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Franz Mehring 19051106 Eine innere Lüge

Franz Mehring: Eine innere Lüge

8. November 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 209-212. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 89-92]

Ein Redakteur der „Kölnischen Zeitung", Herr Robert Brunhuber, hat vor ein paar Monaten in dem von ihm mit redigierten Blatte eine Reihe von Artikeln über die heutige Sozialdemokratie veröffentlicht, die auch in der Parteipresse eine gewisse Beachtung gefunden haben. So besprach sie Cunow im „Vorwärts" und Bernstein in der „Rheinischen Zeitung". Jetzt hat Herr Brunhuber die Artikel in einem besonderen Buche zusammengefasst, das von der bürgerlichen Presse als eine neue Art Sozialistentod gefeiert wird.*

In dem Vorwort registriert Herr Brunhuber „mit größtem Danke" das wohlwollende Urteil Bernsteins über seine Arbeit, indem er es wörtlich zitiert wie folgt: „Es geht ein Zug geistiger Vornehmheit durch die Artikel. Der Verfasser verzichtet auf die Mittel kleinlicher Polemik, er nörgelt nicht an Nebensachen herum, sondern geht herzhaft auf die Kernfragen los, wie sie sich ihm auf Grund der Programmschriften der Sozialdemokratie darstellen, wobei er den Inhalt dieser Schriften meist in zutreffender Pointierung wiedergibt. Aus den vorentwickelten Gründen kann uns das nur umso mehr reizen, die Klinge mit ihm zu kreuzen. Nicht im Kampfe mit Ignoranten und Fälschern, sondern im Kampfe mit sachkundigen und sachgemäß folgernden Gegnern bewährt sich die Güte einer Sache." Dies Lob aus sozialdemokratischem Munde wird nicht am wenigsten von der kapitalistischen Presse ausgenutzt, um ausgiebige Reklame für die Schrift bei dem Bourgeoispublikum zu machen.

Wer sich einen Begriff von der „geistigen Vornehmheit" und dem Verzicht auf „kleinliche Mittel der Polemik" machen will, die der Schrift nachgerühmt werden, der lese das Kapitel, worin sie „das Bild der heutigen Sozialdemokratie" entwirft. Herr Brunhuber zeigt sich darin ganz auf der Höhe des seligen Pfarrers Schuster, der vor dreißig Jahren ebenfalls durch sinnlos zusammengeklaubte und mit unwahren Angaben durchsetzte Zitate aus der Arbeiterpresse ein Bild der damaligen Sozialdemokratie zu zeichnen versuchte. Wir wollen es gern dem schlechten Stil zugute halten, den Herr Brunhuber mit allen Sozialistentötern teilt, wenn er dem „Vorwärts" nacherzählt, dass dies Parteiblatt eine anerkennende Notiz über das Hinscheiden des sozialpolitisch hervorragend tätig gewesenen Unterstaatssekretärs Lohmann gebracht habe, wonach also der „Vorwärts" seine „Anerkennung" dafür ausgesprochen hat, dass Lohmann gestorben sei. Soweit es uns gelungen ist, das holprige Deutsch des Herrn Brunhuber zu verstehen, wollte er nur sagen, der „Vorwärts" habe beim Tode Lohmanns eine anerkennende Notiz über dessen sozialpolitische Tätigkeit veröffentlicht. Aber jede Entschuldigung für Herrn Brunhuber fällt fort, wenn er behauptet, Mehring habe auf dem Dresdener Parteitag – wo sich Mehring bekanntlich auf die kurze Erklärung beschränkte, er werde die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen in einer Broschüre widerlegen – „maßlose wüste Anpöbeleien" gegen Parteigenossen „ausgespien", oder wenn der „Radikalistenführer Kautsky" auf Grund eines Zitats aus einem Berliner Briefe der „Neuen Zeit" als „ungenannter Leitartikler" unseres Blattes dem staunenden Leser vorgeführt wird. Wir greifen beiläufig diese beiden Entstellungen der ihm wohlbekannten Wahrheit heraus, mit denen Herr Brunhuber seine Suppe von Zitaten würzt, und bekennen gern, dass uns solche „Züge geistiger Vornehmheit" heiße Tränen der Rührung entlockt haben.

Insoweit steht die Schrift des Herrn Brunhuber in keiner Beziehung über dem Niveau der hergebrachten kapitalistischen Sozialistentöterei. In anderen Kapiteln macht der Verfasser allerdings einige Versuche, sich mit dem wissenschaftlichen Sozialismus auseinanderzusetzen, doch hat Cunow diese Versuche im „Vorwärts" schon so trefflich erledigt, dass jedes weitere Wort darüber unnütz wäre. Es ist eine dritte Seite der Schrift, die uns zu ihrer Besprechung veranlasst: die zwar auch nicht mehr neue, aber bisher nicht mit so erfrischender Naivität hervorgetretene Taktik, die Sozialdemokratische Partei zu sprengen, indem sich die kapitalistische Welt zu Sozialreformen herbeilassen soll, die einen Teil der Arbeiterklasse dazu verleiten könnten, sich über das innere Wesen der kapitalistischen Welt zu täuschen. Herr Brunhuber ist unzufrieden mit der Art, wie der Reichskanzler die Sozialdemokratie „vernichtet". Er macht zwar seine Reverenz vor dem großen Staatsmann, indem er schreibt: „Fürst Bülow hat unbestritten großes Geschick in der politischen parlamentarischen Behandlung der Sozialdemokratie bei allen möglichen Debatten gehabt", aber – so fügt er hinzu – „für viele wissenschaftliche Kenner des Sozialismus war es doch höchst peinlich, als sie den obersten Reichsleiter das so leicht zur Heiterkeit gestimmte Haus damit vergnügen sahen, dass er ihm voller Überzeugung höchst ulkige Mittel zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, zur Vernichtung eines – den heutigen Sozialdemokraten gewiss gänzlich unbekannten – Zukunftsstaats vorführte, die bereits vor einigen Jahrzehnten kaum mehr in einer bayerischen politischen Agitationsversammlung des Zentrums gewirkt hätten." Das ist sehr nett gesagt; schade nur, dass über „Sozialreformen" nicht Herr Brunhuber zu entscheiden hat, sondern der „oberste Reichsleiter" mit seinen „höchst ulkigen Mitteln" und die Mehrheit des Reichstags, deren sozialpolitische Einsicht Herr Brunhuber dahin einschätzt, dass sie vor einigen Jahrzehnten vom bajuwarischen Ultramontanismus überholt gewesen wäre.

Das ist eben das Charakteristische an Herrn Brunhuber und seinesgleichen. Als bürgerliche Politiker haben sie das unbestreitbare Recht, die Sozialdemokratie zu bekämpfen, zu hassen und unsertwegen zu verleumden; wir sterben am Brunhuber sowenig, wie wir am Schuster gestorben sind. Aber wenn es nun einmal ihre „wissenschaftliche" Überzeugung ist, dass die Sozialdemokratie nur an „Sozialreformen" sterben kann, weshalb suchen sie denn nicht die Hindernisse zu beseitigen, die diesen Sozialreformen entgegenstehen? Weshalb widmet Herr Brunhuber der „ulkigen" Sozialpolitik des Reichskanzlers kaum eine halbe Seite, während er die übrigen zweihundert Seiten in „ulkiger" Weise auf die „orthodoxen Marxisten" los paukt? Von diesen Übeltätern hat ja noch keiner sozialen Reformen auch nur einen Strohhalm in den Weg gelegt; im Gegenteil, jeder „orthodoxe Marxist" hat Sozialreformen so eifrig, aber freilich etwas wirksamer befürwortet als Herr Brunhuber; ohne das „revolutionäre Klassenbewusstsein" des Proletariats, das diesem Herrn so zuwider ist, hätten wir überhaupt noch keine Spur von Sozialreform im Reiche. Aber nicht einmal ein wenig Mitleid mit diesen hilflosen Tröpfen von „orthodoxen Marxisten", die sich nach seiner ureigensten Überzeugung ihr eigenes Grab schaufeln, indem sie für soziale Reformen eintreten, hindert diesen zürnenden Herakles, seine tödlichen Pfeile gegen die verhasste Rotte zu entsenden.

Wenn aber Herr Brunhuber allerlei weder gehauenes noch gestochenes Zeug über die „innere Lüge" der Sozialdemokratie daherredet, so ist ihm zu antworten: Wollen Sie denn nicht einmal erst die „innere Lüge" vor Ihrer eigenen Tür beseitigen? Wie kann Herr Brunhuber denn nur wagen – falls er überhaupt den Anspruch erhebt, ernsthaft genommen zu werden –, von sozialen Reformen zu sprechen, wenn er im Gefolge desselben Reichskanzlers und desselben Reichstags einher trottet, deren sozialreformatorisches Verständnis er selbst unter Null stellt? Das ist die „innere Lüge", von der er und seinesgleichen leben, und weil sie in seiner Schrift mit einer Nacktheit hervortritt wie bisher noch nie, wenigstens soweit unsere Kenntnis dieser Literatur reicht, so glauben wir ihr eine gewisse symptomatische Bedeutung zuschreiben zu sollen.

Seinen Groll gegen die Sozialdemokratie nehmen wir ihm, wie gesagt, nicht übel; auch seine Versuche, zwischen Radikalen und Revisionisten zu hetzen – und das ist der eigentliche Zweck der ganzen Schrift –, mutzen wir ihm nicht weiter auf, wenn uns auch nicht der Scharfblick gegeben ist, darin einen „Zug geistiger Vornehmheit" zu entdecken; am wenigsten berühren uns seine unhöflichen Ausfälle gegen die „orthodoxen Marxisten", worin wir nur ein beweiskräftiges Zeugnis dafür entdecken können, dass die „orthodoxen Marxisten" ihre Pflicht gegen die Arbeiterklasse erfüllen. Aber wir erlauben uns, ihm in aller Höflichkeit zu bemerken, dass, wer die „ulkige" Politik des Reichskanzlers und der Reichstagsmehrheit mit dem ganzen Tamtam des kölnischen Weltblatts begleitet und sich dennoch öffentlich als Sozialreformer aufspielt, jedes Recht verwirkt hat, irgendwo im Himmel oder auf Erden eine „innere Lüge" zu entdecken.

* Die heutige Sozialdemokratie. Eine kritische Wertung ihrer wissenschaftlichen Grundlagen und eine soziologische Untersuchung ihrer praktischen Parteigestaltung. Von Dr. Robert Brunhuber, Redakteur der „Kölnischen Zeitung", Dozent der Handelshochschule in Köln. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 212 S. Preis 2 Mark.

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