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Franz Mehring 19050906 Friedens- und Verfassungsfragen

Franz Mehring: Friedens- und Verfassungsfragen

6. September 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 745-748. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 59-62]

Der Friedensschluss zwischen Japan und Russland hat im ersten Augenblick den Eindruck einer japanischen Niederlage gemacht; er schien in starkem Widerspruch mit den gewaltigen Kriegserfolgen der Japaner zu stehen, und in Japan selbst macht sich nach den Berichten der Presse eine große Enttäuschung bemerkbar, etwa in dem Sinne, worin der alte Blücher nach dem Pariser Frieden von 1815 sagte, die Federn der Diplomaten hätten wieder verdorben, was die Schwerter der Soldaten erworben hätten.

Indessen wird damit den Federn der Diplomaten eine Macht zugeschrieben, die sie nicht haben, weder im Guten noch im Schlimmen. Sie können die tatsächlichen Machtverhältnisse, die sich im Kriege herausgestellt haben, nur registrieren, aber nicht revidieren. Nicht die Wucht und Zahl der Siege entscheidet, sondern was jeder der Kriegführenden beim Friedensschluss noch an tatsächlicher Macht besitzt. Japan hat in dem Frieden alles erreicht, was es nach dem Maße seiner Interessen und Kräfte erreichen konnte; insoweit hat es einen vollen Sieg erfochten und den Zweck des Krieges durchgesetzt. Aber deshalb hat es die russische Macht noch nicht niedergeworfen, und diese gab nicht mehr heraus, als sie nach Lage der gegenseitigen Machtverhältnisse nicht mehr halten konnte.

Ließen sich die Machtverhältnisse zweier Staaten, wie sie sich in der Feuerprobe des Krieges herausgestellt haben, genau in Ziffern ausdrücken, so könnten sich die Diplomaten überhaupt trollen; die Friedensbedingungen wären dann ein sehr einfaches Rechenexempel. So geht es nun freilich nicht, und so müssen sich die um den Frieden feilschenden Mächte aneinander abringen, bis das richtige Machtverhältnis zwischen ihnen klar wird. Dabei hat die größere oder geringere Fähigkeit der Diplomaten, einander übers Ohr zu hauen, allerdings einen gewissen Spielraum, aber doch nicht mehr, als auf dem Warenmarkt der pfiffige Händler über den minder pfiffigen hat: Die Warenpreise unterliegen bestimmten Gesetzen, auch wenn sie in einem einzelnen Falle dem willkürlichen Belieben preisgegeben zu sein scheinen.

Ganz besonders war es von vornherein sicher, dass die Japaner nicht die Zahlung einer Kriegsentschädigung von den Russen erlangen würden, worin vielfach das Hauptkennzeichen ihrer angeblichen diplomatischen Niederlage erblickt wird. Man übersieht dabei, dass die Zahlung von Kriegsentschädigung wenigstens für moderne Großstaaten den äußersten Grad der Niederlage darstellt, wozu sie sich erst bequemen, wenn ihnen schlechterdings keine einzige Waffe gegen den Feind mehr übrig ist und sie seine mit unerträglicher Wucht auf ihnen lastende Gewalt nicht anders abschütteln können. Unter dieser Voraussetzung zahlte Preußen 1807 im Frieden von Tilsit und zahlte Frankreich 1871 im Frieden von Frankfurt gewaltige Kriegsentschädigungen. Russland in ähnlicher Weise niederzuwerfen lag und liegt für Japan ganz außerhalb der Möglichkeit. Es ist schwer zu glauben, dass so gescheite Leute wie die Japaner je im Ernste gehofft haben, eine Kriegsentschädigung von den Russen herauszuschlagen; jedenfalls aber gehörte keine besondere Gewandtheit der russischen Diplomaten dazu, sich der Forderung zu entziehen.

Zudem tritt diese finanzielle Frage, so wichtig sie sein mag, vollkommen zurück hinter die weltgeschichtlichen Folgen, die der japanisch-russische Krieg haben muss. Asien wird durch die neue Großmacht Japan industriell revolutioniert werden, und Europa atmet auf, befreit von dem Vampir, der ihm seit anderthalb Jahrhunderten klammernd im Nacken gesessen hat. Die russische Hegemonie hat für immer ein Ende genommen. Der zarische Absolutismus liegt im Sterben; die Revolution bereitet sich vor, ihm den Gnadenstoß zu geben, und er selbst erkennt diese Tatsache an, indem er sich entschließt, eine Verfassung zu verleihen.

Auch diese Verfassung hat der erwartenden Welt eine große Enttäuschung bereitet, zumeist denen, die im Hoffen und Harren auf Gnadengaben von oben nicht müde werden, aber bis zu einem gewissen Grade auch denen, die schon mit einer größeren Kraft der revolutionären Entwicklung gerechnet hatten, als sich in dieser Verfassung widerzuspiegeln scheint. Und gewiss ist sie so schäbig wie ihre Urheber. Sie schafft nicht ein Parlament, sondern höchstens den Schatten eines Parlamentes; die neue Duma hat nicht beschließende, sondern nur beratende Funktionen; höchstens kann sie mit Zweidrittelmehrheit in gewissen Dingen ein Veto ausüben. Dazu kommt die beschränkte Öffentlichkeit, ein nicht minder beschränkter Wahlmodus, der namentlich das städtische Proletariat ausschließt, und die gänzliche Abwesenheit von Press-, Vereins- und Versammlungsrecht. Diese Verfassung gleicht also aufs Haar jenem Lichtenbergischen Messer, dem der Griff wie die Klinge fehlt.

Gleichwohl scheint uns selbst diese Verfassung zwar gewiss nicht an sich, aber als Gradmesser der revolutionären Entwicklung in gewisser Hinsicht unterschätzt zu werden. Die Erfahrung zeigt, dass in der Geschichte des sterbenden Despotismus die Art, wie eine Verfassung aussieht, viel weniger bedeutet als die Tatsache, dass sie gegeben wird. Die „Preußischen Jahrbücher" machen darauf aufmerksam, dass der englische Parlamentarismus, den man von der Magna Charta (1215) zu datieren pflegt, vierhundert Jahre lang nicht mehr gewesen sei als die russische Duma, die Väterchen verheißt. Sie schreiben: „Der heutige englische Parlamentarismus ist erst geschaffen worden durch die Revolution im siebzehnten Jahrhundert, nach der Vertreibung der legitimen Dynastie. Bis dahin waren die beiden Häuser zwar zuweilen einflussreiche, dann aber auch wieder ganz in die Ecke gestellte Stücke in dem Regierungsmechanismus einer überaus starken monarchischen Autokratie. Das Steuerbewilligungsrecht ist dem Unterhaus nie prinzipiell konzediert worden, sondern es übte es nur gewohnheitsmäßig aus… Vom freien Worte und allem anderen, was wir heute zu den verfassungsmäßigen Freiheiten rechnen, war im Volke gar nicht die Rede, und auch für die Parlamentarier musste Freiheit der Rede und Freiheit vom Personalarrest immer erst als besondere königliche Gnade erbeten werden. Anwesenheit von Ministern bei den Verhandlungen wurde nicht gewünscht, weil die Abgeordneten sich dadurch eingeschüchtert gefühlt hätten. "Morgen passiert meine Bill oder dein Kopf, sagte König Heinrich VIII. zu einem Parlamentarier, der Opposition machen wollte." Allerdings wurden die Mängel dieser Verfassung einigermaßen ausgeglichen durch den Königsmord; man zählte von Eduard II. bis Richard III. sechs ermordete Könige, wozu dann noch Karl I. kommt, dessen schuldiges Haupt auf dem Schafott fiel. Aber gerade zu diesem Ergänzungsmittel unvollkommener Verbesserungen wäre in Russland wohl bald Rat zu schaffen; wie bisher der zarische Despotismus nach dem bekannten Worte durch Mord gemildert wurde, so könnte die politische Kraft der neuen Duma durch Mord verstärkt werden.

Doch diese Erinnerungen haben wesentlich nur ein historisches Interesse; soll es vierhundert Jahre dauern, bis aus der russischen Duma etwas Ordentliches wird, so würde es freilich verzweifelt lange währen, und die russische Verfassung wäre dann allerdings nur ein Schattenspiel an der Wand, das auch als symptomatische Erscheinung nicht der Rede wert wäre. Näher liegt und lehrreicher ist aber die Erinnerung an die Sterbetage des preußischen Despotismus. In der Zeit von 1815 bis 1840 war eine Verfassung, wie sie jetzt in Russland angekündigt wird, das Ideal aller deutschen Patrioten, mit Ausnahme etwa einer Handvoll radikaler Burschenschafter, und um auch nur eine solche Verfassung nicht geben zu müssen, hat der „Heldenkönig" Friedrich Wilhelm III. sein feierlich verpfändetes Wort ein Vierteljahrhundert lang gebrochen. Ebenso schlug sein Sohn noch sieben Jahre lang mit Händen und Füßen um sich gegen eine Volksvertretung, wie die russische Duma sein soll, bis die bitterste Finanznot sie ihm in dem Vereinigten Landtag abrang, der freilich ein wenig mehr Rechte besaß, jedoch nicht so sehr viel mehr, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Diese Versammlung aber schoss sehr schnell in die Halme, und als der König sie unwillig nach Hause schickte, kam ein paar Monate später die Revolution, die das alte Preußen zertrümmerte.

Es gehört zu den besten Seiten des Geschichtswerkes, das Treitschke über die Deutsche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts mehr gedichtet als geschrieben hat, dass es die geheimen Verhandlungen, die von 1815 an zwischen dem König, den Junkern und der Bürokratie in der preußischen Verfassungsfrage gepflogen wurden, ausführlich nach den Archiven darstellt. Da Treitschke beweisen will, dass die damals in Preußen herrschenden Klassen recht daran getan hätten, mit dem Erlass der Verfassung äußerst vorsichtig zu sein, so kramt er alle ihre Gründe ganz treuherzig aus, und so viel törichtes Zeug, so viel reines Angstprodukt sich darunter befinden mag, so doch auch manche höchst gescheite Ausführung in dem Sinne, der sich später vollkommen erfüllt hat, dass, wenn einmal eine Verfassung existiere, und wäre es nur in der allerdürftigsten Form, nun auch kein Aufhalten mehr sei. Das Fürstentum hat praktische Diener, wie Lassalle einmal sagt, und diese bürokratisch-feudale Opposition gegen die Verleihung einer Verfassung besaß zehnmal mehr politischen Verstand als die damaligen Liberalen, die sich feierlich vermaßen, dass, wenn Majestät nur ein klein wenig Konstitutionalismus verleihen wolle, sein Thron auf einen Felsen von Erz gegründet sein würde.

Um eine Verfassung zu geben, muss ein Despot entweder eine ungeheure Entschlusskraft besitzen, wie sie noch kein Despot besessen hat und am allerwenigsten der gegenwärtige Zar besitzt, oder er muss das steigende Wasser schon am Halse spüren. Dies ist die gute Seite an dem Wische, mit dem sich Nikolaus II. von den Sünden seines Geschlechtes loskaufen möchte.

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