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Franz Mehring 19051227 Ein Jahr der Revolution

Franz Mehring: Ein Jahr der Revolution

27. Dezember 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06. Erster Band, S. 441-443. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 112-115]

In den Jahrbüchern der Weltgeschichte wird sich das Jahr 1905 ebenbürtig neben jede Jahresziffer stellen, von der eine neue Epoche der menschheitlichen Entwicklung datiert. Dies Jahr kennzeichnet den Anfang einer Revolution, die, wie viele Phasen sie noch durchlaufen mag, wie Sieg und Niederlage in ihr wechseln mögen, dennoch nicht enden wird, ohne das Antlitz der zivilisierten Welt von Grund aus umgewandelt zu haben.

Augenblicklich triumphieren die Helden der Ordnung, was sich im kapitalistischen Zeitalter so Ordnung nennt, über die Niederlage der russischen Revolutionäre in Moskau. Aber die russische Revolution hat längst bewiesen, dass sie einen langen Atem hat, dass jeder Widerstand, auf den sie stößt, nur eine verdoppelte und verdreifachte Kraft in ihr entwickelt. Selbst die pfiffigeren Köpfe der „einen reaktionären Masse", die sich heute an dem hauenden Säbel und der schießenden Flinte der zarischen Schergen ergötzt, gestehen seufzend, dass „Jahre der Anarchie" folgen werden, das will sagen, Jahre der Wehen, in denen sich die Geburt einer neuen Welt vollzieht. Und als der Geburtstag dieser neuen Welt wird immer das Jahr gelten, das nun im Schoße der Zeiten versinkt, ähnlich wie wir ein Jahrhundert der gewaltigsten Umwälzungen nach dem Jahre 1789 kennen, das auch noch nicht über die französischen Grenzen hinausgriff, über die Grenzen des einzelnen Landes, von dem aus die damalige Revolution ihren Weltengang antrat.

Wie bitteren Spott fordern doch die armseligen Toren heraus, und mögen sie sich auch als geniale Staatsmänner aufspielen, die sich einbilden, die russische Revolution werde an den russischen Grenzen ihre historische Schranke finden, die sich in der blassen Renommisterei gefallen, sie würde niemals die wohl verrammelten Tore des Deutschen Reiches einrennen. Als ob sie nicht längst in ihrer feurigen Gestalt durch diese Tore gewandelt wäre, als ob die deutsche Arbeiterklasse nicht längst in ihr lebte und webte, als ob es eine irdische Macht gäbe, die aus dem Herzen des deutschen Proletariats je die stolze Zuversicht auf den Sieg dieser Revolution reißen könnte, als ob die russische Revolution, wenn das dreiste Lästermaul beliebiger Junker ihre Helden als „Schnorrer und Verschwörer" schmäht, nicht mit dem deutschen Dichter antworten dürfte:

Ihr Blöden, wohn' ich denn nicht auch, wo eure Macht ein Ende hat?

Bleibt mir nicht hinter jeder Stirn, in jedem Herzen eine Statt?

In jedem Haupt, das trotzig denkt? das hoch und ungebeugt sich trägt?

Ist mein Asyl nicht jede Brust, die menschlich fühlt und menschlich schlägt?

Nicht jede Werkstatt, drin es pocht? nicht jede Hütte, drin es ächzt –

Bin ich der Menschheit Odem nicht, die rastlos nach Befreiung lechzt?

Sie sprechen wie die Blinden von der Farbe, die Neunmalweisen, die innerhalb der deutschen Grenzen nichts anderes hören als das gemütliche Schnarchen des Philisters, der sei' Ruh' haben will, und nichts anderes sehen als den trübe stagnierenden Sumpf patriotischer Selbstgenügsamkeit, die keinen anderen Störenfried erblicken als das „maßlose Treiben" der sozialdemokratischen Presse. Dies „maßlose Treiben" gibt nur einen unendlich schwachen Begriff von dem, was heute in den Massen des deutschen Proletariats empfunden und gedacht wird. Den deutschen Arbeitern spricht ihre Presse nicht zu wild, sondern viel zu zahm; sie selbst würden noch ganz anders drein wettern, und sie werden eine ganz andere Fraktur reden, sobald die Zeit gekommen ist. Denn ihre Geduld ist lange erschöpft, und jeder Muskel in ihnen zuckt, das qualvolle Joch abzuwerfen, das ihre Schultern seit Jahren und Jahrzehnten wund und wunder drückt.

Die deutschen Liberalen aber präsentieren sich wieder einmal in ihrer ganzen Feigheit, sei es, indem sie die Arbeiterblätter wegen deren „revolutionären" Haltung denunzieren, sei es, indem sie väterlich warnen, doch ja keine Sprache zu führen, die das Gesindel der reaktionären Scharfmacher reizen könne. Diese Warnung ist nicht so verächtlich, aber für die Gewarnten fast noch beleidigender als jene Denunziation. Ihre Sympathie mit ihren russischen Brüdern, unter deren gewaltigen Streichen die letzte Zwingburg des Selbstherrschertums krachend zusammenbricht, sollen die deutschen Arbeiter verhehlen oder doch nur so verstohlen bekunden, dass ein beliebiges Pack von Schlot- und Zaunjunkern, von reaktionären Zungen- und Tintenkulis keinen Anstoß daran nimmt. Zu welchem Kehricht diese bürgerlichen Helden doch ihre eigenen bürgerlichen Rechte machen! Eine Pressfreiheit von Gnaden eines Kardoff oder Stoecker, das ist nunmehr ihr Ideal, und das Ideal wollen sie den deutschen Arbeitern aufdrängen, zur Zeit, wo ein revolutionäres Gewitter endlich den dürstenden Boden des internationalen Proletariats tränkt.

Die Reaktionäre versichern dagegen mit komischer Großmut, dass sie „einstweilen" noch nicht an neue Ausnahmegesetze dächten. Wie überaus gnädig und – wie überaus vorsichtig! Sie haben doch noch lange nicht die Schläge verwunden, die ihnen das Sozialistengesetz eingebracht hat, und sie geben sich hoffentlich nicht der törichten Erwartung hin, dass der Spaß ihnen diesmal billiger zu stehen kommen würde. Es würde sie zehn-, es würde sie hundertmal soviel kosten. Wenn sie jetzt also unter prahlerischen Redensarten darauf verzichten, Öl in das Feuer zu gießen, das ihnen schon unter den Sohlen brennt, so beweisen sie damit nur, dass die Klassenselbstsucht sie noch nicht völlig über ihren eigenen Vorteil verblendet hat. Sie erweisen sich damit einen Dienst, sich und ihrer verrotteten Gesellschaftsordnung, nicht aber der deutschen Arbeiterklasse, die wahrlich nicht würdig wäre, an die Seite ihrer russischen Brüder zu treten, wenn sie nicht mit jedem noch so frechen Attentat fertig zu werden wüsste, das die Gehirnchen deutscher Land- und Schlotjunker gegen sie ersinnen könnten.

Nicht auf diese halben Freunde und ganzen Feinde richtet die deutsche Arbeiterklasse an der Jahreswende ihren Blick, sondern auf die großen Aufgaben, die ihrer in der Zukunft harren. Die russische Revolution ist eine internationale Revolution, und wie in ihr das russische Proletariat die Führung an sich gerissen hat, so wird sie nach und nach das Proletariat der zivilisierten Welt auf die Schanzen rufen. Nicht zu gleicher Zeit wird die Stunde für die Arbeiterklasse der einzelnen Länder schlagen, aber schlagen wird sie überall. Und für diese Stunde gerüstet zu sein ist die wichtigste Aufgabe, die der deutschen Arbeiterklasse gegenwärtig obliegt.

Sie ist sich dessen vollkommen bewusst: Jeden Tag strömen neue Rekruten in das Heerlager der sozialdemokratischen Organisation, und es gibt schwerlich auch nur ein Arbeiterblatt in Deutschland, das in diesen Wochen nicht Hunderte und Tausende neuer Leser gewonnen hätte. Je enger sich die Reihen schließen und je einmütiger der Geist wird, der sie beseelt, um so unerschütterlicher kämpft die Phalanx, an der jede Gewalt und jede List der Feinde zerschellen muss. Solange es ungewiss ist und von Umständen abhängt, die niemand vorhersehen kann, wann die Stunde der Entscheidung schlägt, solange ist die Rüstung für den Kampf das erste und notwendigste. Es wäre verbrecherische Torheit, sich in dieser Mobilmachung aller revolutionären Kraft, die in der deutschen Arbeiterklasse steckt, stören zu lassen, sei es durch brutale Drohungen oder durch feigherzige Wallungen.

Indem wir dem Jahre der Revolution einen dankbaren Abschied sagen für alles Gewaltige und Große, das es uns beschieden hat durch den Heldenmut unserer russischen Brüder, grüßen wir das Jahrzehnt der Revolution, das ihm auf dem Fuße folgt, in der frohen Zuversicht, dass es der deutschen Arbeiterklasse reiche Gelegenheit bieten wird, in einem weltgeschichtlichen Ringen ehrenvoll zu bestehen.

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