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Franz Mehring 19040301 Tua res agitur

Franz Mehring: Tua res agitur

1. März 1904

[ungezeichnet Leipziger Volkszeitung Nr. 50, 1. März 1904. Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 661-663]

Ein preußischer Minister hat dieser Tage im Reichstage eine Äußerung des Genossen Kautsky verlesen, wonach der Ausbruch einer russischen Revolution anfeuernd auf die europäische Revolution wirken würde, und daraus geschlossen, es sei die Pflicht der preußisch-deutschen Regierung, dem Zaren Schergendienste zu leisten, da sie damit in ihrem eigenen Interesse handle.

Das ist eine eigentümliche und für die preußisch-deutsche Regierung etwas zweischneidige Auffassung. Man mag sehr wenig an dieser Regierung zu loben finden, aber sie auf eine Stufe mit dem Zarismus zu stellen, haben immerhin selbst ihre entschiedensten Gegner sich noch nicht erlaubt. Vielleicht ist das weniger ihr eigenes Verdienst als das Verdienst der Umstände; vielleicht gibt es Minister in Deutschland, die, wenn es nur sonst ginge, das zarische Regierungssystem in Deutschland einbürgern würden. Aber dann ist es eben sehr unklug, diese holden Herzensgeheimnisse zu verraten; die Herren Hammerstein und Schönstedt stellen sich in ein sonderbares Licht, wenn sie offen bekennen, um ihre Sache werde gefochten, sobald es einmal dem zarischen Despotismus an den Kragen gehe.

Nachdem sie aber ein so offenes Bekenntnis abgelegt haben, muss man ihnen ebenso offen antworten, dass diese ihre Politik zu einem zweiten, und zwar potenzierten Jena führen würde. Als im Jahre 1789 die Französische Revolution ausbrach, stellten sich die Revolutionäre selbst durchaus freundlich zu Preußen, obgleich die damalige preußische Regierung so wenig Vertrauen erweckend war, wie die jetzige Vertrauen erweckend ist. Gleichwohl hielten es die Berliner Machthaber für angezeigt, jenen märchenhaft dummen Kreuzzug gegen das revolutionäre Frankreich zu veranstalten, der ihnen und ihren Söldnern so furchtbare Hiebe eingetragen hat und endlich zum völligen Zusammenbruche des friderizianischen Preußens führte, was freilich eine Wohltat für die zivilisierte Menschheit war, aber über die preußische Regierung eine Last der Schmach häufte, wie sie kaum jemals sonst eine Regierung zu tragen gehabt hat.

Jener märchenhaft dumme Kreuzzug gegen das revolutionäre Frankreich wurde unter derselben Parole eingeleitet, womit neulich Herr Schönstedt im Reichstage die Solidarität des Ministeriums, zu dessen Hauptzierden er gehört, mit dem zarischen Despotismus verkündete, unter der Parole: Tua res agitur, es handelt sich um deine Sache. In der Tat ist mit der Installierung des russischen Spitzelwesens auf deutschem Boden ja auch schon ein praktischer Anfang dieser Solidarität am Vorabend der russischen Revolution gemacht worden, während die zärtliche Hätschelung des Emigrantengesindels vor hundert Jahren immerhin erst nach Ausbruch der Französischen Revolution beginnen konnte. An dem guten Willen, das damalige Spiel zu wiederholen, wird es in Berlin also nicht fehlen, aber man wird sich an dem revolutionären Feuer in Russland noch ganz anders die Finger verbrennen, als man sie sich dermaleinst an dem revolutionären Feuer in Frankreich verbrannt hat.

Schon deshalb, weil man diesmal nicht einen „Mietlingsschwarm", wie es in der Marseillaise heißt, dem Zaren zu Hilfe schicken könnte, sondern die Blüte der deutschen Jugend opfern müsste, um ein blut- und schmachbedecktes Regiment wiederherzustellen. Das ist um so weniger eine simple Sache, als jeder zivilisierte Mensch in Deutschland eine russische Revolution ebenso freudig begrüßen würde, wie die Klopstock und Schiller und Fichte vor hundert Jahren die Französische Revolution begrüßt haben. Wir möchten den deutschen Reichstag sehen, der sich mit der Infamie brandmarken würde, die Mittel zu einem Kreuzzuge gegen eine russische Revolution zu bewilligen. Und selbst wenn das Unglaubliche geschähe, so würden Zustände in Deutschland einreißen, die den herrschenden Klassen sehr deutlich die Grenzen ihrer Macht weisen würden. Wir leben glücklicherweise nicht mehr im Jahre 1792, wir leben auch nicht einmal mehr in Metternichs Tagen, wo die „Solidarität der konservativen Interessen" das einzige Schlagwort einer bankrotten Diplomatie bildete.

Säße heute am Steuerruder der deutschen Politik auch nur ein so genannter Staatsmann von den sehr mäßigen Fähigkeiten Louis-Bonapartes, so würde er wenigstens so viel begreifen, dass man sich nicht mit einem Leichname verbünden darf. Mit dem russisch-japanischen Kriege ist für den zarischen Despotismus der Anfang vom Ende gekommen, und die viel gerühmte Realpolitik, die sich von allen Sentimentalitäten frei weiß, müsste nun wenigstens mit einem hörbaren Ruck von Väterchens Seite rücken. Es ist ein übermenschlicher Edelmut, gerade jetzt die eigene Sache mit der zarischen Sache für identisch zu erklären. Oder sollten die Herren v. Hammerstein und Schönstedt gemeint haben, ihr Klasseninteresse, das Interesse der preußischen Bürokratie und des preußischen Junkertums, sei so eng mit Väterchens Herrlichkeit verflochten, dass es mit dieser Herrlichkeit stände und fiele? Das ließe sich schon eher hören, aber dann läge nur ein doppelter Grund vor, die Knochen auch nicht eines pommerschen Grenadiers für die Aufrechterhaltung des Zarismus zu opfern.

Gewiss: Die Klasseninteressen der Herren v. Hammerstein und Schönstedt mögen in ihren eignen Augen sehr ehrwürdige Angelegenheiten sein, allein mit den nationalen Interessen des deutschen Volkes haben sie schlechterdings gar nichts zu tun. Im Gegenteil! Man entsinnt sich, mit welcher Freude die deutsche Nation die Prügel begrüßte, womit die preußischen „Federbüsche" bei Jena abgestraft wurden, und wie triftigen Grund sie zu dieser Freude hatte. Wollen also die Herren von Hammerstein und Schönstedt samt sämtlichen Bürokraten und Junkern dem Zaren gegen die drohende Revolution auf eigene Faust als irrende Ritter zu Hilfe ziehen, so können sie unsern Segen mit auf den Weg nehmen. Jedoch wenn sie als preußisch-deutsche Minister eine Solidarität des Reichs mit dem Zaren gegen die russische Revolution verkünden, so haben wir allen Anlass und Grund, uns dies staatsmännische Programm sehr entschieden zu verbitten und rechtzeitig vor der Wiederholung einer Politik zu protestieren, die vor hundert Jahren den Hohn und die Verachtung der zivilisierten Welt auf den preußischen und deutschen Namen gehäuft hat.

Im übrigen dürfen wir allerdings annehmen, dass der Knüppel bei der Staatskunst liegen würde, die etwa geneigt sein sollte, einer russischen Revolution gegenüber das ruchlose Spiel zu wiederholen, das einst unter der Parole: Tua res agitur mit der Französischen Revolution gespielt worden ist.

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