Franz Mehring‎ > ‎1905‎ > ‎

Franz Mehring 19051213 Ein isolierter Europäer

Franz Mehring: Ein isolierter Europäer

13. Dezember 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 377-380. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 107-111]

Seit acht Tagen verhandelt der Reichstag über den Etat, die Reichsfinanzreform und die Flottenvorlage, und er wird noch ein paar Tage an diese Debatten wenden, ehe er in die Weihnachtsferien geht. Die neuen Steuervorlagen sollen erst nach Neujahr an die Reihe kommen, und früher wird sich kein klares Bild darüber gewinnen lassen, wie sich die bürgerlichen Parteien im Einzelnen dazu stellen. Vorläufig findet jede Partei mehr als ein Haar in dem Ragout des Herrn Stengel, der gleichwohl noch unverzagt ist und es bei dem Charakter der bürgerlichen Volksvertreter auch sein kann. Ungern genug gehen diese braven Patrioten an die heiße Schüssel, aber sie müssten über Nacht den alten Adam vom Kopfe bis zur Zehe ausgezogen haben, wenn die Geschichte nicht damit enden sollte, dass die arbeitenden Klassen abermals die Zeche zahlen müssen.

Dagegen haben die Reichstagsverhandlungen der vergangenen Woche darüber schon völlige Klarheit geschaffen, dass Herr Tirpitz die neuen Kähne, die er verlangt, in den Hafen bringen wird. In der Flottenfrage ist auch die bürgerliche Linke gänzlich umgefallen, wie es nach den Kundgebungen ihrer Presse nicht anders zu erwarten war. Sie kämpft nur noch um die – von der offiziösen Presse kategorisch abgelehnte – Forderung, die Flottenvorlage nicht auf einmal, sondern Stück für Stück zu bewilligen, je nachdem der Bau der geforderten Schiffe begonnen werden kann. Dadurch soll wenigstens das „Budgetrecht" des Reichstags gewahrt werden, was soweit ganz schön wäre, wenn diese Helden sich nicht mit den feierlichsten Schwüren verpflichteten, dies „Budgetrecht" nicht zu gebrauchen, sondern in der Zukunft alles zu bewilligen, was die Regierung schon für die Gegenwart fordert. Herr Payer erklärte sich sogar nur deshalb gegen die „Bindung auf Jahre hinaus", weil darin ein „Misstrauensvotum für den künftigen Reichstag" liege. In der Tat, welch glorreiche Politik! Das „Budgetrecht" des Reichstags soll gewahrt werden aus patriotischer Empfindlichkeit darüber, dass die Regierung einen künftigen Reichstag im Verdacht haben könnte, von dem also gewahrten „Budgetrecht" wirklichen Gebrauch zu machen.

Deshalb soll nicht verkannt werden, dass der Redner der Deutschen Volkspartei immerhin kräftiger sprach als der Redner der Freisinnigen Volkspartei, Herr Müller-Sagan, der es wirklich fertig bekommt, eine ebenso klägliche Kopie Eugen Richters zu sein, wie Eugen Richter eine klägliche Kopie der Hoverbeck und Waldeck war. Herr Payer traf es ganz gut mit den Worten, dass nicht die Volksleidenschaften, sondern Ungeschick und Frivolität der Diplomatie die Hauptschuld an der gefährlichen Spannung dieses Sommers getragen hätten; er meinte, das ganze geheimnisvolle Dunkel müsse gelichtet werden, womit sich die Diplomatie zur Erzeugung eines künstlichen Nimbus umgebe. „Unsere deutsche auswärtige Politik trägt seit Jahrzehnten den Charakter des Unruhigen, Nervösen, Zerfahrenen. Überall sind wir auf dem Markt; immer sind wir bereit, die anderen Nationen, ohne dass sie uns gefragt haben, zu schulmeistern. Nie sind die anderen Völker vor uns sicher, dass sie nicht von uns einen Tadel oder ein übel angebrachtes Kompliment bekommen. Wir sind nicht nur klug und weise, sondern sind uns dessen auch bewusst und sagen es so oft, dass es den anderen schon auf die Nerven fällt. Welche Verdienste könnte sich die auswärtige Politik Deutschlands um das deutsche Vaterland erwerben, wenn wir endlich ein Vierteljahrhundert auch anderen das Wort ließen." Das trifft den Nagel auf den Kopf, jedoch umso unverständlicher ist es, dass Herr Payer die unausbleiblichen Folgen dieser von ihm so trefflich gekennzeichneten Hansdampfpolitik durch den Bau neuer Kriegsschiffe beseitigen will.

Versteht sich, dass auch der Reichskanzler sein Sprüchlein über die auswärtige Politik sagte. Er spann den Faden weiter, den die Thronrede angeknüpft hatte: halb verkannte Unschuld, die unter den „Vorurteilen gegen die Fortschritte deutschen Fleißes" zu leiden hat, halb Säbelrassler, der im Notfall eine ganze Welt in Waffen besiegen will, dazu dann „Cecils geheimnisreiche Miene", die nicht alles verraten kann, was in den diplomatischen Akten geschrieben steht. Neues hat Bülow denn auch nicht gesagt, wohl aber Törichtes. Während er über die „Isolierung" Deutschlands jammert, hält er es für angezeigt, mit hochmütigen Redensarten – und nicht zum ersten Mal – die anderen Mächte des Dreibundes1 vor den Kopf zu stoßen, so dass die italienische und die österreichische Presse über seine rednerischen Leistungen kaum weniger abfällig urteilt als die englische und die französische. Er ist schon ein Diplomat, wie er im Buche steht, dieser gefürstete Politiker.

Auch mit seiner Marokko-Politik kann der Reichskanzler keinen Staat machen, obgleich er sie im Reichstag herauszustreichen suchte wie ein seidenes Tuch. Selbst die „Frankfurter Zeitung", deren Berliner Korrespondent der Offiziöseste unter den Offiziösen ist, die im Reichskanzlerpalast antichambrieren, muss anerkennen, dass der Gegensatz zwischen der Haltung der Reichsregierung unmittelbar nach dem französisch-englischen Abkommen vom 8. April 1904 und ihrem jähen Auftreten im März dieses Jahres in Tanger2 nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen sei. Zudem habe Frankreich durch die Entlassung Delcassés und die Zustimmung zur Marokko-Konferenz seine Bereitwilligkeit erklärt, den europäischen Frieden zu erhalten, was immerhin unter den obwaltenden Umständen nicht geringe Opfer der französischen Regierung gewesen seien, und da könne man es der ausländischen Presse nicht verdenken, wenn sie hinter Bülows fortwährendem Jammern über „feindselige Stimmungen", über „Feindseligkeit und Missgunst" anderer Völker mehr suche als eine bloße Redseligkeit oder die Kunst, für die eigenen Fehler andere verantwortlich zu machen. Freilich steht die „Frankfurter Zeitung" mit diesem Urteil sehr einsam in der bürgerlichen Welt und selbst in der bürgerlichen Linken; Herr Müller-Sagan schwärmt für Bülows Marokko-Politik, über deren „lapidaren" und „monumentalen" Charakter sich speziell die Blätter des Berliner Freisinns nicht zu lassen wissen.

Umso dankenswerter und notwendiger war es, dass Bebel im Reichstag der Katze die Schelle anhing und eine gründliche Abrechnung, vom Standpunkt der arbeitenden Klassen, mit dem ganzen System Bülow hielt. Er schloss mit der wuchtigen Erklärung, dass die deutschen Arbeiter sich nicht zu Heloten und Staatsbürgern zweiter Klasse herabdrücken lassen und sich im gegebenen Falle überlegen würden, ob sie ein Vaterland zu verteidigen brauchten, das sie nicht lieben könnten. Nach dieser Kennzeichnung seiner Säbelrasselei brauchte Bülow vierundzwanzig Stunden, um eine Antwort zu finden, und kam dann glücklich mit dem – Staatsanwalt angezogen, der wegen Landesverrats in Aktion treten solle, wenn Bebels Äußerung außerhalb der parlamentarischen Immunität von sozialdemokratischer Seite wiederholt werden sollte. Das ist erhaben, das ist groß, das ist eine Politik, die Herr Müller-Sagan nur noch auf den Knien bewundern kann, und in der Tat sammelt dieser freisinnige Held in seinem Blättchen, das leider nur noch anderthalb Dutzend Abonnenten zählt, jeden Tag „revolutionäre" Äußerungen der Arbeiterpresse, um sie dem Reichskanzler zu apportieren.

Bülow aber verkündet: Solange ICH an dieser Stelle stehe, lasse ich mir von der Politik der Hasenheide nicht dreinreden; er macht so eine geistreiche Anspielung darauf, dass der Saal, worin Jaurès vergangenen Sommer sprechen sollte, in der Hasenheide liegt. Bülow hat auch ganz recht: Er treibt vielmehr die Politik der Hasenjagd von Jena, auf der seine Vorfahren vor demnächst hundert Jahren so tapfer ausgerissen sind. Ganz wie diese Biedermänner sieht er im Volke nur eine Hammelherde, die mit ihrem Blut und ihren Knochen für jeden Krieg aufzukommen hat, den die Junker aus Bosheit oder Dummheit anzetteln. Allerdings sprach Bülow nur von „freventlich aufgedrängten Kriegen", denn andere würden „wir" nicht führen. Allein das ist Hose wie Jacke. Um einen frivol vom Zaune gebrochenen Krieg in einen „freventlich aufgedrängten Krieg" zu verwandeln, dazu langt's bei den ostelbischen Junkern noch allemal, wie sich im Juli 1870 gezeigt hat.3 Deshalb müssen ihnen die Arbeiter umso sorgfältiger auf die Finger passen. ,

Unbeschadet des Staatsanwalts, den Bülow wegen Landesverrats gegen sie loslassen will. Als Jurist ist er ebenso bahnbrechend wie als Diplomat. Formell gewährt die Reichsverfassung dem Kaiser das Recht, im Namen des Reichs Krieg zu erklären; er ist nur an die Zustimmung des Bundesrats gebunden, und selbst nicht einmal an sie, wenn ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Allein zum Kriegführen gehört noch immer nach dem Worte Montecuccolis Geld, Geld und abermals Geld, und dies Geld ist nur vom Reichstag zu haben. Verweigert er es, so hat der Kaiser sein Recht verloren, Krieg zu führen. Dies ist eben auch verfassungsmäßiges Recht, und im Dezember 1870 haben es die sechs sozialdemokratischen Abgeordneten, die damals im Norddeutschen Reichstag saßen, gebraucht, um die Gelder zur Fortführung des Krieges in Frankreich zu verweigern. Zwei von ihnen, Liebknecht und Bebel, sind damals zwar wegen Hochverrats angeklagt worden, aber auf irgendwelchen anderen Unsinn hin; die Behauptung, dass sie Hoch- oder Landesverrat begangen hätten, indem sie als Reichstagsabgeordnete die Mittel zum Kriegführen verweigerten, hat selbst Bismarck nicht aufzustellen gewagt. Dieser Rückschritt auf die Tage vor Jena zu ist allein dem Genie des gegenwärtigen Reichskanzlers geschuldet.

Je mehr er aber durch seine launenhaft-wetterwendische Politik die deutschen Interessen geschädigt hat, umso notwendiger ist es für die deutschen Reichstagswähler, sich den Anteil an der Entscheidung über Krieg und Frieden zu sichern, den sie jetzt schon verfassungsmäßig besitzen. Sie wären Toren, wenn sie von diesem Anteil auch nur ein Atom an einen Diplomaten preisgeben wollten, der in dem Maße isolierter Europäer ist wie gegenwärtig der Fürst Bülow. Jedoch auch davon abgesehen ist es nachgerade die höchste Zeit, mit dem dreisten und völlig haltlosen Anspruch der herrschenden Klassen aufzuräumen, dass ihnen die ausschließliche Entscheidung über Krieg und Frieden zustehe und die arbeitenden Klassen bei Strafe des Hoch- oder Landesverrats daran nicht rütteln dürfen. Das mag vor hundert Jahren so gewesen sein, aber so elend ist die deutsche Reichsverfassung bei alledem nicht, dass sie nicht auch den unterdrückten Klassen bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit gewährte, in Dingen mitzureden, bei denen es sich in erster Reihe um ihren Kopf und ihren Körper handelt.

Tatsächlich reicht diese Möglichkeit aber noch weiter als verfassungsmäßig. Noch ist die Kunst nicht erfunden, wider den entschlossenen Willen der großen Masse einen modernen Krieg zu führen, und Bülow sieht nicht danach aus, als ob er sie erfinden würde. Es ist im Grunde die reine Verlegenheit, die ihn nach dem Staatsanwalt rufen lässt, da er sich sonst nicht zu helfen weiß; um so mehr aber wird dem europäischen Frieden genützt sein, wenn die Arbeiterklasse in Deutschland diesen angenehmen Politiker so zu „isolieren" weiß, wie er die offizielle Reichspolitik in Europa „isoliert" hat.

1 Dreibund – das zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien am 20. Mai 1882 abgeschlossene, erst 1883 bekannt gewordene und immer erneut, zuletzt 1912 verlängerte Bündnis.

2 Gemeint ist der Besuch Wilhelms II. in Tanger (Mai 1905), um dem Anwachsen des französischen Einflusses in Marokko vorzubeugen. Er führte zur so genannten ersten Marokko-Krise, die erst mit der Konferenz von Algeciras im April 1906 endete (s. Anm. 36).

3 Um Frankreich zum Kriege zu provozieren, übergab Bismarck den telegrafischen Bericht über die Unterredung zwischen König Wilhelm von Preußen und dem französischen Gesandten Benedetti in Ems, gekürzt und entstellt, an die Presse.

Kommentare