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Franz Mehring 19051011 Gewerkschaftliche Klassenkämpfe

Franz Mehring: Gewerkschaftliche Klassenkämpfe

11. Oktober 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 73-76. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 76-80]

Die verständigeren unter den bürgerlichen Gegnern des proletarischen Emanzipationskampfes haben von jeher ihre Hoffnung auf die Entwicklung der Gewerkschaften gesetzt. Zuerst schlug Lujo Brentano diesen Ton an in seinem Buche über die „Arbeitergilden der Gegenwart", dessen erster Band im Jahre 1871 erschien; er enthielt eine „Geschichte der englischen Gewerkvereine" und schilderte, wie diese Körperschaften „mit souveräner Verachtung jeglicher Theorie gleich taub seien sowohl für die geisteshoffärtigen Belehrungen von mit ihm vornehm sympathisierenden sozialistischen und kommunistischen Theoretikern als auch für das beschränkte Poltern und die dünkelhaften Denunziationen extremer Ökonomisten". Unter den „extremen Ökonomisten" verstand Brentano die damaligen Manchesterleute vom Schlage der Bamberger, Braun und Oppenheim, die in der Tat mit „dünkelhaften Denunziationen" über sein Buch herfielen, während es die sozialdemokratische Arbeiterpresse nicht ohne Wohlwollen besprach; ein „sozialistischer Theoretiker", nämlich Albert Lange, wurde durch das Buch sogar bis zu einem gewissen Grade bekehrt.

Darin verriet sich schon, dass nicht alles in Brentanos Rechnung stimmen konnte. Die deutsche Arbeiterbewegung fürchtete durchaus nicht das Entstehen und Erstarken gewerkschaftlicher Organisationen; ja sie war bereits, ehe Brentanos Buch erschien, mit der Gründung solcher Organisationen vorangegangen. Wohl aber sperrte sich der deutsche Kapitalismus, dessen Erhaltung doch der Endzweck von Brentanos Bemühungen war, mit Händen und Füßen gegen dessen Heilmittel. Ja noch mehr: als dann Max Hirsch, der kürzlich Verstorbene, die Sache praktisch durchführen wollte, nach dem Muster der Trade-Unions, musste Brentano selbst einsehen – und er war ehrlich genug, es auch öffentlich einzugestehen –, dass hier nur eine wertlose Pfuscharbeit geleistet worden sei. Immer aber blieb noch die Hoffnung, dass, wenn die Arbeitermassen nur selbst erst zur Einsicht von der Bedeutung und dem Werte der gewerkschaftlichen Organisation gelangt wären, sich aus ihnen heraus mit einer Art Naturgewalt das englische Ideal verwirklichen würde, das Brentano und seine Nachfolger so lebhaft anzupreisen verstanden.

Nun ist seit manchen Jahren auch diese Zeit gekommen. Die gewerkschaftlichen Organisationen haben in Deutschland einen gewaltigen Aufschwung genommen, und man braucht nicht zu bestreiten, dass dabei auch manche Erscheinungen hervorgetreten sind, die an die Trade-Unions erinnern. Allein im Endergebnis hat sich Brentanos Rechnung dennoch als gründlich falsch erwiesen. Das Aufblühen der deutschen Gewerkschaftsbewegung hat nicht zu einer Milderung, sondern zu einer außerordentlichen Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit geführt. Es sei nur an den Streik in Crimmitschau, an den Streik im Ruhrbezirk, an die gegenwärtige Aussperrung in Berlin und an die drohende Aussperrung im Vogtland erinnert. Die Schuld daran den „sozialdemokratischen Hetzern" zuzuschieben geht nicht wohl an, denn eine starke Gewerkschaftsorganisation sollte ja gerade das Mittel sein, aller „sozialdemokratischen Hetzerei" ein Ende mit Schimpf und Schande zu bereiten. Auch würden dieser Auslegung die nackten Tatsachen allzu sehr widersprechen, denn sie zeigen mit einer unwiderlegbaren Deutlichkeit, dass die mildernden Tendenzen, die durch das Anwachsen der Gewerkschaftsbewegung in den proletarischen Klassenkampf gelangen können, mehr als ausgeglichen werden durch die um so größere Halsstarrigkeit des deutschen Kapitalismus.

Weit entfernt davon, in starken Gewerkschaftsorganisationen – gemäß der Prophezeiung der bürgerlichen Ideologen von der Art Brentanos – ebenbürtige Komparenten zu erkennen, mit denen sich in ruhigen Verhandlungen und nach besonnenem Ausmaß der gegenseitigen Kräfte die aus dem Arbeitsverhältnis entstehenden Konflikte schlichten lassen, fasst das deutsche Unternehmerkapital nun erst recht seine ganze Kraft zusammen, um im Koalitionsrecht der Arbeiterklasse die Grundlage jeder Gewerkschaftsorganisation nieder zu brechen. Typisch dafür sind die Vorgänge in Berlin, wo die Kapitalmagnaten der Elektrizitätswerke die Forderung einer geringen und an sich durchaus berechtigten Lohnerhöhung, die noch nicht fünfhundert Arbeiter gestellt hatten, damit beantwortet haben, dass sie einige dreißigtausend Arbeiter, denen nicht einmal im Sinne des Kapitalismus irgendeine Schuld nachzuweisen war, aufs Pflaster warfen. Dazu kommt dann noch die Drohung, dass bei fortgesetzter Renitenz der Handvoll Streikenden alle Betriebe der Berliner Metallindustrie geschlossen werden sollen, was an hunderttausend Arbeiter mit ihren Familien dem Hunger ausliefern würde.

In einem Aufruf, den die hiesigen Elektrizitätswerke erlassen, geben sie diesen Sachverhalt mit einer in ihrer Art klassischen Unbefangenheit zu. Sie bestreiten gar nicht, dass sie den „wenigen hundert Leuten" die geforderte „Kleinigkeit" hätten bewilligen können. Aber sie wollen einer „planmäßigen Politik der Arbeiterschaft und ihrer Führer" entgegentreten. Es passt ihnen nicht, dass einzelne Arbeitergruppen Forderungen gestellt haben, deren Erfüllung für den Augenblick meist mit geringen Opfern verknüpft gewesen sei, im Vergleich mit den Schädigungen, die durch den stets drohenden Streik der betreffenden Gruppen entstanden wären. Das Kapital macht also der Arbeit zum Vorwurf, was es selbst als sein größtes Verdienst und als den Inbegriff aller menschlichen Weisheit zu rühmen pflegt: die Ausnützung der günstigen Konjunktur. Der Aufruf fährt dann fort darzulegen, dass die Elektrizitätswerke „zahlreiche Konflikte auf solche Weise" beigelegt hätten, das heißt so, dass sie „geringe Opfer" brachten, um „größere Schädigungen" abzuwehren, aber nun hätten sie die Sache satt. Jede einmal bewilligte Forderung würde als Etappe für weitere Forderungen benützt und so bald an dieser, bald an jener Stelle das Machtmittel des Streiks in Bewegung gesetzt, um immer wieder neue Breschen in die Ordnung der Verhältnisse zu legen. Dieser „Beunruhigung" ihrer Betriebe mögen die Elektro-Industriellen nicht länger zusehen; sie wollen „der Arbeitsniederlegung einzelner Abteilungen stets gemeinsame Maßnahmen entgegensetzen", das heißt, wenn ein paar hundert Arbeiter eine „Kleinigkeit" beanspruchen, um ihre Hungerlöhne aufzubessern, ein paar Zehntausende von Arbeitern mit gebundenen Händen dem Hunger ausliefern. Und so verkündet der Aufruf der Berliner Elektro-Industriellen, dass sie „ihren" Arbeitern von nun an nicht mehr bewilligen würden, als die Arbeiter „auch ohne Anwendung ihres Gewaltmittels" erlangt hätten.

Das ist einfach der Standpunkt des mittelalterlichen Feudalherrn. Was dieser Aufruf den Arbeitern der Elektrizitätswerke bei Strafe des Hungertodes verbietet und was er die „Anwendung ihres Gewaltmittels" zu nennen beliebt ist der Gebrauch des Koalitionsrechtes, das der moderne Proletarier vor dem Hörigen und Leibeigenen voraushat. Den Hörigen und Leibeigenen war auch gestattet, was die Elektro-Industriellen „ihren" Arbeitern fernerhin gestatten wollen, nämlich untertänige Bitten zu äußern, deren Gewährung ganz von der Gnade der Herren abhing. Dabei führt der Aufruf nicht einen einzigen Fall an, wo die Arbeiter ihr Koalitionsrecht für „unbillige", auch nur nach kapitalistischer Auffassung „unbillige" Forderungen benützt hätten; er macht ihnen nicht einmal diesen Vorwurf, sondern erkennt an, dass die Arbeiter nur „geringe Opfer" beansprucht hätten, wo ihre Mitwirkung unentbehrlich war, um „größere" Profite für das Kapital zu sichern, denn so muss man die Redensart von der „Abwehr größerer Schädigungen" übersetzen. Genug, der Aufruf selbst stellt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit fest, dass den Arbeitern nichts zur Last fällt, als dass sie von ihrem gesetzlichen Koalitionsrecht einen wirklichen und wirksamen Gebrauch gemacht haben, und von diesem Übermut sollen sie durch das „Gewaltmittel" einer Massenhungerkur geheilt werden.

Mag sein, dass die Kapitalmagnaten der Berliner Elektro-Industrie nicht zu den schlimmsten der deutschen Unternehmer gehören, wie die bürgerliche Presse zu versichern nicht müde wird. Mag sein auch, dass die Arbeiter dieser Industrie, wie dieselbe Presse ebenso eifrig beteuert, sich durchschnittlich in einer besseren oder doch weniger schlechten Lage befinden als die sächsischen Textil- oder die rheinisch-westfälischen Bergwerksarbeiter. Aber eben dadurch wird diese Berliner Aussperrung ein typischer Fall der gewerkschaftlichen Klassenkämpfe in dem gegenwärtigen Stadium ihrer historischen Entwicklung, ein Fall, der umso aufmerksamer beachtet zu werden verdient. Wenn sich schon am grünen Zweige des Unternehmerkapitals dieser schonungslose Hass des Koalitionsrechtes zeigt, was ist dann von seinem dürren Zweige zu erwarten? Und in welchem Lichte erscheint das so genannte Wohlwollen der bürgerlichen „Arbeiterfreunde", wenn sie den Gebrauch des Koalitionsrechtes durch die Arbeiter der Berliner Elektro-Industrie tadeln, nur weil sich diese Arbeiter nicht in ganz so elender Lage befinden wie vielleicht manche andere Kategorien ihrer Kameraden?

Es kennzeichnet die bürgerliche Presse, dass sie in dem vorliegenden Falle, soviel wir sehen, ohne jede Ausnahme ins Lager des Unternehmerkapitals abschwenkt, darunter auch solche Blätter, die bei den Streiks in Crimmitschau und im Ruhrbezirk eine gewisse laue Teilnahme für die Arbeiter kundgaben. Für die Berliner Presse mag dabei mitspielen, dass eine mächtige Industrie der Reichshauptstadt in den Kampf verwickelt ist; entscheidender für die Haltung der bürgerlichen Presse dürfte aber wohl sein, dass die Aussperrung den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit so klar und rein hervortreten lässt, um jedes Fackeln und Wackeln unmöglich zu machen. Eine gewisse melodramatisch-sentimentale Teilnahme für allzu arg ausgebeutete Arbeiterschichten gehört heutzutage halbwegs mit zum Geschäft des Zeitungskapitals, aber wenn eine noch nicht so ausgemergelte Arbeiterschicht ihr Koalitionsrecht so handhabt, wie es ihre Pflicht und ihr Recht ist und wie es der Aufruf der Elektro-Industriellen ganz richtig schildert, dass sie jede bewilligte Forderung nur als Etappe für weitere Forderungen betrachtet und den Hebel bald an dieser und bald an jener Stelle ansetzt, um den Arbeitslohn auf Kosten des Kapitalprofits zu steigern, dann fällt das ganze bürgerliche Zeitungsgeschwister vor heiligem Entsetzen um. Es verteidigt das Koalitionsrecht der Arbeiterklasse in seiner stumpfen Weise, vorausgesetzt, dass die Arbeiterklasse dies Recht nur als stumpfes Messer gebraucht.

Mit der Berliner Aussperrung haben die deutschen Unternehmer in einem weithin sichtbaren Falle ihre Karten aufgedeckt. Sie stehen dem Wachstum der gewerkschaftlichen Organisationen in alter traditioneller Beschränktheit gegenüber; statt sich mit dem Koalitionsrechte der Arbeiter zu vertragen und der kapitalistischen Produktionsweise so noch nach Möglichkeit eine Galgenfrist zu sichern, suchen sie ihre Kraft zu einem vernichtenden Schlage eben gegen das Koalitionsrecht zu konzentrieren. Durch alle ihre trügerischen Erfolge hindurch bahnt diese Politik des Selbstmordes der sozialen Revolution nur umso breiter die Siegesstraße.

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