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Franz Mehring 19050124 Die ersten Schüsse

Franz Mehring: Die ersten Schüsse

24. Januar 1905

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 19, 24. Januar 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 12-14]

Im Hochland fiel der erste Schuss", so rief jubelnd ein Dichter des Proletariats, als 1846 die revolutionäre Lawine in der Schweiz hernieder zu donnern begann. Nicht zwar jubelnd können wir das Gemetzel begrüßen, das die Schergen des Zaren am Sonntag in friedlichen Arbeitermassen angerichtet haben, denn es handelte sich dabei um die, mit demselben Dichter zu sprechen, „vielbeliebten feigen Rückenschüsse", um die Ermordung wehrloser Menschen durch militärisches Gesindel, das vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet war. Aber was wir hoffen und was jeder gesittete Mensch freudigen Herzens hoffen muss, das ist die revolutionäre Erhebung des russischen Volkes, die dem gräuelvollen Blutbade auf dem Fuße folgen sollte und hoffentlich auch folgen wird.

Das Maß des zarischen Despotismus ist voll und übervoll. Ihm ist eine längere Sündenfrist gegeben worden als irgendeinem anderen Despotismus, denn bis zurück auf Iwan den Schrecklichen hat er Schandtaten über Schandtaten gehäuft, so dass auch der historisch geschulte Blick an diesem schwindelnden Gebirge menschlicher oder richtiger teuflischer Ruchlosigkeit erlahmt. Dagegen waren die Sünden des englischen und des französischen Despotismus, die Karl I. und Ludwig XVI. auf dem Blutgerüste büßen mussten, das reine Kinderspiel. Ihr Despotismus, so verabscheuenswert er immer sein mochte, hatte noch diese oder jene Lichtseite; der zarische Despotismus steht dadurch einzig in der Geschichte da, dass er als Gegengewicht für seine ungeheuren Verbrechen an der Menschheit auch nicht das geringste Verdienst um sie in die Waagschale werfen kann.

Es ist deshalb auch nur entweder bürgerliche Heuchelei oder bürgerliche Kurzsichtigkeit, davon zu reden, dass der Zar noch im letzten Augenblicke das richtige Einsehen haben und durch rechtzeitige Reformen die drohende Revolution beschwören solle. Selbst wenn der gegenwärtige Zar nicht ein gedankenloser und nervöser Schwächling wäre, sondern ein nach bürgerlichen Begriffen so genannter „großer Mann", so läge es gar nicht in seiner Macht, den heraufziehenden Sturm zu bannen. Wie soll er denn mit einem Beamtentum reformieren, das seit Jahrhunderten durch und durch korrumpiert worden ist? Man braucht sich nur die französischen Zustände vor dem Jahre 1789 zu vergegenwärtigen – und sie waren, wie gesagt, noch erträglich, verglichen mit den heutigen russischen Zuständen –, um die Unmöglichkeit aller Reformen zu begreifen, wenn die Verwesung einmal einen gewissen Grad erreicht oder, wie in Russland, längst überschritten hat. Kein Mensch, der je mit einigem Verständnis die Geschichte der Französischen Revolution studiert hat, wird sich der törichten Einbildung hingeben, dass für das damalige Königtum und den damaligen Hof und das damalige Beamtentum irgendeine Möglichkeit bestanden hätte, auf „friedlichem" und „gesetzlichem" Wege das feudale in das moderne Frankreich umzuwandeln.

Viel eher liegt – vom Standpunkt einer herrschenden Klasse aus, die unaufhaltsam ihrem Untergange entgegeneilt – eine gewisse Logik in dem Worte: Nach uns die Sintflut!, das bekanntlich einer Mätresse Ludwigs XV. in den Mund gelegt wird. Eine solche Klasse fühlt instinktiv, dass sie verloren ist, wenn sie der historischen Entwicklung irgendwelche Zugeständnisse zu machen beginnt, und so sucht sie sich wenigstens so lange als möglich zu erhalten, indem sie sich krampfhaft an die Macht klammert, die sie noch besitzt. Nach diesem Rezept verfährt jetzt auch der zarische Despotismus, und wenn einmal die Lage gegeben ist, worin er sich augenblicklich befindet, so handelt er von seinem Standpunkte aus gar nicht so unvernünftig, wie sich die bürgerlichen Kannegießer einbilden. Schon bei den Vorgängern des Zaren war es eine beliebte Redensart: Auf keinen Fall Notabeln, das heißt: Auf keinen Fall die Einberufung von Vertrauensmännern aus dem Lande, die die Regierung beraten sollen. Der zarische Despotismus prallt vor dieser denkbar gelindesten Reformmaßregel zurück, weil Ludwig XVI. auch mit der Einberufung von Notabeln begann, um ein halb dutzend Jahre später unter dem Messer der Guillotine zu enden.

Soll also das russische Volk und soll überhaupt die gesittete Welt von dem fürchterlichen Alp des zarischen Despotismus befreit werden, so ist es durchaus nicht zu wünschen, dass Väterchen noch Räson annimmt, ehe es zu spät ist. In diesem Punkte kann man sich ja auch auf ihn verlassen, und so bleibt nur der aufrichtige Wunsch übrig, dass die revolutionären Flammen seinen vermorschten Thron so bald als möglich verzehren mögen. Die russische Revolution hat begonnen, und je schneller sie vorwärts marschiert, desto besser wird es für das russische Volk sein, und heller noch als einst die Französische Revolution wird sie den gequälten Völkern als das Morgenrot eines neuen weltgeschichtlichen Tages erscheinen.

Es gehört zu den tiefsten Worten von Karl Marx, dass die Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte seien.1 Sie schaffen in Tagen und Wochen, was sonst mühsam in Jahren und Jahrzehnten unter tausend Stockungen und Rückfällen geschafft werden muss. Seit mehr als dreißig Jahren haben wir keine revolutionäre Ära in Europa gehabt, und die Revolutionen aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren Revolutionen von oben, die immer doch nur Karikaturen der Revolutionen von unten sind. Von solchen Revolutionen haben wir seit dem Jahre 1848 keine gesehen. Damals brach sich die revolutionäre Woge an dem ehernen Felsen des zarischen Despotismus; heute bricht dieser Felsen selbst unter der revolutionären Flut zusammen, die sich nun von Osten über Europa wälzen wird.

In den fast zwei Menschenaltern seit 1848 haben die europäischen Völker oder wenigstens ihre arbeitenden Klassen viel gelernt. Sie sind sich vor allem klar geworden über das historische Wesen der Revolutionen. Eröffnet die russische Revolution eine neue Ära, in der es wieder einmal mit raschen Schritten vorwärts geht, so wird es kein „tolles Jahr", sondern ein sehr vernünftiges Jahr geben. Und am Ende ist es die ganz richtige Erkenntnis dieser Tatsache, die den bürgerlichen Politikern den utopischen Wunsch einflößt, dass der zarische Despotismus durch „Reformen" noch in zwölfter Stunde den Ausbruch der russischen Revolution vermeide.

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