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Franz Mehring 19051021 Junkerliches

Franz Mehring: Junkerliches

21. Oktober 1905

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 245, 21. Oktober 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 81-83]

Der deutsche Reichskanzler lehnt mit höflichen Worten, aber in der Sache mit keineswegs missverständlicher Deutlichkeit den Besuch ab, den ihm die Oberbürgermeister der deutschen Großstädte in Sachen der Fleischnot machen wollten, und der preußische Landwirtschaftsminister reißt über diese Fleischnot seine Witze mit „urwüchsigem Humor", wie ihm die „Kreuz-Zeitung" als echtes Junkerorgan schmunzelnd bescheinigt. Was schiert diese „Edelsten und Besten" eine allgemeine Landeskalamität, und wie sollten sie nicht selbst ihre innige Freude an ihr haben, wenn sie ihnen die Taschen bis zum Überfließen füllt?

Sie waren niemals anders, diese ostelbischen Junker, und den einen Ruhm muss man ihnen lassen, dass sie aus ihren Herzen keine Mördergrube zu machen pflegen. Gewiss spielen sie sich als die getreuen Kämpen für Thron und Altar auf, aber so sehr tragisch nehmen sie es damit auch nicht; will der Thron nicht, wie sie wollen, so ruhen sie nicht eher, als bis er sich zu ihnen bekehrt, und vom Altar lassen sie sich schon gar nicht dreinreden. Das einzige, was ihnen imponiert, sind derbe Prügel, wie sie ihnen vor hundert Jahren auf dem Schlachtfelde von Jena verabreicht wurden und dann auch 1848 auf den Berliner Barrikaden. Aber sonst ist diese Gesellschaft nicht zu zähmen; über bewegliche Vorstellungen und gute Worte lacht sie höchstens; ihr imponiert nur die Gewalt, die sie hart an die Kandare nimmt, und eine solche Gewalt gibt es im preußisch-deutschen Gemeinwesen nicht oder noch nicht.

Wir müssen gestehen, dass wir für die sentimentalen Klagen der liberalen Presse über die Abweisung der Oberbürgermeister durch den Reichskanzler nur ein mäßiges Interesse empfinden. Hatten die Petenten wirklich etwas anderes erwartet von einem Reichskanzler, der doch lange und oft genug gezeigt hat, dass er nichts ist als eine Puppe in der Hand des Junkertums? Und wenn sie sich wirklich noch zu ihm bemühen sollten, obgleich er ihnen mit dem Zaunpfahl abgewinkt hat, glauben sie denn, dass sie auf diesem Wege auch nur so viel erreichen werden, als ein Spatz auf seinem Schwanze fort zu tragen vermag? Fürst Bülow wird sie mit einigen glatten Redensarten abspeisen und sie höflich zur Tür hinauskomplimentieren, in die er sie nur mit offensichtlicher Missachtung hineingelassen hat. Sie werden zum Schaden noch den Spott haben, und zwar von Rechts wegen, denn es ist eine Torheit, sich an einen Mann zu wenden, der ihnen nicht helfen will und nicht einmal helfen kann, während sie selbst sich sehr wohl helfen könnten, wenn sie sich nur helfen wollten.

Die großen Städte sind eine Macht, die etwas ausrichten könnte, auch gegen die Junker. In ihnen konzentrieren sich mehr und mehr die Machtmittel der kapitalistischen Gesellschaft, denen auf die Dauer die Machtmittel des Staats, über die das Junkertum einstweilen noch verfügt, nicht gewachsen sind. Was könnte Berlin allein ausrichten, wenn es auch nur ein wenig von dem bürgerlichen Selbstbewusstsein besäße, das Paris und London oft genug bewiesen haben? Allein das sind Träume und Schäume, die sich nicht verwirklichen werden. Der Oberbürgermeister von Berlin hat sich ohne alles Murren in Rollen gefallen, in denen er von dem ersten besten Höfling nicht zu unterscheiden war, und das gleiche gilt mehr oder minder von den Häuptern aller deutschen Großstädte.

Von dieser Seite ist also auf nichts zu hoffen. Sollen die Junker Vernunft lernen, so muss ihnen ganz anders eingeheizt werden, und dazu ist nur die Arbeiterklasse entschlossen und fähig. Sie allein führt den Kampf gegen das Junkertum, wie er geführt werden muss, um diese hartnäckige und um ihre historische Existenz kämpfende Klasse zu besiegen. Aber leicht wird es auch für sie nicht werden, die Brotwucherer niederzuzwingen. Sie haben sich gut verschanzt, nicht nur am Hofe, nicht nur in der Armee, nicht nur in der Bürokratie, sondern auch im Reichstage. Solange in einem Parlament, das durch das allgemeine, gleiche Stimmrecht gewählt worden ist, eine Mehrheit von Brotwucherern herrscht, solange muss sich die Masse der Nation damit bescheiden, dass sie selbst den Wolf des Hungers in ihre Hürden gerufen hat.

Die eigentliche Hungerkur wird erst beginnen, wenn die neuen Handelsverträge in Kraft getreten sein werden. Aber die Fleischnot lastet schon so schwer auf den Massen, dass sie die Rebellion gegen die Junker bis in die letzte Hütte tragen sollte und hoffentlich auch tragen wird. Mit allergehorsamsten Vorstellungen an Kanzler und Minister ist nichts geholfen; so was trübt den „urwüchsigen Humor" der Lebensmittelwucherer nicht. Aber ein Massenaufgebot gegen die Urheber der bittern Not, das wirkt schon anders, das ist jene Fraktur, in der mit den Junkern gesprochen werden muss. Als regierende Klasse wissen sie sehr gut, dass sich am letzten Ende eine große Nation doch nicht gegen ihren Willen regieren lässt, dass selbst die zynischen Witze ihres geliebten Pod spurlos verdampfen, wenn der gerechte Groll der Massen bis zur Weißglut geschürt ist.

Traurig genug, dass nach hundert Jahren nach der Schlacht bei Jena solche Erwägungen angestellt werden müssen! Damals lag das ostelbische Junkertum zerschmettert am Boden, und die bürgerlichen Klassen brauchten ihm nur den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust zu drücken. Jedoch dazu hatten sie weder die Einsicht noch den Mut, und sie ließen sich wieder mit Gott für König und Vaterland in den alten Sumpf zurücktreiben. Heute ist auf sie weniger denn je zu rechnen, und die Arbeiterklasse hat die historische Aufgabe, das Joch des Junkertums zu brechen; sie ist auch die nächste dazu, denn auf ihrem Nacken lastet dies Joch am schwersten.

Die Versäumnisse eines Jahrhunderts lassen sich nicht in wenigen Wochen einholen; wir dürfen nicht darauf rechnen, dass, wenn wir den Jahrhunderttag von Jena feiern, das ostelbische Junkertum schon so am Boden liegt, wie es einst die französischen Heere niedergeworfen hatten. Aber dafür können wir sorgen, dass es sich in Jahr und Tag wenigstens nicht mehr mit dem frechen Zynismus über die von ihm verschuldete Not der Massen hinwegzusetzen wagt, worin es sich heute leider noch gefallen darf.

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