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Franz Mehring 19050531 Parlamentarismus und Proletariat

Franz Mehring: Parlamentarismus und Proletariat

31. Mai 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 297-300. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 46-50]

Die große Seeschlacht in der Koreastraße drängt das Interesse an allen Tagesfragen in den Hintergrund; der Atem einer weltgeschichtlichen Entscheidung weht durch die Völker des Erdballs, und eine gewaltige Zukunft drängt heran, nachdem die Pranken zerschmettert worden sind, mit denen der zarische Despotismus noch um den Sieg kämpfen konnte. Nun, da er nur noch konvulsivisch um sein nacktes Dasein ringen kann, wachsen auch gewaltig die Aufgaben der russischen und mit ihnen die Aufgaben der internationalen Revolution, von denen es nicht heißen darf, dass der große Augenblick ein kleines Geschlecht gefunden habe.

Freilich wenn man am Maße der deutschen Volksvertretung messen will, deren Session durch einen urplötzlichen Beschluss der Regierung beendigt worden ist, so kann man nicht behaupten, dass die deutsche Nation auf der Höhe der historischen Situation stände. Es ist so etwas wie ein Verfaulen des bürgerlichen Parlamentarismus bei lebendigem Leibe, was sich am deutschen Reichstag vollzieht. Seine Verhandlungen sind auch der bürgerlichen Welt, und gerade ihr, längst zum Ekel geworden; niemand liest sie mehr, als wer berufsmäßig dazu gezwungen ist, und die beiläufigste Sensation des Tages läuft ihnen den Rang ab. Man kann tausend gegen eins wetten, dass die Hofansage für eine historisch und politisch so gleichgültige Sache, wie eine demnächst stattfindende Hochzeit im Hause des Kaisers ist, in den „Kreisen von Besitz und Bildung" gründlichere und zahlreichere Leser gefunden hat als die Berichte über die Reichstagsverhandlungen des ganzen Winters zusammengenommen.

Oft ist darauf hingewiesen worden, dass die Beteiligung der Arbeiterklasse an den Reichstagswahlen und damit auch am Reichstag selbst dieser Körperschaft neues Leben eingehaucht habe. Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig, aber eben doch nur bis zu einem gewissen Grade. Der bürgerliche Parlamentarismus ist ein bürgerliches Gewächs, und nur aus seinem mütterlichen Boden vermag er eigene und frische Kraft zu saugen. Versagt dieser Boden, so kann ihm solche Kraft nicht von außen eingeimpft werden; das Blut des Proletariats muss auf die Dauer vertrocknen, wenn es in die verschrumpfenden Adern eines bürgerlichen Parlamentes übergeführt werden soll. So lässt sich der Verfall der deutschen Volksvertretung aufhalten, aber verjüngen lässt sich der Reichstag auf diese Weise nicht.

Es war eine grobe Ungezogenheit und ein Hohn auf die Verfassung, aber es war deshalb noch keine historische Unwahrheit, als vor dreißig Jahren Ludwig Bamberger den ersten größeren Trupp von Sozialdemokraten, der in den Reichstag gelangte, als „Gäste" ansprach, die sich fein artig zu benehmen hätten, wenn die Hausherren nicht kurzes Federlesen mit ihnen machen sollten. Auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus ist das Proletariat zwar kein willkommener und am wenigsten ein bequemer, aber immerhin nur ein „Gast", den man mit mehr oder weniger guten Mienen zum bösen Spiele duldet, weil man ihn dulden muss, aber den man weit entfernt ist, als Kind des Hauses zu betrachten, weil man ihn dafür gar nicht zu erkennen braucht. Wie einst die bürgerliche Opposition in den feudalen Ständekammern eine illegitime Opposition war, die sich nicht ausrecken konnte, ohne den verrotteten Bau zu zertrümmern, so wird der proletarische Emanzipationskampf das Gebäude des bürgerlichen Parlamentarismus sprengen, und ebendeshalb wird er, solange er zu dieser entscheidenden Leistung noch nicht fähig genug ist, in diesen Mauern niemals seine ganze oder auch nur seine eigentümlichste Kraft entfalten können. Diese Kraft wird immer viel urwüchsiger in der gewerkschaftlichen und politischen Organisation leben, die er sich selbst schafft, in souveräner Machtvollkommenheit, nicht zwar von Gottes, aber von der Geschichte Gnaden.

Die Arbeiterklasse muss ihren Befreiungskampf auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft führen und somit auch auf dem Boden des bürgerlichen Parlamentarismus. Allein sie sinkt nicht mit, wenn dieser Boden versinkt, denn sie hat ihre Hütten auf festeren Grund gebaut. Sicherlich könnte es ihr lieber sein, wenn andere Einrichtungen des Klassenstaates eher verfielen als der bürgerliche Parlamentarismus, so etwa die Monarchie, aber dies zu entscheiden liegt nicht in ihrer Macht; verliert der deutsche Reichstag nicht zum wenigsten deshalb jedes Ansehen, weil er sich keine selbständige und unabhängige Stellung gegenüber der Krone zu sichern weiß, so kann ihm das Proletariat nicht ein Rückgrat steifen, woran es ihm so gänzlich fehlt. Überaus charakteristisch sind in dieser Beziehung die Umstände, unter denen der Reichstag eben geschlossen worden ist. Vierundzwanzig Stunden, ehe es geschah, ahnte er noch nichts von dem, was kommen sollte; nur etwa so viel Zeit früher, als jedem armen Sünder zur Verdauung der Kunde gewährt wird, dass er an den Galgen gehenkt werden soll, wurde ihm mitgeteilt, dass die Session nicht, wie er selbst wünschte, vertagt, sondern vielmehr geschlossen werden solle. Der Präsident der allezeit getreuen Körperschaft aber nahm den unerforschlichen Ratschluss der Regierung mit demütig gekrümmtem Rücken hin und verbreitete ehrfurchtsvoll die tröstliche Mär, aus „gereizter" Stimmung sei der Reichstag nicht wie eine Klippschule nach Hause geschickt worden.

Aus „gereizter" Stimmung in der Tat nicht, sondern aus der tiefen staatsmännischen Erwägung, es vertrüge sich nicht mit dem Geiste der Reichsverfassung, dass der Reichstag durch fortgesetzte Vertagungen sozusagen zum Schrecken aller Schrecken würde, zu einem „Reichstag in Permanenz". Niemals zeigen sich unsere Regierungen von einer großartigeren Seite, als wenn sie anfangen, „verfassungsmäßig" zu denken und zu handeln. Was dazu geführt hat, die einzelnen Sessionen des Reichstags nicht zu schließen, sondern zu vertagen, ist die chronische Beschlussunfähigkeit des Hauses, die es nicht mehr gestattet, ganze Arbeit zu machen, sondern die dazu zwingt, die einmal angesponnenen Fäden mühsam zu erhalten, bis sie zu gelegener Stunde abgesponnen werden können. Die chronische Beschlussunfähigkeit des Reichstags wurzelt aber – wenn auch keineswegs allein, und selbst nicht einmal in erster Reihe, aber zum großen Teile – in dem Mangel an Diäten, der sicherlich im schroffsten Gegensatz zum „Geiste der Reichsverfassung" steht, jedoch das verfassungstreue Gewissen der verbündeten Regierung noch nie im leisesten beunruhigt hat. Dies Gewissen wird erst rebellisch, wenn ein „Reichstag in Permanenz" droht, wenn die einzelnen Sessionen nicht geschlossen, sondern nur vertagt werden, um überhaupt noch irgendwelche parlamentarische Arbeit fertig zu bringen, wenn die Eisenbahnfreikarte der Reichstagsabgeordneten aus einem, im Sinne der Regierungen, vorübergehenden Übel ein dauerndes Übel zu werden verspricht. Von der Höhe und Weite der staatsmännischen Erwägungen, die deutsche Minister in ihren untadeligen Gemütern wälzen, hat der profane Untertan nicht leicht eine zutreffende Vorstellung.

Eine „gereizte" Stimmung haben sie deshalb doch nicht gegen den bürgerlichen Parlamentarismus, mögen sie ihn auch noch sosehr von oben herab behandeln. Für den preußischen Landtag hat der Reichskanzler sogar eine Art zärtlicher Vorliebe, wie er eben in Sachen der Berggesetznovelle bewiesen hat. Graf Bülow hat es sich ruhig gefallen lassen, dass ihm die Vertretung der preußischen Geldsäcke das kümmerliche Almosen vollends verschandelt hat, womit er sich von den feierlichen Verpflichtungen lösen wollte, die er zur Beschwichtigung des großen Bergarbeiterstreiks eingegangen war. Es gibt wirklich noch einen Punkt, wo die deutschen Regierungen „parlamentarisch" zu denken und zu handeln wissen, nämlich wenn es darauf ankommt, sich sanfte Daumschrauben anlegen zu lassen gegenüber den Zugeständnissen, die ihnen eine kraftvolle Bewegung der Massen entrissen hat. Da sind sie „konstitutionell" vom Wirbel bis zur Zehe. Und nichts kennzeichnet treffender die historische Stellung des deutschen Parlamentarismus, als dass er sich praktisch nur als brauchbar erweist, wenn er als Hemmschuh für den Staatswagen dienen soll, den die Kraft der Arbeiterklasse einmal mit einem plötzlichen Ruck von der Stelle geschoben hat.

Für den Reichstag war es freilich noch eine Art Kompliment, dass er dem Reichskanzler für diesen schmählichen Dienst doch nicht schlecht genug erschien; und auch die Scheu der Regierungen vor dem „Reichstag in Permanenz" ist nicht ganz eine leere Vorspiegelung. Das allgemeine Stimmrecht ist nun einmal ein besonderes Ding, selbst in der verkrüppelten und verstümmelten Form, worin die Massen der deutschen Nation es nur erst besitzen, und verglichen mit den Klassenvertretungen der Einzelstaaten hat der Reichstag immer noch einen Trumpf in der Hand, den er nur auszuspielen brauchte, um doch mehr zu sein als bloß ein Feigenblatt des Absolutismus. Aber um so schmählicher für ihn, dass er sein Schwert, dessen bloßes Blinken die Regierungen bei alledem fürchten, aus freien Stücken abstumpft durch die selbstmörderische Erklärung seines Präsidenten, es sei aus keiner „gereizten" Stimmung, dass die Regierungen den „Reichstag in Permanenz" nicht haben wollen.

Der Verlauf des Kölner Gewerkschaftskongresses hat in der sozialdemokratischen Tagespresse zahlreiche Klagen über die abflauende, sich in Kleinigkeiten und selbst Kleinlichkeiten verlierende Kampfesstimmung der deutschen Arbeiterklasse hervorgerufen. Es ist hier nicht der Ort, das Maß der Berechtigung zu untersuchen, das diesen Klagen innewohnt; soweit sie aber berechtigt sind, spielt dabei die Überschätzung des bürgerlichen Parlamentarismus mit, Überschätzung natürlich nicht in dem Sinne, dass man von den bürgerlichen Parteien mehr erwartet, als sie leisten können, aber in dem Sinne, dass man von dem bürgerlichen Parlamentarismus mehr erwartet, als er leisten kann, wenn man ihn auch nur als bloßes Kampffeld für die proletarischen Interessen betrachtet. Es ist nicht bloß ein zeitlicher Zusammenhang, wenn der bürgerliche Parlamentarismus in dem Maße verfällt, wie sich die Arbeiterbewegung kräftig entwickelt, und es liegt eine ernste Lehre darin, dass sich die hippokratischen Züge des deutschen Reichstags niemals krasser ausgeprägt haben als in den 193 Sitzungen, die er nunmehr seit dem großen Dreimillionensieg der deutschen Sozialdemokratie abgehalten hat.

Auch hier treibt die historische Entwicklung ihr dialektisches Spiel: Die neue Kraft, die dem bürgerlichen Parlamentarismus aus fremdem Erdreich zugeführt wird, offenbart nur, wie völlig erschöpft das alte Erdreich ist, worin er historisch wurzelt.

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