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Franz Mehring 19051004 Jena, Mannheim, Wiesbaden

Franz Mehring: Jena, Mannheim, Wiesbaden

4. Oktober 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 41-44. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 71-75]

Wie alljährlich, hat die bürgerliche Presse auch in diesem Herbste das menschenmögliche geleistet, den sozialdemokratischen Parteitag herabzusetzen, und sie hat für diesen edlen Zweck nicht einmal abgeschmackte Puffs verschmäht. Aber sie legt wider sich selbst das schlagendste Zeugnis ab, denn immer noch sind es die Jenaer Beschlüsse, die sie beunruhigen, während die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik, diese Blüte bürgerlicher Sozialerkenntnis, und ein paar volksparteiliche Kongresse, die gleichzeitig mit Jena tagten, alsbald den Strom der Vergessenheit hinab getrieben sind. Trotz der gesuchten Geringschätzung der Jenaer Beschlüsse, die von den bürgerlichen Gegnern herauszuhängen beliebt wird, wissen sie sehr gut, dass in Jena wirklich gehandelt worden ist, während in Mannheim, Wiesbaden und wo sonst die bürgerlichen Zusammenkünfte stattfanden, immer nur wieder dasselbe Stroh gedroschen wurde.

Dasselbe Stroh, denn es wäre unbillig, zu sagen: dasselbe leere Stroh. Namentlich die Verhandlungen des Kathedersozialistenkongresses, wie man die Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik kürzer nennen darf, können zu ihren Gunsten geltend machen, dass sie den Unwillen der offiziösen Presse erregt haben wegen der „sozialideologischen Utopien", in denen sie „trotz des Anwachsens der sozialdemokratischen Gefahr" befangen geblieben sein sollen. Namentlich Brentano und Max Weber machen der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" großen Kummer: jener, weil er nun schon ins vierte Jahrzehnt hinein für das Koalitionsrecht der Arbeiterklasse eintritt, dieser, weil er den „monumentalen" Satz ausgesprochen hat: „Wäre die Sozialdemokratie nicht vorhanden, so müsste sie zum Schutze der Gewerkschaften erfunden werden." So was ärgert natürlich die Presse des Fürsten Bülow in hohem Grade; sie empfindet es als eine persönliche Kränkung ihres Herrn und Meisters, wenn es in der bürgerlichen Welt noch Leute gibt, die nicht bloß mit feuilletonistischen Seichtbeuteleien über die Arbeiterfrage zu reden wissen.

Bei alledem sind auch die verständigeren Elemente des Vereins für Sozialpolitik weit entfernt von jeder ernsthaften Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, der sie nur auf andere und, wie sie meinen, wirksamere Weise dienen wollen als die Scharfmacher, deren einer in der Person des Herrn Kirdorf auf dem Mannheimer Tage die klassische Brutalität des rücksichtslosesten Ausbeutertums entfaltete. Die Scharfmacher vom Schlage des Kirdorf sehen es aufs Brechen ab, und die Kathedersozialisten vom Schlage der Brentano und Weber möchten es mit dem Biegen versuchen, während die Arbeiterklasse in der glücklichen Lage ist, es aufs Biegen wie aufs Brechen ankommen lassen zu können. Sie beansprucht die Koalitionsfreiheit als ihr unveräußerliches Recht, und sie hat alle Anerkennung für die bürgerlichen Verteidiger dieses Rechtes, aber sie trennt sich von ihnen darin, dass sie die Koalitionsfreiheit benutzt, um sich zu emanzipieren, und nicht, um der kapitalistischen Gesellschaft ein ewiges Leben zu sichern.

In dieser Gesellschaft leben und weben die Scharfmacher, während sie den Kathedersozialisten vollständig über den Kopf wächst. Das trat in Mannheim besonders krass in den Verhandlungen über die Kartelle hervor, denen Herr Schmoller „gewisse Zügel" anlegen wollte. Für diesen Zweck schlug er ein Gesetz vor, durch das die Aktiengesellschaften mit 75 und mehr Millionen Aktien- und Obligationskapital verpflichtet werden sollen, in ihrem Aufsichtsrat ein Viertel der Stimmen an Personen zu übertragen, die der Reichskanzler und die Landesregierung, je zur Hälfte, als solche bezeichnen. Ferner soll ein Drittel der Direktoren solcher Gesellschaften von der Reichs- und der Landesregierung ernannt werden. Endlich sollen diese Gesellschaften die Hälfte ihres 10 Prozent übersteigenden Gewinnes an Reich und Staat abgeben. Über diese Hilflosigkeiten machte sich sogar die manchesterliche Presse nicht ohne Grund lustig, und in Mannheim selbst wagte Herr Naumann an die kapitalistischen Entwicklungsgesetze zu erinnern, die mit solchen imaginären Zwirnsfäden nicht gefesselt werden könnten. Aber das bekam ihm sehr schlecht, denn Herr Schmoller verfemte ihn feierlich als einen „Demagogen", der mit der abgestandenen Weisheit des historischen Materialismus hausiere, und diese Geschichtsauffassung liegt nach Herrn Schmollers schon oft wiederholter Versicherung tief unter ihm in wesenlosem Scheine.

Der arme Herr Naumann! In seiner „Hilfe" hat er den historischen Materialismus so oft totgeschlagen, dass er sich wohl vor dem Verdacht sicher halten konnte, von dieser Ketzerei angesteckt zu sein. Er findet nun auch einige Schwurzeugen in Herrn Max Weber und zwei anderen Teilnehmern der Mannheimer Versammlung, die ihn frei von Schuld sprechen, aber natürlich Herrn Schmoller auch. Sie veröffentlichen eine Erklärung, worin sie sagen, Schmoller habe offenbar den „historisch", und zwar in hervorragender Weise unter seinem eigenen Einfluss, gewordenen „Charakter" des Vereins für Sozialpolitik nicht aufgeben wollen „zugunsten einer Auffassung, die durch den Glauben an Entwicklungsgesetze im streng marxistischen Sinne jeden Versuch staatlichen Eingreifens und damit in letzter Linie auch jede Sozialpolitik zur Sinnlosigkeit stempeln würde". Schmoller habe Naumanns Rede aufgefasst „als einen Angriff gegen alles dasjenige, was, wie allgemein bekannt, an der Eigenart des Vereins sein und seiner ursprünglichen Mitarbeiter persönlichstes, heute ganz ebenso wie früher unersetzliches, unbedingt aufrechtzuerhaltendes Werk ist". Und so hoffen die Unterzeichner dieser Erklärung, Herr Schmoller werde sich überzeugen lassen, dass Herr Naumann gar nicht den „schweren Vorwurf" verdient habe, den „historischen Charakter" des Kathedersozialismus durch marxistische Anwandlungen zu zerrütten.

Vor der Kinderei dieser Erklärung steht selbst die „Frankfurter Zeitung", die ja sonst lebhafte Sympathie für die professorale Sozialpolitik hat, einigermaßen fassungslos. Sie plädiert für Naumanns Recht, selbst wenn dieser Unglückliche wirklich Entwicklungsgesetze im marxistischen Sinne vertreten haben sollte. Eine wissenschaftliche Gesellschaft könne die Bekundung der marxistischen Auffassung, mit der sich ja auch fast alle Nationalökonomen beschäftigten oder beschäftigt hätten, doch nicht ausschließen, ohne den Boden der wissenschaftlichen Freiheit zu verlassen. Will man über diese Vorkommnisse überhaupt ernsthaft reden, so hat die „Frankfurter Zeitung" unzweifelhaft recht, aber es ist schwer, ernsthaft davon zu sprechen. Lassen wir Herrn Naumann und Herrn Schmoller beiseite, aber auch Herr Max Weber, der sich durch sein Auftreten in Mannheim wenigstens das Verdienst erworben hat, den Zorn der Bülowschen Soldschreiber zu reizen, legt die „Entwicklungsgesetze im streng marxistischen Sinne" als blinden Fatalismus aus, womit er seine eigene Blindheit in Sachen des Marxismus ebenso unwiderleglich bezeugt, wie es die Herren Naumann und Schmoller bei anderen Gelegenheiten schon oft getan haben.

Wie in Mannheim, so lieferte auch in Wiesbaden, wo der Parteitag der Freisinnigen Volkspartei seine Beratungen abhielt, die Person des Herrn Naumann das eigentliche Salz der sonst so gleichgültigen wie langweiligen Verhandlungen. Die um Richter beschlossen, mit denen um Sonnemann und denen um Barth möglichste Freundschaft zu pflegen, nur mit denen um Naumann auf keinen Fall nicht. Da aber bekanntlich die um Naumann sich mit denen um Barth verschmolzen haben und die um Sonnemann die dritten in diesem Bunde sind, so ist mit dem Wiesbadener Beschluss die „große liberale Partei" einmal wieder in eine dunkle Zukunft abgeschoben. Käme sie je zustande, so wäre es freilich auch noch so, denn drei Nullen machen noch lange keine Eins. Aber weshalb sie nicht zustande kommt, das gehört zu jenen tragikomischen Erscheinungen, an denen der Niedergang der bürgerlichen Politik und Wissenschaft so reich ist.

Was hat Herr Naumann im liberalen Lager zu suchen? Offenbar gar nichts, darin hat die Freisinnige Volkspartei schon recht. Eben der Überdruss an der liberalen Schaumschlägerei hat ihn ursprünglich zu seinem nationalen Sozialismus geführt, dessen Programm in schreiendem Widerspruch mit dem Evangelium von St. Manchester stand. Was die liberalen Politiker nicht fertig gebracht hatten, die Überwindung der Sozialdemokratie und ihre Auflösung in bürgerliches Wohlgefallen, das glaubte Herr Naumann vollbringen zu können, und zu diesem Zwecke gürtete er seine Lenden. Allein er biss auf Granit, und nun hatte er nicht den Mut, von dem politischen Schauplatz abzutreten, auf den er sich zur Unzeit verirrt hatte. Bei aller persönlichen Achtbarkeit besaß er die Eitelkeit der Sektenstifter, und so suchte er einen Schlupfwinkel, von dem er sich dennoch auf einen parlamentarischen Sessel schlängeln könnte. Er fand ihn in der kleinsten liberalen Fraktion, die in ihrer Verzweiflung auf den verflucht gescheiten Gedanken verfallen war, durch Liebäugeln halb mit der Regierung und halb mit der Sozialdemokratie obenauf zu bleiben.

Die „Kreuz-Zeitung" spricht heute ihr frommes Bedauern darüber aus, dass Herr Naumann sich nicht an eine größere und gefährlichere Partei gehängt habe, um sie innerlich zu zersetzen. Wir glauben gern, dass es dem Junkerblatt gefallen hätte, wenn Naumanns ursprüngliche Pläne gelungen wären und er die Sozialdemokratie von innen heraus hätte aufrollen können. Wäre ihm das gelungen, so würde ihm die „Kreuz-Zeitung" mit Wonne alles verzeihen, was sie sonst an ihm zu tadeln hat. Jedoch das eherne Gefüge der Sozialdemokratischen Partei bietet keinen Spalt, durch den parasitäre Existenzen eindringen könnten, auch nicht, wenn sie alle parasitären Minen springen lassen, wie es, wenn nicht Naumann selbst, so doch seine von ihm nicht verleugneten Anhänger getan haben. Umso leichter aber finden sie Unterschlupf, wo die innere Zersetzung schon in vollem Gange ist, und unter dieser Voraussetzung wirken sie denn auch trefflich als Element der Dekomposition. Das unbestreitbare Maß sozialpolitischen Interesses und Verständnisses, das Naumann besitzt, reichte nicht entfernt aus, um ihn in Reih und Glied des proletarischen Emanzipationskampfes zu treiben, aber es genügt, um in den bürgerlichen Lagern der Politik und der Wissenschaft zerrüttend zu gären und zu treiben.

Es sind keine großen und noch viel weniger erbauliche Schauspiele, diese kleinen Episoden, die sich um die Person des Herrn Naumann bewegen, aber sonst haben die sozialpolitischen Tagungen der bürgerlichen Welt in diesem Herbste nichts auch nur von bescheidenem Interesse aufzuweisen. Die bürgerlichen Blätter müssen sich, gern oder ungern, an Jena halten, wenn sie von Dingen reden wollen, die historische und politische Bedeutung haben, und ihr Schmähen über Jena beweist nur, dass ihnen schwer im Magen liegt, was in Jena geleistet worden ist.

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