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Franz Mehring 19050329 Ein Bild der Zeit

Franz Mehring: Ein Bild der Zeit

29. März 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 23-27]

Nicht weniger als vier Parlamente tagen augenblicklich in der deutschen Reichshauptstadt. In dem ehrwürdigsten von ihnen, wo die Creme der herrschenden Klassen ganz unter sich ist, eine holde Dreieinigkeit von erbgesessenem Großgrundbesitz, kapitalistischem Stadtklüngel und patentierter Gelehrsamkeit, werden begreiflicherweise auch die ehrwürdigsten Probleme erörtert. Man erwog heute in den prunkenden Hallen des preußischen Herrenhauses, ob es sich nicht empfehle, den Patriotismus durch üppigere Verteilung von Ordensdekorationen an kleine Leute zu stärken, und ob es kein Mittel dagegen gebe, dass bei Überfüllung der Eisenbahnzüge in den Abteilen erster Klasse Reisende untergebracht würden, die zur misera contribuens plebs1 gehören, zu dem elenden Pöbel, der Steuern zu zahlen, Soldat zu werden und den Mund zu halten hat.

Nach dem preußischen Herrenhaus das preußische Abgeordnetenhaus! Es ist lange nicht so aristokratisch und lange nicht so vornehm, aber auf der Höhe eines riesigen Geldsacks thront es noch immer hoch über dem gemeinen Pack der Sterblichen. Und so ergeht es sich mit spitzen Stachelreden gegen die Regierung, die ihm einige Schaumklöße auf den Tisch gesetzt hat, zum Preise und Ruhme des „Sozialen Königtums"2, das nach bekannter Melodie in der Hohenzollerndynastie verwirklicht sein soll. Das hohe Haus liebt diese Melodie nicht, mit der es nun manches Jahrzehnt schon angeödet worden ist. Im vorigen Monat waren es gerade vierzig Jahre, als sie innerhalb seiner vier Wände zum ersten Mal von Bismarck angestimmt wurde und Schulze-Delitzsch ihm unter tosendem Beifall der Mehrheit zurief: Entfesseln Sie die Bestie nicht! Seit vierzig Jahren haben sie nichts gelernt und nichts vergessen, weder die einen noch die anderen. Die preußischen Minister preisen die rois des gueux, die Könige der Armen, und das preußische Geldsackparlament zwickt sie derbe, weil sie dadurch angeblich der sozialdemokratischen Agitation den Weg bereiten wollen. Dass die „Entfesselung der Bestie" vor vierzig Jahren von einer liberalen Mehrheit abgelehnt wurde und heute von einer konservativen Mehrheit abgelehnt wird, ist unter den Brüdern vom heiligen Geldsack ganz egal.

Folgt der deutsche Reichstag, der nun schon viel plebejischer ist als die beiden Häuser des preußischen Landtags, aber doch noch eine offizielle Körperschaft darstellt. In ihm kann die Stimme der Nation laut werden, aber sie wird wieder und wieder erstickt durch den satten Hohn der Satten, die die hungernden Massen immer noch zu ihren Vertretern wählen, uneingedenk des warnenden Wortes: Nur die allergrößten Kälber wählen ihren Metzger selber. Nichts ist leichter, als satte Bäuche zu selbstzufriedener Heiterkeit zu kitzeln, und diese einfache Tatsache begriffen zu haben macht das Genie und den Ruhm des gegenwärtigen Reichskanzlers aus. Das konnte keiner seiner Vorgänger. Sie dachten, jeder in seiner besonderen Art, Bismarck wie Caprivi wie Hohenlohe, von ihrem Amte zu hoch, als dass sie ihre Aufgabe darin gesehen hätten, mit ihrem Auftreten auf der parlamentarischen Bühne den Anstoß zur allgemeinen Fidelitas zu geben. In diesem Punkte ist Graf Bülow zweifellos ein bahnbrechender Politiker, und es besteht einiger Grund zu der Vermutung, dass sein mit einem gewissen Raffinement ausgebildeter und heute wieder ausgeübter Spezialsport, über die wuchtigsten Ausführungen Bebels mit der Beweglichkeit einer schillernden Seifenblase hinweg zu gaukeln, ihn in den Tagen des Zickzackkurses zu einer Art ruhenden Poles in der Erscheinungen Flucht macht.

Endlich das vierte Parlament, das gegenwärtig in Berlin tagt, ist ganz illegitimen Ursprungs, und jede offizielle Persönlichkeit flieht ängstlich seine Schwelle. Aber hier, auf dem Bergarbeitertag, ist Feuer und Kraft und Leben, hier ist eine große Zukunft. Mitten in das moderne Leben, mitten in das Spiel der großen Produktivkräfte, die mit Riesenhebeln eine neue Welt schaffen, führen seine Verhandlungen; sie reißen den Schleier von allem Lug und Trug, womit der Eigennutz der herrschenden Klassen den geschichtlichen Fortschritt absperren oder doch verzögern will; sie stellen klar und scharf die Aufgaben, die vom „Sozialen Königtum" gelöst werden müssten, wenn es etwas anderes wäre oder sein könnte als eine oratorische Schaumschlägerei. Der Bergarbeitertag ist ein echtes Parlament von Proletariern, die das, was sie sonst trennen mag in ihren politischen oder religiösen Anschauungen, bereitwillig hintansetzen, um die Interessen der Arbeit gegen die Übergriffe des Kapitals zu verteidigen. Er ist kein revolutionärer Konvent und will auch gar keiner sein; er diskutiert und beschließt nur, was sich ausführen ließe, auch ohne dass die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft erschüttert würden, aber was sich doch nicht ausführen lässt, weil die kapitalistische Gesellschaft nun einmal die kapitalistische Gesellschaft ist. Das verrät sich in der bangen Scheu, womit die Vertreter des „Sozialen Königtums" an dem Bergarbeitertag vorbei schleichen; das verrät sich noch mehr in dem glorreichen Scherze des Reichskanzlers, ein langes und breites über die Unmöglichkeit des so genannten „Zukunftsstaats" zu deklamieren, zur selben Zeit, wo die Bergarbeiter gründlich, klar und unwiderleglich nachweisen, dass sie vom „Sozialen Königtum" mit Schaumklößen abgespeist werden sollen.

Man muss auch gegen seine Gegner gerecht sein, und so glauben wir nicht, dass der Reichskanzler mit dem Getratsche über die Utopie des sozialdemokratischen Zukunftsstaats, das er – wenn er es ernsthaft gemeint hätte, wie er es gewiss nicht gemeint hat – doch nur seinem intimen Seelenfreunde Eugen Richter abgemaust haben würde, wirklich den Reichstag hat erleuchten wollen. Diesem geistreichen Kopfe ist nicht zuzutrauen, dass er der Volksvertretung „einen beschnüffelten und beleckten Brei, der längst der Katze vorgesetzt ist, in den Mund schmieren" wolle – als zitatenfroher Mann wird es uns der Reichskanzler nicht verübeln, wenn wir trotz des „schlechten Tones" einmal Lessing zitieren. Er hat mit seinem Plagiat an Eugen Richter nur dem Bergarbeitertage eine versteckte, aber doch deutliche Antwort geben wollen; er hat ihm sagen wollen: Begnügt euch mit dem, was euch das „Soziale Königtum" bietet, und fordert nicht Dinge, die es euch nicht geben kann. Darauf könnte nun allerdings der Bergarbeitertag ein Plagiat an Fichte begehen, dem Lieblingsdenker des Reichskanzlers, dem er sogar ein Denkmal in Berlin errichten will, was er unseres Wissens nicht einmal für seinen intimen Seelenfreund Eugen Richter plant; der Bergarbeitertag also könnte mit Fichte zum Grafen Bülow sprechen: „Wo der eigentliche Streitpunkt zwischen uns liegt, das kann ich euch wohl mitteilen. Ihr wollt es freilich nicht ganz mit der Vernunft, aber auch nicht ganz mit eurem wohlgefälligen Freunde, dem Schlendrian, verderben. Ihr möchtet wohl gern ein wenig vernünftig handeln, aber um Himmels willen nicht ganz. Ihr bleibt dabei, unsere Forderungen ließen sich einmal nicht ins Leben einführen. Das meint ihr denn wohl nur unter der Bedingung, wenn alles so bleiben soll, wie es jetzt ist. Aber wer sagt denn, dass es so bleiben solle? Wer hat euch denn zu eurem Ausbessern und Stümpern, zu eurem Aufflicken neuer Stücke auf den alten zerlumpten Mantel, zu eurem Waschen, ohne einem die Haut nass machen zu wollen, gedungen? Wer hat denn geleugnet, dass die Maschine dadurch völlig ins Stocken gerate, dass die Risse sich vergrößern, dass der Mohr wohl ein Mohr bleiben werde? Sollen wir den Esel tragen, weil ihr Schnitzer gemacht habt. Aber ihr wollt, dass alles hübsch bei dem alten bleibe; daher euer Widerstreben, daher euer Geschrei über die Unausführbarkeit unserer Forderungen. Nun, so seid wenigstens ehrlich und sagt nicht weiter: wir können eure Forderungen nicht ausführen, sondern sagt gerade wie ihr's meint: wir wollen sie nicht ausführen." Und wenn der Bergarbeitertag dem Reichskanzler so antworten würde, so würde er das „Soziale Königtum" und dessen neueste Gabe, die Novelle zum Berggesetz, erschöpfend gekennzeichnet haben.

Es ist merkwürdig, wie tief der Aberglaube an die Allmacht und die Allweisheit der Regierung noch immer in den Massen wurzelt. Nachdem der Streik im Ruhrrevier mit der ganzen Kraft einer elementaren Naturgewalt losgebrochen war und sich an dem so böswilligen wie hartnäckigen Widerstand der Grubenlords zur Siedehitze gesteigert hatte, genügt gleichwohl die Versicherung der Regierung, dass sie der Beschwerde der Bergarbeiter abhelfen werde, um Öl auf die erregten Wogen zu gießen. Gewiss, nicht alle streikenden Bergarbeiter wurden dadurch irregeführt, aber doch ein mehr oder minder großer Teil von ihnen und namentlich die öffentliche Meinung, soweit sie von der bürgerlichen Presse fabriziert wird. Es wurde geradezu zu einer Art Hochverrat und Majestätsverbrechen gestempelt, daran zu zweifeln, dass nunmehr die Karre im richtigen Geleise sei, und den sozialdemokratischen Blättern wird es ja jetzt noch zum Vorwurf gemacht, dass sie den Kopf oben behielten. Und doch musste die einfachste Überlegung, musste die flüchtigste Erinnerung an eine vierzigjährige Geschichte und speziell noch an den Bergarbeiterstreik im Jahre 1889 ausreichen, um erkennen zu lassen, dass die Regierung gar nichts anderes tun werde, als was Fichte „ein Ausbessern und Stümpern", „ein Aufflicken neuer Stücke auf den alten zerlumpten Mantel" nennt.

Die Frage ist auch keineswegs damit erledigt, dass zur Entschuldigung der Regierung eingewandt wird, sie könne als Exekutivkomitee der herrschenden Klassen doch nicht über ihren Schatten springen. Gewiss kann sie das nicht, allein solche halsbrecherische Sachen mutet ihr auch niemand zu. Aber innerhalb ihrer historischen Schranken vermag sie allerdings viel mehr durchzusetzen, als sie in der Novelle zum Berggesetz geleistet hat, und das „Soziale Königtum", soweit es überhaupt denkbar und möglich ist, braucht an sich noch keineswegs solch geflicktes und gestümpertes Königtum zu sein, wie es sich in dieser Novelle darstellt. Dies aufgedeckt und bis ins Einzelnste hin nachgewiesen zu haben ist das große Verdienst des Bergarbeitertages, und man mag wohl verstehen, dass der Reichskanzler darüber etwas unwirsch geworden ist und sich nicht anders zu helfen gewusst hat, als über den sozialdemokratischen „Zukunftsstaat" ins Blaue hinein zu räsonieren.

Die einzige Entschuldigung, die man zu seinen Gunsten anführen kann, mag die Tatsache sein, dass es ihm an der nötigen Energie und Einsicht fehlt. Aber in der Politik ist Unfähigkeit kein mildernder, sondern ein erschwerender Umstand, und das „Soziale Königtum", das durch einen so unzureichenden Anwalt vertreten wird, täte wohl daran, lieber heute als morgen abzudanken. Es lockt doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor, geschweige denn, dass die Arbeiter sich durch das abgehauste Schlagwort über ihre wahren Interessen blenden lassen.

Das hat der Bergarbeitertag von neuem gezeigt, und es ist ein Bild der Zeit, wie dies proletarisch-illegitime Parlament neben den offiziellen Körperschaften der kapitalistischen Gesellschaft tagt, um sie alle intellektuell wie moralisch zu überflügeln.

1 misera contribuens plebs (lat.) – die elende wehr- bzw. steuerpflichtige Masse.

2 Dass das „soziale Königtum" in der Hohenzollerndynastie verwirklicht wäre, war eine der geschichtsklitternden Legenden, die auch von den so genannten Katheder- oder Staatssozialisten verbreitet wurde. Sie beriefen sich dabei vor allem auf den „aufgeklärten Despotismus" Friedrichs II. von Preußen. Mehring hat der Zerstörung dieser wie vieler anderer preußischer Legenden viele seiner historischen Arbeiten gewidmet. Siehe vor allem „Die Lessing-Legende", Bd. 9 der „Gesammelten Schriften" (insbes. Kap. VII), Dietz Verlag, Berlin

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