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Franz Mehring 19050118 Der Bergarbeiterstreik

Franz Mehring: Der Bergarbeiterstreik

18. Januar 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 529-532. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 8-11]

Nach allem, was die Tagespresse über den großen Bergarbeiterstreik im Ruhrrevier berichtet hat, ist es schwer, in einer zusammenfassenden Wochenschau neue Gesichtspunkte hervorzuheben, zumal da die Dinge noch in vollem Flusse sind. Es mag deshalb genügen, mit einigen Strichen die augenblickliche Stellung der gewaltigsten Schlacht zu skizzieren, die sich bisher auf deutschem Boden zwischen Kapital und Arbeit entsponnen hat.

Der Angreifer in diesem Kampfe ist das Kapital. Was der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei und die Generalkommission der Gewerkschaften in ihren Aufrufen darüber gesagt haben, steht über jeden Zweifel hinaus fest. Worauf es abgesehen ist, bedarf auch keiner ausführlichen Auseinandersetzung. Indem das Kohlensyndikat die von ihm ausgebeuteten Arbeiter in einen Streik treibt, von dem es glaubt, dass sie ihn verlieren müssen, will es – neben anderen Vorteilen, die auf die Akkumulation und Zentralisation seines Kapitals abzielen – vor allem die erstarkenden Bergarbeiterorganisationen zertrümmern, ehe sie seinen Profit gefährden können. Es wirft den letzten Schleier von seinen Absichten, indem es sich hartnäckig allen Einigungsvorschlägen widersetzt und selbst den schüchternen Vermittlungsversuchen der Regierung die „kalte Teufelsfaust" entgegenstreckt. Nicht einmal an der Wahrung des guten Scheins liegt ihm etwas, woraus ihm – wenn es einmal die rücksichtsloseste Gewaltpolitik des Kapitalismus treiben will – allerdings kein besonderer Vorwurf gemacht zu werden braucht.

Eher ließe sich der Regierung ein Vorwurf daraus machen, dass sie noch den guten Schein zu wahren sucht, während sie mit Herz und Seele dem Kohlensyndikat zugetan ist. Die Reden, die der Handelsminister Möller und der Polizeiminister v. Hammerstein im preußischen Abgeordnetenhaus über den Streik gehalten haben, zeigten sie durchaus auf der Seite des Bergwerkkapitals, den einen, der nach „ordinärer" Polizeiansicht bei jedem Streik gleich an die schießende Flinte und den hauenden Säbel denkt, ganz unverhüllt, den anderen ein wenig verschämter. Aber ebendiese leichte Maskierung passte sehr wenig zu der kapitalistischen Physiognomie des Herrn Möller, und sie kann selbst dem vertrauensseligsten Gemüt nicht die Überzeugung einflößen, dass unsere „starke" Regierung mit dem Grubenkapital diejenige Fraktur sprechen wird, die nötig ist, um es Gründen der Menschlichkeit und der Vernunft zugänglich zu machen.

Möglich, dass sich die Regierung sagt: Die Spuren schrecken. Bekanntlich hat der Kaiser selbst vor fünfzehn Jahren bei dem damaligen Bergarbeiterstreik im Ruhrrevier ein Machtwort zugunsten der Arbeiter zu sprechen gesucht1, und dies Machtwort ist spurlos verhallt. Spurlos oder doch so gut wie spurlos. Denn auf den Kampfeseifer der streikenden Arbeiter hat es wohl ein wenig lähmend gewirkt, nicht jedoch hat es da gewirkt, wo es wirken sollte: auf die herzlos-kaltblütige Politik des ausbeutenden und unterdrückenden Kapitals. Trotz des guten Willens, den der Kaiser vor fünfzehn Jahren bekundet hat, haben sich die Verhältnisse zwischen Kapital und Arbeit im Ruhrrevier in einer Weise entwickelt, die dem kaiserlichen Willen genau entgegengesetzt war, und zwar einzig und allein durch die Schuld des Kapitals. Man kann es deshalb verstehen, dass die preußischen Minister in der Erinnerung an diesen Misserfolg des Monarchen sich hüten, mit dem Kohlensyndikat anzubinden, aber dann hätten sie ehrlich sagen sollen: Wir sind ja gar keine starke, sondern eine sehr schwache Regierung und dürfen nicht wagen, mit einer mächtigen kapitalistischen Organisation anders als mit devot gekrümmtem Rücken zu verhandeln.

Eher noch als diese Regierung, die einem Rohre gleicht, das zerbrechen und den streikenden Bergarbeitern die Hand durchbohren würde, wenn sie sich darauf stützen wollten, ist das Urteil der bürgerlichen Welt ein Machtfaktor in dem gegenwärtigen Streik, wenn auch weitaus nicht in dem Maße, wie diese Welt in ihrer satten Selbstzufriedenheit sich selbst einbildet. Noch ist kein Streik durch die „Sympathie der bürgerlichen Kreise" zugunsten der Arbeiter entschieden worden, aber allerdings – die Stellung des Kapitals wird bis zu einem gewissen Grade geschwächt, wenn ihm seine eigenen Bewunderer schaudernd den Rücken kehren. Bisher ist die Haltung der bürgerlichen Welt und besonders der bürgerlichen Presse gegenüber dem Bergarbeiterstreik ganz leidlich gewesen. Nicht als ob es an wohlfeilen Moralpredigten und jenen weisen Ratschlägen gefehlt hätte, von denen immer zwölf auf ein Dutzend gehen; darunter tut es der brave Bürgersmann nun einmal nicht. Aber innerlich überkommt ihn doch ein Grauen vor der Politik des Kohlensyndikats, das in ausgefeimtem Kalkül das Elend und den Hunger von Hunderttausenden zu verewigen trachtet, um seinen Profit zu steigern. Auch die bängliche Ahnung mischt sich darein, dass, wenn sich die kapitalistischen Syndikate in solcher Weise auswachsen, wie das Kohlensyndikat, auch dem ehrbaren Philister bald das Messer an die Kehle gesetzt werden wird. So steht das, was sich in der kapitalistischen Gesellschaft die „öffentliche Meinung" zu nennen pflegt, einstweilen mehr auf der Seite der streikenden Bergarbeiter als ihrer Unterdrücker.

Wie lange das dauern wird, ist freilich eine andere Frage. Die Wirkungen einer so großen Arbeitseinstellung auf Handel und Industrie müssen sich sehr bald fühlbar machen, und zwar umso fühlbarer, je länger und je nachdrücklicher die Arbeiter ihren Kampf führen. So weit reicht die „Sympathie der bürgerlichen Kreise" niemals, dass sie irgendeine ernsthafte Unbequemlichkeit dafür in den Kauf nehmen. Man kann deshalb mit völliger Sicherheit vorhersagen, dass, je mehr sich die Bergarbeiter ihrem Ziele nähern und den Trotz des Kohlensyndikats zu brechen beginnen, um so mehr sich ihnen das wetterwendische Wohlwollen der bürgerlichen Welt entziehen wird. Und unter dieser Voraussetzung können sie auch gut und gern darauf verzichten.

Es ist nicht anders: Jeder Kampf, der in den Massen des modernen Proletariats ausbricht, stellt alsbald die besitzenden und die arbeitenden Klassen in schroffe Stellung gegeneinander. Immer heißt es dann: Ein Hüben, ein Drüben nur gilt. Die tatkräftige Hilfe aller deutschen Arbeiter steht hinter den streikenden Bergleuten des Ruhrreviers, und sie ist die einzige sichere Stütze, auf die sie rechnen können. Wohl haben die Arbeiterführer der rheinisch-westfälischen Bezirke den Ausbruch des Streiks mit derselben Kraft zu hindern gesucht, womit die Treiber des Kohlensyndikats ihn geschürt haben, aber das Recht der Streikenden und ihr Anspruch auf die Unterstützung ihrer Klassengenossen ist deshalb nicht minder legitim. In dieser Beziehung gilt noch immer, was Friedrich Engels vor sechzig Jahren schrieb: „Man wird fragen, weshalb denn die Arbeiter in solchen Fällen, wo doch die Nutzlosigkeit der Maßregel auf der Hand liegt, die Arbeit einstellen? Einfach, weil sie gegen die Herabsetzung des Lohns und selbst gegen die Notwendigkeit dieser Herabsetzung protestieren müssen, weil sie erklären müssen, dass sie, als Menschen, nicht nach den Verhältnissen sich zu schicken, sondern dass die Verhältnisse sich nach ihnen, den Menschen, zu richten haben; weil ihr Stillschweigen eine Anerkennung dieser Verhältnisse, eine Anerkennung sein würde des Rechtes der Bourgeoisie, während guter Handelsperioden die Arbeiter auszubeuten und sie in schlechten Zeiten verhungern zu lassen. Die Arbeiter müssen dagegen protestieren, solange sie noch nicht alles menschliche Gefühl verloren haben.2 Es ist derselbe, in seiner einfachen Schlichtheit echt und tief philosophische Gedanke, den Schiller in die bekannten Verse von der „Grenze der Tyrannenmacht" gekleidet hat:

Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,

Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht.

Es gibt unzweifelhaft Streiks, in denen allein das rechnerische Moment entscheidet, die ausbrechen oder nicht ausbrechen dürfen, je nachdem eine Aussicht auf Erfolg vorhanden ist oder nicht, deren Anspruch auf Billigung oder Missbilligung sich einfach in der Frage erschöpft, ob sie mit der gehörigen Überlegung eingeleitet worden sind oder nicht. Aber es gibt auch Streiks, die sich mit der elementarischen Kraft einer Naturgewalt entladen und ihr Recht aus einem tieferen Grunde schöpfen als aus dem flachen Boden des Einmaleins. Zu diesen Streiks gehört die Arbeitseinstellung im Ruhrrevier, und sie bloß auf ihren äußeren Erfolg oder Misserfolg abschätzen hieße die moderne Arbeiterfrage in ein simples Rechenexempel auflösen.

Das wäre nun freilich nach dem Geschmack der Kapitalisten, aber die Arbeiter denken darüber anders, und mit Recht. Für sie sind die streikenden Bergleute im Ruhrrevier nicht schlechte Rechner oder genauer: Wenn sie ihnen schlechte Rechner sind, so stehen sie ihnen um so höher als kühne und todesmutige Vorkämpfer der Arbeitersache, als Männer, die, bis aufs Blut gehetzt und gequält, die lammherzige Gelassenheit fahren lassen und sich dem Ungetüm, das sie langsam zu erwürgen droht, zum offenen Kampfe auf Leben und Tod stellen. In diesem einzelnen Kampfe, so große Dimensionen er auch angenommen hat, wird der Kapitalismus nicht besiegt werden – das weiß jeder Arbeiter. Aber jeder Arbeiter weiß auch, dass es ein Lebensinteresse seiner Klasse ist, den einzelnen Kampf so fest, so scharf und so zähe zu führen, wie er mit ihrer gesammelten Kraft nur immer geführt werden kann. Es ist der einzige Weg, den Kapitalismus auf einem Wege aufzuhalten, den er mühelos vollenden würde, wenn die Arbeiter einfach die Waffen streckten mit dem feigen Philistertrost, dass es ja doch nichts nützt, sich zu widersetzen; es ist der einzige Weg, der die Arbeiterklasse zum Siege führen kann und wird.

Und auf diesem Wege wird das Kohlensyndikat in all seiner protzenden und prunkenden Siegeszuversicht die deutschen Arbeiter finden.

1 Gemeint ist die Rede Wilhelms II. beim Empfang von drei Delegierten der streikenden Bergarbeiter am 14. Mai 1889 (zwei von ihnen waren Sozialdemokraten). W. hielt eine unsachliche Standpauke gegen die Sozialdemokratie. In Hervorhebung eines patriarchalischen Anspruchs des Kaisers widersprach er dem „Herr-im-Hause-Standpunkt" der Schwerindustriellen. Kirdorf antwortete: „Weder Kaiser noch Könige haben in den Betrieben etwas zu sagen. Da bestimmen wir allein."

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