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Franz Mehring 19050418 Maifeier und Berggesetznovelle

Franz Mehring: Maifeier und Berggesetznovelle

18. April 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 97-100. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 38-42]

Die Maifeier des Proletariats trifft in diesem Jahre mit einem schnöden Gewaltstreich zusammen, den die verbündeten Land- und Schlotjunker gegen die deutschen Bergarbeiter planen. Auf den ersten Blick scheint es nur ein äußerliches Zusammentreffen zu sein, aber ein tieferer Zusammenhang tut sich auf, wenn man erwägt, dass seit der vorjährigen Maifeier aus der deutschen Arbeiterklasse einige Stimmen laut geworden sind, die sich grundsätzlich dafür ausgesprochen haben, den Maitag als eine proletarische Massenkundgebung überhaupt aufzugeben.

Diese Stimmen haben sich aus den Kreisen der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung erhoben. Ob oder inwieweit sie im Namen dieser Bewegung zu sprechen berechtigt waren soll hier nicht untersucht werden; darüber wird voraussichtlich der Gewerkschaftskongress, der im Laufe des Monats Mai stattfindet, die nötige Aufklärung schaffen. Von den Argumenten aber, die für die Beseitigung der Maifeier vorgebracht worden sind, lässt sich nur sagen, dass mit ihnen nicht viel Staat zu machen ist. Sie laufen wesentlich darauf hinaus, den wohlfeilen Spott der bürgerlichen Gegner über die Maifeier zu wiederholen, als sei sie nur ein Kaffeekränzchen oder ein Bierskat, ohne jede politische oder soziale Bedeutung. Für eine so gleichgültige Sache aber empfindliche Opfer zu bringen, könne man den Gewerkschaften nicht zumuten, die ihre Mittel für ungleich wichtigere Zwecke zusammenhalten müssten.

Diese ganze Beweisführung leidet nun aber an einem offenbaren Widerspruch. Wäre die Maifeier in der Tat nur ein Kaffeekränzchen oder ein Bierskat, so würde sie den Gewerkschaften keine empfindlichen Opfer auferlegen; legt sie ihnen aber empfindliche Opfer auf, so muss sie mehr als ein Kaffeekränzchen oder ein Bierskat, so muss sie eine politische Kundgebung sein, deren Teilnehmer vor ernsthaften Konflikten mit dem Kapital nicht zurückschrecken. Solche Klagen, wie sie von einzelnen gewerkschaftlichen Beamten laut geworden sind, enthalten im Grunde eine Schmeichelei für die Maifeier, und es kann sich nur noch um die Frage handeln, ob die Opfer in richtigem Verhältnis zu dem Preise stehen, ob die Maifeier der Arbeitersache so viel bietet, wie sie ihr kostet. Diese Frage lässt sich nicht ziffermäßig beantworten, aber das Schicksal der Berggesetznovelle wirft ein sehr belehrendes Licht auf die Brüchigkeit der Argumente, mit denen die Maifeier von gewerkschaftlicher Seite angefochten worden ist.

Man will gewerkschaftliche Gelder nicht mehr für eine politische Kundgebung ausgeben, ein an sich durchaus anerkennenswerter Grundsatz, wie denn überhaupt kein Zweifel daran gestattet ist, dass die Abneigung, die manche gewerkschaftliche Beamte gegen die Maifeier bekundet haben, durchaus pflichtmäßiger Sorge für die ihnen anvertrauten Interessen entspringt. Allein man vergisst dabei, dass die gewerkschaftliche und die politische Arbeiterbewegung, sosehr jede ihren besonderen Weg gehen muss, um ihre ganze Kraft zu entfalten, doch einer Wurzel entspringen und auf ein Ziel steuern. Sie sind aufeinander angewiesen wie zwei Arme desselben Körpers. Das ist auf jedem Blatt einer vierzigjährigen Geschichte zu lesen, aber wer es daraus noch nicht gelernt hat, der kann es aus der Geschichte der Berggesetznovelle lernen. Der große Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet ist so rein und streng wie vielleicht nie ein Streik als gewerkschaftlicher Kampf durchgeführt worden; nicht zum wenigsten die sozialdemokratischen Mitglieder der Siebener-Kommission1 haben ihm diesen Charakter aufzuprägen und zu erhalten gesucht. Dazu stand ihm die öffentliche Meinung auch der bürgerlichen Klasse so hilfreich zur Seite wie vielleicht auch noch niemals einem Streik. Gleichwohl hat er gewerkschaftlich mit einer totalen Niederlage geendet; die Bergarbeiter haben bedingungslos die Waffen strecken müssen, und daran würde auch nichts geändert worden sein, wenn sie noch über einige Millionen verfügt hätten, um den Streik noch ein paar Wochen fortführen zu können. Soweit er einen Erfolg hatte, hat er ihn auf politischem Gebiet errungen, indem er die Regierung zwang, ein Gesetz zu versprechen, das wenigstens den ärgsten Beschwerden der Bergarbeiter abzuhelfen versprach.

Allein auch dieser politische Erfolg ist schnell zerronnen. Die Regierung konnte freilich ihr Wort nicht brechen, aber sie erfüllte es nur in der notdürftigsten Weise, durch die Berggesetznovelle, die auf dem Bergarbeitertag in Berlin mit Recht äußerst gering eingeschätzt worden ist. Jedoch auch mit den geringen Fortschritten, die sie enthielt, hat die Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses gründlich aufgeräumt; sie hat sich nach ihren Kräften bemüht, aus dem Entwürfe, soweit er etwa ein Arbeiterschutzgesetz genannt werden konnte, ein Arbeitertrutzgesetz zu machen. Es ist möglich oder sogar wahrscheinlich, dass sich das Gros der Land- und Schlotjunker im preußischen Abgeordnetenhause schließlich etwas mäßigen wird, natürlich nicht aus Liebe für die Arbeiter, sondern um einen ihnen so dienstwilligen „Staatsmann", wie den Grafen Bülow, noch möglich zu erhalten, der, wenn es bei den Beschlüssen der Kommission bliebe, nach all den feierlichen Versprechungen, womit er den Bergarbeiterausstand zu beschwichtigen gesucht hat, die lächerlichste Person in ganz Europa werden würde. Aber selbst wenn es dazu käme, was ja auch noch keineswegs sicher ist, so würde es sich nur um ein Minimum an Reformen zugunsten der Bergarbeiter handeln, um ein Minimum, das kaum noch mit der Lupe entdeckt werden könnte, sondern nur dem Reichskanzler die Möglichkeit schaffen würde, mit dem nötigen Aufwande seiner beliebten rhetorischen Mätzchen so zu tun, als habe er sein Versprechen eingelöst.

Der Hergang dieser Dinge ist gewissermaßen ein klassisches Beispiel dafür, wie sehr die gewerkschaftliche und die politische Arbeiterbewegung aufeinander angewiesen sind. Gewiss hat der große Bergarbeiterstreik im Ruhrrevier die Regierung so auf die Finger gebrannt, wie es eine politische Kundgebung der Arbeiterklasse nicht leicht hätte tun können, aber den damit erzielten Erfolg aufrechtzuerhalten, ihn nicht zu einer neuen Täuschung des Proletariats werden zu lassen, das kann die Arbeiterbewegung nicht mit ihrem gewerkschaftlichen Arm leisten, dazu bedarf sie politischer Macht. Und deshalb ist es von gewerkschaftlicher Seite ein schwerer Missgriff, die Maifeier anzutasten, die von vornherein, als eine Kundgebung für den Achtstundentag, dessen die gewerkschaftliche Bewegung nicht zu entraten vermag, während ihn die politische Arbeiterbewegung erobern muss, gleichermaßen die beiden großen Zweige des proletarischen Klassenkampfes berücksichtigt.

Bekanntlich hat der Maitag, sosehr er eine gemeinsame Kundgebung des internationalen Proletariats ist, doch in den verschiedenen Ländern, gemäß ihren verschiedenen Entwicklungsstufen, einen besonderen Charakter erhalten. Die deutsche Arbeiterklasse ist dabei gewissermaßen auf der mittleren Linie gegangen, wenn auch freilich nicht im Sinne des Grafen Bülow. Sie hat nicht, wie die englische Arbeiterklasse, die Maifeier von vornherein auf den ersten Sonntag im Mai verschoben, noch auch hat sie die allgemeine Arbeitsruhe so stark, wie die österreichische Arbeiterklasse, in den Vordergrund geschoben. Als sich unsere österreichischen Genossen vor langen Jahren einmal über die angeblich laue Haltung der deutschen Arbeiter zur Maifeier beschwerten, hat Bebel das Gesetz dieser Erscheinung in die richtigen Worte zusammengefasst, dass überall, wo die Arbeiterklasse die Macht besitze, auf die politischen Angelegenheiten ihres Landes durch die Stimmzettel und durch ein gewisses Maß von Press-, Vereins- und Versammlungsfreiheit einzuwirken, der Wert bloßer Demonstrationen desto kühler angesehen werde, je wirksamer sich der aktive politische Kampf erweise. Unter diesen Gesichtspunkten ist der Widerstand, der sich in der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung gegen die Maifeier geltend macht, ein erfreuliches Zeugnis für das Wachstum ihrer Kraft; sie glaubt genügend erstarkt zu sein, um auf den Wert bloßer Kundgebungen verzichten zu können. Aber sie überschätzt dabei ihre Macht, wie das Schicksal der Berggesetznovelle zeigt; ohne den Hebel der politischen Gewalt wird sie die lastende Wucht des koalierten Kapitals nicht von der Stelle rücken.

Auf der anderen Seite sind auch die politischen Rechte der Arbeiterklasse in Deutschland keineswegs so ausgiebig und namentlich nicht so gesichert, dass sie des „Druckes von außen" entbehren könnten. Diesem Drucke ist es in erster Reihe zu danken, dass die Scharfmacher mit ihrem eifrig betriebenen Spiele dennoch nicht ans Ziel gelangen. Wie wenig sich die edle Sippe daraus macht, das parlamentarische Recht nieder zu rennen, hat sie in der Dezembernacht von 1902 bewiesen2. Es ist die Angst vor den drei Millionen und ihrer urwüchsigen Kraft, die den Scharfmachern immer noch rechtzeitig in die Arme fällt, wenn sie die paar Rechte der Volksmassen abwürgen wollen. Und wie wenig diese Rechte noch besagen, wie ohnmächtig das deutsche Proletariat auf weiten und wichtigen Gebieten der Gesetzgebung noch ist, das hat das Schicksal der Berggesetznovelle abermals gezeigt.

Entsprechend diesen Verhältnissen hat sich die Maifeier in Deutschland historisch entwickelt. Die deutschen Arbeiter haben sie nicht über das notwendige Maß hinaus zu einer Kraftprobe gemacht, bei der die Verluste den Gewinn überwiegen konnten, aber sie haben auch niemals vergessen, dass die würdigste Feier des Maitags allerdings die Arbeitsruhe ist. An diesem Verhältnis etwas zu ändern liegt durchaus kein Grund vor. Ein Verzicht auf die Maifeier in der Form, wie sie bisher in Deutschland bestanden hat, wäre nur ein Gaudium für die Bourgeoisie. Gewiss bemüht sie sich jetzt krampfhaft, die Maifeier als ein Kaffeekränzchen oder einen Bierskat hinzustellen, aber wenn die deutschen Arbeiter selbst die Hand an die Maifeier legen würden, so würde sie aus einem ganz anderen Loche pfeifen, so würde sie ein lautes Triumphgeschrei erheben, das ganz anders aus ihrem Herzen käme als die abgeschmackten Witzeleien, mit denen sie jetzt die Maifeier lächerlich machen möchte.

Wir hoffen, dass es dazu nicht kommen wird. Gerade die gegenwärtige Maifeier kann in glänzendster und wirksamster Weise das Recht aufs Dasein beweisen, das dieser Kundgebung des internationalen Proletariats innewohnt, indem sie eine gewaltige Demonstration richtet gegen das schnöde Spiel, das die Land- und Schlotjunker mit den verratenen Bergarbeitern treiben. Den blindwütenden Eigentumsfanatikern mag sie dadurch wenig imponieren, denn in diesen Kieselherzen findet die Stimme der Vernunft sowenig einen Widerhall wie die Stimme der Menschlichkeit. Aber wenn sich am ersten Mai Millionen deutscher Arbeiter erheben, um das schmähliche Unrecht zu brandmarken, das im preußischen Geldsackparlament verübt werden soll, dann wird selbst der Feuilletonwitz des Grafen Bülow begreifen, dass der frivole Scherz, der etwa mit dem „Sozialen Königtum" getrieben werden sollte, sich bitter rächen wird an jedem Königtum.

1 Gemeint ist die Generalkommission der (freien) Gewerkschaften, die bei ihrer Gründung 1890 sieben Mitglieder umfasste. Noch Jahre später wurde sie so genannt, obwohl sich die Anzahl der Kommissionsmitglieder erhöht hatte (bis 1914 auf 13).

2 Dezembernacht von 1902 – „Im Reichstag kämpfte die sozialdemokratische Fraktion mit allen ihr zu Gebote stehenden parlamentarischen Mitteln gegen die Annahme des Zolltarifs. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes im Reichstag ergriffen 30 Mitglieder der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 250 Mal das Wort, um den volksfeindlichen Charakter des Zolltarifs in allen Einzelheiten darzulegen. Auch die Freisinnige Vereinigung nahm gegen das Zollgesetz Stellung. Die Regierungsparteien schlugen jedoch die Opposition der Sozialdemokratie und der Freisinnigen unter Bruch der Geschäftsordnung nieder und legten damit den Weg für die Annahme des Zolltarifs frei. Am 14. Dezember 1902 wurde der Tarif mit 202 gegen 100 Stimmen der Sozialdemokratie, der Freisinnigen Vereinigung, der Freisinnigen Volkspartei, der süddeutschen Volkspartei und einiger Agrarier verabschiedet." (Fritz Klein: Deutschland von 1897/98 bis 1917, Berlin 1963, S. 94/95.)

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