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Franz Mehring 19051206 Der preußische Landtag

Franz Mehring: Der preußische Landtag

6. Dezember 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 345-348. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 102-106]

Wenn der Reichstag vor acht Tagen mit großem Pomp und Prunk wiedereröffnet wurde, so ging es gestern, als der preußische Landtag zu seiner neuen Tagung zusammentrat, umso nüchterner her. Die Thronrede enthielt nichts, was nicht alle Welt schon wusste, und sie war in dem trockenen Geheimratsstil abgefasst, über den die preußische Bürokratie gebietet. Man fühlt sich hier noch ganz auf sicherem Boden und kann der dekorativen Künste entbehren, die auf den bürgerlichen Philister doch immer noch einen gewissen Eindruck machen und deshalb – vom Standpunkt der Regierung – nicht völlig zu verachten sind, wo Forderungen erhoben werden wie die neue Flottenvorlage und die so genannte „Reichsfinanzreform", Forderungen, von denen zu befürchten steht, dass sie die vielgeprüfte Lammsgeduld jenes Philisters vielleicht doch erschöpfen könnten.

Im Landtag darf die Regierung auf die stolzen Gebärden und die tönenden Worte verzichten. Sie findet hier immer jene „angenehme Temperatur", die vor vierzig Jahren der Kriegsminister v. Roon nur erst im Herren-, aber noch nicht im Abgeordnetenhause fand, das sich dazumal sehr ungebärdig stellte. Das ist seitdem anders geworden, obgleich im Grunde nicht viel anders. In Worten haben sich die bürgerlichen Helden der preußischen Konfliktszeit wohl manchmal gewaltig übernommen, aber wenn man einmal einen Band stenographischer Landtagsberichte aus den Jahren 1862 bis 1866 nachschlägt, so erstaunt man im allgemeinen über die manchmal unglaubliche Zahmheit der Opposition, die es wohl auf mancherlei Art mit dem Biegen versuchte, aber sehr behutsam die Grenze innehielt, wo es aufs Brechen angekommen wäre. Nur das böse Gewissen des alten Wilhelm, der den 18. März niemals vergessen hat, sah in dieser Opposition einer sehr behäbigen Bourgeoisie die historischen Nachfahren der Berliner Barrikadenkämpfer, und Bismarck nährte diese gespensterhaften Phantasien, nicht weil er ihnen auch verfallen gewesen wäre, sondern um sich als Retter vor ungeheuren Gefahren aufzuspielen und so die feste Stellung zu gewinnen, die ihm ermöglichte, den ebenso beschränkten wie halsstarrigen König gegen hundert höfische Widerstände in den Krieg mit Österreich zu treiben.

Es trifft sich, dass gerade jetzt, wo der preußische Landtag wieder zusammentritt, dasjenige seiner Mitglieder aus ihm scheidet, das noch als letzter übrig war aus jener angeblichen Heroenzeit des bürgerlichen Parlamentarismus, der sich auf dem Boden des Dreiklassenwahlrechts1 vermaß oder doch so tat, als ob er sich vermaß, eine Krone niederzuzwingen, die einstweilen noch über alle realen Machtmittel des Staates verfügte. Allerdings saß Eugen Richter zur Zeit des Verfassungsstreits noch nicht im preußischen Landtag, aber er hat sich in diesem Streite doch seine politischen Sporen verdient und ist nie über den politischen Horizont der damaligen bürgerlichen Opposition hinausgekommen. Vielmehr hat er diesen Horizont noch wesentlich verengert; eine historisch-philosophische oder gar ästhetische Bildung, wie sie die Waldeck, Jacoby, Ziegler besaßen, hat ihm immer gefehlt, und namentlich dem alten Ziegler fiel er schon als junger Mann böse auf die Nerven. Was sollte auch der Freund Lassalles, der das Statut für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein verfasst hatte, zu Richters ewig wiederholter Litanei sagen, dass die deutsche Sozialdemokratie eine Erfindung der preußischen Polizei sei, die auf diese heimtückische Weise die eherne Phalanx des Bürgertums zersprengt habe, just am Vorabend seines endgültigen Sieges?

So schwer es ist, einer politischen Halluzination solchen Kalibers den mildernden Umstand des guten Glaubens zuzubilligen, zumal wenn sie vierzig Jahre lang mit unveränderter Hartnäckigkeit festgehalten wird, so darf sie ihren guten Glauben doch zweifellos beanspruchen. Es wäre ja auch ein absonderlicher Gauner, der mit dieser fixen Idee politische Geschäfte machen wollte. Aber dass ein Mann, dessen Anschauungen durch einen so unzerstörbaren Wahn verfinstert wurden, jahrzehntelang den Führer der bürgerlichen Opposition oder doch mindestens ihrer verhältnismäßig entschiedensten Fraktion spielen konnte, das ist charakteristisch für diese Opposition. Richter hat sie nicht ruiniert, wie ihm so oft vorgeworfen worden ist, aber dadurch, dass sie ihn sich selbst zu ihrem Führer wählte, immer wieder auf seine Worte schwor, alle seine Missgriffe und Torheiten, manchmal mit hörbarem Murren, aber schließlich doch stets gern oder ungern mitmachte, hat sie ihre eigene Nichtigkeit wieder und wieder offenbart. Es ist immer noch so, dass jede Partei genau die Führer hat, die sie verdient, und wenn heute Richters Ausscheiden aus dem preußischen Landtag von niemandem so herzlich und schmerzlich beklagt wird wie von den schlimmsten Organen der Brotwucherer, denen er vor nunmehr drei Jahren bei ihrem parlamentarischen Staatsstreich seine Liebesdienste leistete, so trifft diese beißende Kritik viel mehr seine Partei als ihn selbst, der durch seine mehr pathologische als politische Verbissenheit gegen die Arbeiterklasse wenn auch nicht gerechtfertigt, so doch bis zu einem gewissen Grade entschuldigt wird.

Die schmähliche Fahnenflucht des Liberalismus ins reaktionäre Lager erscheint am schmählichsten in den Klassenparlamenten, wo die besitzenden Klassen unter sich sind, wo die Liberalen also, unbehindert durch den lähmenden Eindruck des roten Gespenstes, noch gegen ihre reaktionären Todfeinde ihre Klinge führen könnten. Eben hier tritt sie aber auch am krassesten auf, denn auf dem Boden der Privilegienwirtschaft bekommen auf die Dauer immer die das Heft in die Hand, die am frechsten auf ihre Privilegien pochen und es, ihren sei es noch so korrupten Anschauungen gemäß, auch am ehesten dürfen. Es ist bei alledem schwer denkbar, dass im Reichstag ein so nichtswürdiger Schacher zwischen Konservativen, Ultramontanen und Nationalliberalen zurecht gemachenschaftet werden könnte, wie das Schulgesetz, durch das sich der preußische Landtag in diesem Winter sein eigentliches Schandmal aufdrücken wird. Gewiss war die „Volksbildung", womit die Liberalen einher zu prunken pflegen, von jeher ein Paradegaul, aber immerhin – das Klasseninteresse der Bourgeoisie gebot ihr, die Schulfrage ernster zu nehmen, als es den ostelbischen Junkern lieb ist; sich ihnen auch in dieser Frage zu unterwerfen und die Volksschule mit gebundenen Händen in die Gewalt der Geistlichkeit zu liefern, der sie zu entreißen einst die bürgerliche Ehre war, das ist eine politische Entwürdigung, die sogar in der Geschichte des deutschen Liberalismus ihresgleichen suchen mag.

Die Arbeiterpresse hat den Zusammentritt des preußischen Landtags benützt, um einen heißen Sturm gegen das Klassenwahlrecht zu unternehmen. Mit welchem Erfolg, das wird sich alsbald zeigen. Im „roten Königreich" hat eine sehr lebhafte Bewegung eingesetzt aus dem impulsiven Drucke der Massen heraus; nachdem schon am 19. November in Leipzig eine gewaltige Straßenkundgebung stattgefunden hatte, sind ihr am vorigen Sonntag in anderen sächsischen Städten ähnliche Kundgebungen gefolgt, und in Dresden ist es zu heftigen Zusammenstößen mit der Polizei gekommen, durch deren herausforderndes und täppisches Eingreifen schon Blut geflossen ist. In Sachsen wirkt noch immer der verhältnismäßig frische Eindruck des am Wahlrecht der Arbeiterklasse verübten Raubes nach2; dazu kommt die politische Erbärmlichkeit des Dresdener Geldsackparlaments, das die sächsischen Arbeiter wiederholt aufs schwerste gereizt hat, und endlich spielen alle die anderen reaktionären Bescherungen der letzten Zeit mit, die überall im deutschen Proletariat eine stürmische Bewegung hervorrufen müssen.

Freilich wirken fast alle diese Ursachen auch auf die preußischen Genossen ein, ohne dass sich bisher unter ihnen eine ähnliche elementare Bewegung bekundet hätte wie unter den sächsischen Arbeitern. Darin ein geringeres Interesse für die Ausdehnung des proletarischen Aktionsfeldes zu sehen wäre sicherlich falsch; eher erklärt sich der Unterschied daraus, dass sich die Chancen des Erfolges wesentlich verschieden gestalten in Preußen und in Sachsen. In den deutschen Mittel- und Kleinstaaten sind die herrschenden Klassen gegen eine entschlossene und rücksichtslose Politik der Massen ohnmächtiger und zu dauerndem Widerstand unfähiger als in dem einzigen Großstaat des Reiches, dessen herrschende Klasse, eben das ostelbische Junkertum, sich gerade in dem Dreiklassenparlament verschanzt hat. Ehe diese edle Rasse nicht überhaupt politisch am Boden liegt, ist an eine Beseitigung des preußischen Klassenwahlrechtes nicht zu denken, und so nimmt diese Frage im preußischen Staate ganz andere Dimensionen an als in jedem anderen der deutschen Staaten. Während sie überall sonst doch nur erst ein Vorpostengefecht darstellt, würde sie in Preußen bereits die entscheidende Schlacht sein. Diese klare und auch richtige Einsicht hat die preußische Bewegung gegen das Klassenwahlrecht noch nicht so hell aufflammen lassen wie die sächsische, die guten Grund zu der Hoffnung besitzt, schneller ans Ziel zu gelangen.

Zu alledem steht der Kampf gegen das partikularistische Klassenwahlrecht, so dringend und wichtig er ist, doch an brennendem Interesse zurück gegen die reaktionären Pläne, die im Reichstag gebraut werden. Wo die Arbeiter sich zum äußersten Widerstand rüsten müssen gegen eine Körperschaft, die auf dem allgemeinen Stimmrecht beruht, da tritt die Frage des Wahlrechtes von selbst etwas in den Hintergrund. Vor allem gilt es dann, die Massen wirklich aufzubieten, und wenn nicht alle Anzeichen trügen, ist diese Rekrutierung im schönsten Gange. Fürst Bülow, der heute im Reichstag die „Reichsfinanzreform" in einer unglaublich seichten Weise begründete, spielt noch den Staatsmann mit dem „leichten Herzen", aber die bürgerliche Mehrheit des Reichstags, die seine Späßchen mit ungewohnter Kälte aufnahm, schien schon eher eine Ahnung davon zu haben, welcher Sturm ihr demnächst um die Ohren brausen wird.

In meinen Briefen aus Berlin finden sich gelegentlich Druck- oder Schreibfehler, wie sie unvermeidlich zu sein pflegen, wo der Autor, namentlich wenn er sich nicht der leserlichsten Handschrift erfreut, nicht selbst die Korrektur lesen kann. Acht Tage später solche Fehler zu berichtigen, halte ich für zwecklos, da ich über die Berücksichtigung von Druckfehlerberichtigungen durch die Leser sehr pessimistisch denke. So habe ich auch nicht vor zwei Wochen berichtigt, dass in dem Berliner Brief vor drei Wochen durch einen Satz- oder Schreibfehler von „ihrem nichts durchbohrenden Gefühl" statt von „ihres Nichts durchbohrendem Gefühl" gesprochen wurde. Auch ließ ich die „Freie deutsche Presse", das Organ des Dichters von der Spar-Agnes und der Strampel-Annie, sich gern im Genuss seiner Quartanerbildung sonnen, als es eine eigene „Parteinachricht" über den „nichts durchbohrenden Genossen" fabrizierte, der sich unwürdig gemacht habe, je noch eine Zeile für den Druck zu schreiben. Inzwischen hat aber dieser geistvolle Scherz die Runde durch die kapitalistische Presse gemacht, deren „gebildete" Organe sich wie die Puter aufblähen über das „wissenschaftliche Organ der Sozialdemokratie", das nicht einmal Schiller richtig zitieren könne, und dieser Beweis einer rührenden Bescheidenheit, die sonst wenigstens nicht zu den hervorragendsten Tugenden der kapitalistischen Presse zählt, verdient immerhin eine rühmliche Erwähnung.

1 Das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht, z. B. in Preußen für die Landtagswahlen bis 1918 gültig, war ein indirektes System: Die Urwähler jedes Wahlbezirks wurden nach der Höhe der von ihnen entrichteten Steuern in drei Klassen eingeteilt, deren jede die gleiche Anzahl von Wahlmännern wählte; diese wählten die Abgeordneten.

2 Gemeint ist die Einführung des Dreiklassenwahlsystems nach preußischem Vorbild (s. o.) für die sächsischen Landtagswahlen durch die Änderung der Landtagswahlordnung vom 28. März 1896, nachdem seit 1885 fünf sozialdemokratische Abgeordnete in den sächsischen Landtag gewählt worden waren. Es gelang, die Sozialdemokraten aus dem Landtag zu verdrängen, umso stärker aber wurde die Partei im Lande. Bei den Reichstagswahlen 1903 wurden in sämtlichen sächsischen Wahlkreisen (außer in einem) Sozialdemokraten gewählt („Rotes Sachsen").

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