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Franz Mehring 19051129 Der letzte Hort der Reaktion

Franz Mehring: Der letzte Hort der Reaktion

29. November 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 305-308. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 98-101]

Mit ungewöhnlichem Pomp und Prunk ist gestern die neue Tagung des Reichstags eröffnet worden, und die Sätze über die internationalen Beziehungen des Reiches erregen an allen Stammtischen die tiefsinnigsten Betrachtungen der Philister. Halb mit Stolz und halb mit Wehmut vernehmen diese Patrioten die melancholische Kunde, dass „deutsche Sinnesart" fortdauernd im Ausland „verkannt" werde und „Vorurteile gegen die Fortschritte deutschen Fleißes" beständen. Es ist nicht zu bestreiten, dass dieser Speck geschickt genug für die Mäuse ausgelegt ist, die er fangen soll. Herr Tirpitz braucht nicht große Sorge um seine Flottenvorlage zu haben, und selbst Herr Stengel mag die unförmliche Galeere seiner so genannten „Reichsfinanzreform" dem Hafen zu schwanken sehen.

In ihrem eben erschienenen Dezemberheft gebrauchen die „Preußischen Jahrbücher" ein treffendes Bild, um die offizielle Staatskunst des Reiches zu kennzeichnen. Sie sprechen von der Vertrauensseligkeit eines Fuhrmanns, der einen Berg hinauffahren wolle und des sicheren Glaubens sei, dass er hinaufgelangen werde, obgleich er sehe, dass sein Wagen unausgesetzt zurück gleite. Allerdings münzt Herr Delbrück dies kritische Wort zunächst auf die preußische Polenpolitik, auf die Germanisierungskünste des Hakatismus1, denen die Regierung allzu bereitwillige Folge leiste, aber es greift weit über den einzelnen Fall hinaus und trifft ganz besonders auf die auswärtige Politik zu, wie sie hierzulande betrieben wird. Ohne die „deutsche Sinnesart" und den „deutschen Fleiß" weiter zu bemühen, kann und muss man die Tatsache zugeben, dass die deutsche Diplomatie es glücklich fertig gebracht hat, das offizielle Reich auf einen Isolierschemel zu lotsen, wo es sich in seiner einsamen Gottähnlichkeit bespiegeln mag. Allein wenn es sich aus dieser fatalen Situation heraus manövrieren will, so ist Säbelrasseln und Wettrüsten der schlechteste Weg zu diesem Ziele. Dadurch gerät man immer tiefer in den Strudel, aus dem man sich ans sichere Ufer retten möchte.

Denn eben das ewige Säbelrasseln und Wettrüsten hat den Argwohn der Nationen gegen die offizielle Politik des Reiches erweckt. Der Reichskanzler lässt die Thronrede sagen, dass es ihr eine heilige Sache um den Frieden des deutschen Volkes sei. Aber diese Tonart ist nicht immer angeschlagen worden, und die englische Presse hat nicht ganz unrecht, wenn sie darin so etwas wie die Klagelieder Jeremiä wittert, neben der Absicht, eine gewisse Stimmung für die neuen Finanz- und Flottenforderungen zu machen. Sollte die „Sinnesart" der deutschen Regierung im Ausland wirklich „verkannt" worden sein, so hat sie selbst den stärksten Anlass dazu gegeben, durch ihre Worte wie durch ihre Taten, wie denn die ganze deutsche Flottenpolitik für die „Früchte deutschen Fleißes" verdammt gleichgültig, aber eine grund- und zwecklose Herausforderung anderer Mächte war und ist. Sich jetzt als die verkannte Unschuld aufzuspielen steht ihr sehr wenig an, obgleich nicht übersehen werden darf, dass dieser sentimentale Appell an die unbegrenzte Borniertheit des deutschen Philisters seine alte Zauberkraft noch nicht verloren zu haben scheint.

Sie ist wirklich unbegrenzt, diese Borniertheit. In den Fragen der auswärtigen Politik von jeher zur bescheidenen Rolle der Hurrakanaille verurteilt, hat der brave Spießbürger in den letzten Jahren doch manchmal wenigstens in der Tasche die Faust geballt, namentlich über gewisse Reden, in denen das Ausland nichts anderes als kriegerische Drohungen erblicken konnte. Aber jetzt, wo die sauren Früchte dieser Beredsamkeit reifen, ist er Feuer und Flamme gegen die „ungerechten Angriffe" des Auslandes. Statt endlich einmal vor der eigenen Türe zu kehren und sein Schicksal in seine eigenen Hände zu nehmen, verfällt er einem patriotischen Paroxysmus, wie im Jahre 1887 in den Faschingswahlen2, und spendet derselben Diplomatie, die sein geliebtes Vaterland in eine immerhin unbequeme Lage gebracht hat, ein Vertrauensvotum, indem er sich bereit erklärt, ihr Säbelrasseln und Wettrüsten in erhöhter Potenz fortzusetzen. Der Flottentaumel reißt die letzten Trümmer der bürgerlichen Opposition fort, die ihm bisher noch immer gewissen Widerstand entgegensetzten; „der König rief, und alle, alle kamen", ganz wie bei der großen Eselei von 18133, wo sich die Großväter der heutigen Patrioten „mit Gott für König und Vaterland" auch das feudale Joch wieder in den Nacken drückten, das ihnen durch ausländische Eroberer halb und halb gelockert worden war.

Etwas haben sie seitdem freilich doch zugelernt, nämlich dass in Geldsachen die Gemütlichkeit aufhört. Ihre Großväter von 1813 waren blutarme Teufel, aber sie selbst sitzen auf großen Geldsäcken, und ganz so leicht wie Herr Tirpitz wird es Herr Stengel nicht haben. Es ist da mehr als ein Pentagramma, das den unentwegtesten Patrioten einige Pein macht. So, um nur eins zu erwähnen, der Paragraph 6 des Flottengesetzes von 1900, der mit unangenehmster Deutlichkeit verfügt, dass der Mehrbedarf der Marineverwaltung „nicht durch Erhöhung oder Vermehrung der indirekten, den Massenverbrauch belastenden Reichsabgaben aufgebracht" werden dürfe. Welches Aufgebot von Lügenkünsten wird notwendig sein, um dies feierliche Versprechen aus der Welt zu schaffen, nun gar in einer Zeit, wo auch die politisch noch nicht aufgeweckten Arbeitermassen nur ein sehr bedingtes Vertrauen auf die Wahrheitsliebe der herrschenden Klassen setzen! Daran natürlich, ihr Wort zu halten, denken diese Klassen nicht; nach den Grundsätzen der ewigen Gerechtigkeit, die im kapitalistischen Staat waltet, müssen die arbeitenden Klassen den kostspieligen Flottentaumel bezahlen. Allein wie viel Schweiß der Edelsten und Besten wird fließen müssen, um die Erhöhungen der Bier- und der Tabaksteuer und die sonstigen Steuerpräsente des Herrn Stengel der misera contribuens plebs mundgerecht zu machen, und wie zweifelhaft wird bei alledem der Erfolg sein!

Allein umsonst ist der Tod und nicht die deutsche Reichsherrlichkeit. Und wer das A des Herrn Tirpitz nachbetet, der wird auch das B des Herrn Stengel nachstammeln müssen. Wir werden das beschämende Schauspiel erleben, dass, während die Revolution in Russland und selbst in Österreich marschiert, das offizielle Deutschland, Reichstag wie Reichsregierung, sich gebärdet, als schlage noch keine Uhr, die dem militaristischen Absolutismus sein Stündlein anzeige, als lebten wir noch in den Tagen der Heiligen Allianz4, wo die Autokratie der Fürsten unumschränkt über die Herden der Völker verfügte, deren Blut und Knochen gerade gut genug waren, die verfehlten Streiche einer so anspruchsvollen wie nichtigen Diplomatie zu büßen. Im Osten die proletarische Revolution und im Westen die bürgerliche Zivilisation, so präsentiert sich dieses offizielle Deutschland als der letzte Hort der absolutistischen Reaktion, ähnlich wie vor hundert Jahren die gehäuften Sünden der damals herrschenden Klassen nirgends einen so abstoßend widrigen Eindruck hervorriefen als in dem preußischen Staate.

Umso dringender wird die Pflicht der Arbeiterklasse, die Ehre des deutschen Namens zu retten und mit allem Nachdruck die Revolution zu vertreten, die auch das Deutsche Reich längst ergriffen hat. Nicht um eines Strohhalms Breite darf sie den „nationalen" und „patriotischen" Beklemmungen, Forderungen, Wünschen nachgeben, die den bürgerlichen Philister einmal wieder politisch gänzlich entnervt haben. Je lauter sie ihre Stimme erhebt gegen die launenhaften Sprünge einer Politik, die, wenn sie ernsthaft genommen werden soll, den europäischen Frieden bedroht, und wenn sie nicht ernsthaft genommen wird, das Reich vor aller Welt bloßstellt, um so größere Dienste leistet sie dem zivilisatorischen Fortschritt. Je früher sich das philisterhafte Bürgertum unter den tönenden Phrasenregen einer angeblichen Vaterlandsrettung duckt, um so rückhaltloser muss das revolutionäre Proletariat bekennen, dass es gemeinsame Interessen hat mit den Arbeiterklassen aller fremden Länder, nicht aber mit den herrschenden Klassen des eigenen Landes, am wenigsten, wenn diese Klassen durch Säbelrasseln und Wettrüsten kriegerische Verwicklungen vorbereiten. Mit den russischen Revolutionären, aber gegen die preußischen Junker!

Es ist wahr: Einen unmittelbaren Erfolg wird auch die kühnste Taktik der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion nicht haben. Alle bürgerlichen Parteien, bis herab zur kleinsten, sind bereit umzufallen; von keiner ist ein prinzipieller Widerstand zu erwarten, sondern von allen höchstens ein widerliches Feilschen und Schachern um ein Mehr oder Weniger des Verrats. Desto tiefer können aber die mittelbaren Wirkungen einer prinzipiellen Politik greifen, die vor keinem Aberglauben, vor keinem Schlagwort, vor keinen Überlieferungen innehält, sondern den letzten Hort der europäischen Reaktion mit den Waffen bekämpft, die ihn ins Herz treffen. Je unberechenbarer die bürgerliche Feigheit ist, die ihn stützt, umso unzweideutiger muss der proletarische Ansturm sein, der ihn stürzen wird.

Ungünstig wie die parlamentarische Situation im deutschen Reichstag für die Sache der Freiheit und des Friedens erscheint, ist sie doch ungemein günstig, um Fichtes politisches Heilmittel zu erproben: aussprechen das, was ist. Die neuen Flotten- und Steuerpläne, bis zum Rande gefüllt mit Lug und Trug gegenüber den hungernden Massen und in ihrer reaktionären Nacktheit sich grotesk abhebend von dem gewitterschwangeren Horizont der russischen Revolution – das ist eine Gelegenheit, wie sie kaum jemals schon geboten worden ist, um weite Eroberungszüge in das Land der Gegner zu machen, um die Füße des Kolosses so zu erschüttern, dass er endlich unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht.

1 Gemeint ist der am 3. November 1804 in Posen gegründete „Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken", seit 1899 „Deutscher Ostmarkverein" (Sitz in Berlin), eine der Propagandaorganisationen des deutschen Großkapitals und der Junker; nach den Anfangsbuchstaben seiner Führer – von Hansemann, Kennemann und Tiedemann-Seeheim – auch Hakatistenverein genannt.

2 Faschingswahlen 1887 – Gemeint ist die chauvinistische Demagogie, mit der Bismarck und seine Anhänger den Wahlkampf führten, der in die Karnevalszeit 1887 fiel. Der Reichstag war aufgelöst worden, weil er sich gegen das Septennat (s. Anm. 56) ausgesprochen hatte (die Wahlen wurden auch Septennatswahlen genannt). Trotz aller Demagogie, Bismarck malte das Gespenst eines bevorstehenden französischen Überfalls an die Wand, erreichte die illegale Sozialdemokratie einen Stimmenzuwachs von fast 39 Prozent gegenüber 1884.

3 Der Krieg von 1813/1814 gegen die französische Fremdherrschaft trug zwiespältigen Charakter: Der Krieg für die Befreiung des Landes und für einen deutschen Nationalstaat wurde von den Fürsten und Junkern zur Wiederherstellung und Festigung der feudalabsolutistischen Verhältnisse ausgenutzt.

4 Heilige Allianz – das am 26. September 1815 auf Anregung Alexanders I. von den Monarchen Russlands, Preußens und Österreichs unterzeichnete Bündnis zur Niederwerfung aller revolutionären und nationalen Bestrebungen in Europa, das die Restaurationsperiode einleitete. So genannt nach dem Manifest, das sich in schwülstiger Frömmelei erging.

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