause der fine fleur der ostelbischen Ritterschaft pathetisch zurief: In Preußen der König voran, in Deutschland Preußen voran, in der Welt Deutschland voran! Dass die Auguren nicht vor Lachen geplatzt sind, als sie diese herrliche Parole hörten! In richtiges Deutsch übersetzt, würde sie lauten: In Preußen die Junker voran, in Deutschland der Zar voran, Deutschland unter des Zaren Vasallen voran!

Alles Beschämende, was über die russische Spitzelwirtschaft auf deutschem Boden bekannt geworden war, hat der Staatssekretär v. Richthofen im Reichstag einfach bestätigt, als er von der sozialdemokratischen Fraktion darüber interpelliert wurde. Es tut nichts zur Sache, dass er über die einzelnen Fälle nicht unterrichtet sein wollte. Auf diese einzelnen Fälle kommt es nicht an, sondern darauf, ob die russische Spitzelwirtschaft auf deutschem Boden von Reichs wegen geduldet wird. Die einzelnen Fälle ergeben sich dann von selbst, da Spitzel eben Spitzel sind und das Spitzelhandwerk ohne Nichtswürdigkeiten jeder Art nicht betrieben werden kann; gab doch seinerzeit der Spitzelvater Puttkamer selbst zu, dass seine lieben Kinder keine Gentlemen seien. Also über diese Seite der Sache ist kein langer Streit nötig; die entscheidende Frage ist allein, ob das Deutsche Reich den Zaren als Lehnsherrn anerkennt, indem sie ihm gestattet, auf deutschem Boden eine Spitzelgarde zu unterhalten, und diese Frage hat Herr v. Richthofen mit aller Deutlichkeit bejaht, sogar mit dem trutziglichen Hinzufügen, dass der Reichskanzler darin keine Änderung eintreten zu lassen gedenke. Das war klipp und klar gesprochen, und vermutlich würde Väterchen sich auch jede Beschönigung seiner angenehmen Beziehungen verbeten haben. Dies schöne Kind will auch unter den Linden gegrüßt sein. Immerhin wird auch sein väterliches Herz gerührt gewesen sein, als er hörte, wie gelehrig der deutsche Vasall die Sprache des Lehnsherrn zu sprechen versteht.

Was Herr v. Richthofen auf die vortreffliche Rede des Genossen Haase erwiderte, das war russisch, nicht einmal mehr borussisch, geschweige denn deutsch. Lebte Treitschke noch, der Herold und Prophet des neudeutschen Reiches, so würde er in seiner pathetischen Weise sagen, dass Herr v. Richthofen „eine Versündigung gegen das menschliche Geschlecht" begangen habe. So lesen wir in Treitschkes Vorlesungen über Politik: „Dass der Ausländer heute in einem Kulturstaat des Rechtsschutzes absolut sicher ist, das ist ein unermesslicher Fortschritt. Es ist eine Versündigung gegen das menschliche Geschlecht, wenn man deklamiert, im Völkerrecht herrsche auch heute noch die reine Gewalt." Nun, diese „Deklamation" hat sich Herr v. Richthofen im Reichstag geleistet; er hat den russischen Flüchtlingen den Rechtsschutz versagt und die „reine Gewalt" gegen sie proklamiert, indem er sich in der Vasallenlust spreizte, dem Lehnsherrn die dem zarischen Despotismus entronnenen Opfer wieder an die Grenze zu liefern.

Allerdings erkennt auch Treitschke das Recht des modernen Kulturstaats an, unbequeme Ausländer auszuweisen, aber er begründet es wie folgt: „Ausländer, die ihm lästig werden, muss ein Staat ausweisen können, und zwar ohne Angabe von Gründen, auch wenn er einen Vertrag geschlossen hat, welcher der Regel nach den Untertanen des anderen Staates den Aufenthalt sichert. So pflegt man Leute auszuweisen, welche man als Spione oder halbe Agenten argwöhnt; wollte man sich darüber erst noch in Erläuterungen einlassen, so würden die meist sehr unangenehmer Natur sein und nur das Verhältnis der Staaten verschlimmern. Deshalb ist es ein ganz vernünftiger Grundsatz, dass ein jeder Fremde sofort ausgewiesen werden kann mit der einfachen Erklärung: Du bist uns unangenehm. Man muss an diesem Rechte unbedingt festhalten, weil sonst die ehrlichen Leute im Ausland nicht unbelästigt blieben; was hart erscheint auf den ersten Blick, läuft so der Sache nach auf wirkliche Humanität hinaus." Das hat der Herold und Prophet des neudeutschen Reiches noch vor zehn Jahren auf dem Katheder der Berliner Universität gelehrt; heute aber erklärt der Staatssekretär des Auswärtigen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus; die russischen Spitzel müssen auf deutschem Boden gehegt und die russischen Flüchtlinge als ehrliche Leute ans Messer der zarischen Schergen geliefert werden.

Stolz wie ein Spanier sagte Herr v. Richthofen: Wir kennen keine Sentimentalität. Das ist gewiss ein staatsmännischer Fortschritt. Dem König Friedrich Wilhelm IV., sosehr er sich von seinem Schwager, dem Zaren Nikolaus, als Vasall behandeln lassen musste, hat doch all sein Lebtag das Wort im Herzen gebrannt, das ihm ein deutscher Dichter als Anwalt russischer Flüchtlinge zurief:

Wie auch des Gegners Groll sich steigert,

Werd' ihnen kein Asyl verweigert,

Kein Trost im Schmerz.

Und wo ein Gast sich eingefunden,

Beträufle Balsam seine Wunden,

Solange schlägt ein deutsches Herz.

Wie mancher wähnt den Feind zersplittert,

Indes die Nemesis umwittert

Des Siegers Zelt.

Triumphe sind wie Niederlagen,

Wenn ihre Frucht besteht in Klagen,

Im grenzenlosen Hass der Welt.

Das mag für die Ära Bülow sentimentales Sanskrit sein, aber es bleibt nicht minder wahr für Triumphe, wie sie die neudeutsche Reichsglorie heutzutage über sächsische Proletarier und russische Flüchtlinge erficht.

1 Mehring meint hier, dass nicht die Sozialdemokratische Partei, sondern die Gewerkschaften die Leitung des Streiks in Händen hatten. Aber in dieser Feststellung kommt auch eine für die deutsche Sozialdemokratie charakteristische Trennung des ökonomischen und des politischen Kampfes der Arbeiterklasse zum Ausdruck.

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