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Franz Mehring 19050405 Recht so!

Franz Mehring: Recht so!

5. April 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 33-37. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 28-33]

Die Katze lässt das Mausen nicht – und die wohlwollenden Ideologen der Bourgeoisie, die beileibe nicht das Klassenbewusstsein des Proletariats antasten, sondern ihm aus reinem Edelmut eine möglichst reiche Zufuhr an Bildung verschaffen wollen, gehören auch zur Bourgeoisie. Ob sie sich dessen nun bewusst sind oder nicht, so arbeiten sie daran, das Klassenbewusstsein der Arbeiter abzuschwächen und der modernen Arbeiterbewegung die Spitzen abzubrechen, die der Bourgeoisie wehe tun könnten. Unter dem Vorgeben, die Arbeiterklasse nicht in einer „geistigen Grenzsperre" verknöchern zu lassen, wird der Versuch gemacht, ihr geistig die Knochen im Leibe zu zerbrechen oder doch zu erweichen.

Bei einem Rückblick auf das letzte Jahrzehnt kann man leider nicht sagen, dass diese Bemühungen ganz erfolglos gewesen seien. Der Respekt vor Kunst und Wissenschaft wurzelt tief im Wesen der Arbeiterklasse, und sie denkt zu naiv – wir meinen das Wort hier im Sinne Schillers, wonach alle ursprüngliche Genialität naiv ist –, um gleich das Raffinement zu durchschauen, womit allerlei verfängliche Konterbande unter dem Deckmantel von Kunst und Wissenschaft in ihr sturmfestes Lager geschmuggelt werden soll. Um so erfreulicher ist es, dass sich nunmehr sehr energisch eine Reaktion gegen solche Versuche geltend zu machen beginnt, dass die gesunden Instinkte der modernen Arbeiterbewegung auch auf einem Gebiet durchgreifen, auf dem eher als auf jedem anderen blauer Dunst gemacht werden kann, aber sowenig wie auf jedem anderen blauer Dunst geduldet werden darf. Es ist nicht ohne Interesse, ein paar solcher Fälle aus der jüngsten Vergangenheit zu registrieren.

Der eine ist in Leipzig passiert. Er liegt verhältnismäßig einfach. Die Leipziger Genossen stehen bei den wohlwollenden Gönnern, die der modernen Arbeiterbewegung in der bürgerlichen Ideologie erwachsen sind, längst in dem schmeichelhaften Rufe, dass an ihnen doch Hopfen und Malz verloren sei; mit diesem melancholischen Stoßseufzer begann Pfarrer Naumann erst kürzlich eine Agitationsrede, die er in Leipzig hielt.

Aber vielleicht wurde dadurch erst recht der jugendliche Ehrgeiz eines Leipziger Dozenten gereizt, der nun gleich im Sturme erreichen wollte, was so erprobten Einseifungskünstlern, wie Herrn Naumann, im Laufe der Jahre nicht gelungen war. In einem halben Dutzend Vorträge, die dieser Herr Biermann in den Leipziger Volkshochschulkursen über Anarchismus und Kommunismus hielt, sollte den Leipziger Arbeitern der Star gestochen werden. Allein der kühne Ritter holte sich eine so gründliche wie komische Niederlage; er hatte zum Schaden noch den Spott, denn seichteres Zeug, als er über die soziale Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts zusammenredete, hatte seit langem nicht das Licht des Tages erblickt. Obendrein weigerte sich Herr Biermann zwar nicht selbst, aber ließ sich vom Professor Stieda, dem obersten Leiter der Kurse, verbieten, Fragen der Hörer zu beantworten, so dass jede Diskussion der Vorträge ausgeschlossen wurde. Darauf haben die Leipziger Arbeiter dieser „parteiisch gefärbten Wissenschaft" abgesagt, nicht jedoch, ohne den Volkshochschulkursen, soweit sie nicht Veranstaltungen zur höheren Ehre des Kapitalismus seien, sondern der Arbeiterklasse wissenschaftliche Erkenntnis zu vermitteln suchten, ihre Sympathie zu bezeugen.

Diese ebenso besonnene wie entschiedene Haltung der Leipziger Arbeiter veranlasst die bürgerliche Ideologie, soweit sie von Wohlwollen für die Arbeiterklasse trieft, zu den sonderbarsten Quersprüngen, aus dem durchschlagenden Grunde, weil sie vernünftige Einwände nicht dagegen vorzubringen weiß. Sie sagt, in extremen sozialdemokratischen Kreisen könne man sich gar nicht mehr vorstellen, dass ein anderer Mensch als ein „Genosse" ehrlich sein könne. Das ist, wie auf der Hand liegt, eine arge Verwechslung sehr einfacher Begriffe. An der Ehrlichkeit des Herrn Biermann zweifeln die Leipziger Arbeiter vermutlich gar nicht, jedenfalls haben sie öffentlich – und darauf allein kommt es an – einen solchen Zweifel nicht einmal mit einer Silbe angedeutet. Was sie ihm bestritten haben, das ist seine Unparteilichkeit, und dazu haben sie – auch wenn seine Vorträge vom kapitalistischen Standpunkt aus so geistreich gewesen wären, wie sie es nicht gewesen sind – einen durchschlagenden Grund. Es mag ja für die herrschenden Klassen sehr bequem und nett sein, dass sie die Lehrstühle der Universitäten allen sozialdemokratisch gesinnten Gelehrten verschließen, aber dann sollen sie sich gefälligst auch mit der Konsequenz abfinden, dass nunmehr kein Universitätslehrer mehr den Anspruch erheben darf, als unparteiische Leuchte der Wissenschaft über den proletarischen Klassenkampf zu sprechen.

Diese Schlussfolgerung ergibt sich gerade vom bürgerlichen Standpunkt aus. Denn weshalb verbürgt der „bürgerliche Rechtsstaat" die Unabsetzbarkeit der Richter? Doch nur deshalb, weil er dadurch die Unparteilichkeit der Rechtsprechung sichern zu können glaubt. Ob er sie wirklich sichert, das ist eine andere Frage, auf die es hier nicht ankommt. Wollte man sie verneinen, so würde das um so mehr gegen die Unparteilichkeit der Universitätsgelehrsamkeit in den Fragen der modernen Arbeiterbewegung sprechen. Denn ihr fehlt ja selbst die formale Garantie, die der Richterstand allerdings noch besitzt; sie fliegt ja unbarmherzig auf die Straße, sobald sie eine Meinung äußert, die dem Kapitalismus widerwärtig oder mindestens nicht mehr erträglich ist. Mögen also sämtliche Universitätslehrer in Deutschland von der lautersten Begeisterung für den Kapitalismus entbrannt sein, so hat doch nicht einer das Recht, sich zum unparteiischen Richter über Anarchismus und Kommunismus aufzuwerfen. Man sollte meinen, dass diese Herren in ihrer so wenig beneidenswerten Lage schon durch den einfachsten Takt behindert wären, ein solches Recht zu beanspruchen, aber wenn sie keinen Takt besitzen und gar in der Weise des Herrn Biermann die Arbeiter mit kapitalistischen Tiraden gegen proletarische Weltanschauungen behelligen, so müssen sie sich eben gefallen lassen, mit ihrer „parteiisch gefärbten Wissenschaft" abgewiesen zu werden.

Verwickelter, aber auch interessanter als der Fall in Leipzig lag der Fall in Bremen. Dort besteht ein Goethebund, der eine politisch-neutrale Vereinigung sein will und stolz darauf ist, Anhänger aller Parteien zu Mitgliedern zu haben. Er zählt mehrere moderne Gewerkschaften und den Verein für Volkskunstabende, einen auf proletarischer Basis stehenden Verein, zu den ihm angeschlossenen Vereinen. Daneben gehören ihm bürgerliche Korporationen ohne ausgesprochenen Parteicharakter an, wie Lehrer- und Lehrerinnenvereine, endlich auch bürgerlich-politische Vereine, wie die liberalen Bürgervereine. Solange sich nun der Goethebund darauf beschränkte, gute Konzerte oder Theatervorstellungen zu veranstalten, war nichts dagegen einzuwenden. Aber sein Ehrgeiz reichte weiter; er wollte, wie sein Vorsitzender, Prediger Kalthoff, erläuterte, die Aufgabe übernehmen, „in allen großen Fragen der Weltanschauung zur Klärung und Orientierung mitzuwirken, wobei allerdings die Propaganda für eine bestimmte politische oder kirchliche Partei ausgeschlossen" bleiben müsse. Und so berief er Herrn Professor Sombart nach Bremen, um einen Vortrag über Wirtschaft und Kunst zu halten und dabei, wieder nach Herrn Kalthoffs Ab- und Ansicht, über den historischen Materialismus als über „ein wichtiges Problem der modernen Welt- und Lebensanschauung" klärend zu orientieren.

Herr Sombart ging nun auch nicht schlecht ins Zeug, und zwar, wie ohne weiteres anerkannt werden soll, viel geschickter als Herr Biermann. Er schilderte, manchmal etwas schief, aber doch nicht ganz uneben, die kapitalistische Verseuchung der Kunst, schalt auf die „Denkmalspest" als das „schrecklichste Erlebnis unserer Zeit", dass es nur so eine Art hatte, und meinte, die künstlerische Kultur verkümmere in dem Maße, wie sich die kapitalistische Produktionsweise entwickle. Freilich verfiel Herr Sombart auch hier schon in den bekannten demagogischen Missgriff, das Kind gleich mit dem Bade zu verschütten. Er wollte die deutsche Kunst nur etwa bis zum Jahre 1850 (einschließlich Heines) gelten lassen, während die Arbeiter sich zwar keineswegs in Bausch und Bogen für die moderne Kunst zu begeistern, aber sehr wohl zu unterscheiden wissen, wo sich in ihr neue Lebenskraft zeigt und wo nicht.

Über den historischen Materialismus aber „klärte" und „orientierte" Herr Sombart in der Weise, dass er auf Marx zurückzuführen sei, allein infolgedessen an „unangenehmen Eigenschaften" leide. Erstens sei Marx ein ausgeprägter Sozialdemokrat gewesen, und so sei die materialistische Geschichtsauffassung scheinbar unzertrennlich auch mit dem Sozialismus verknüpft, während man sich zu ihr bekennen und gleichwohl reaktionär oder sozialistisch oder liberal sein könne. Zweitens aber habe Marx sie nur „ziemlich vage formuliert", denn die „begrifflich scharfe Formulierung" habe er nicht geliebt. Um zu zeigen, wie viel schärfer er „formulieren" könne, meinte Herr Sombart dann: „Ich halte es für eine gequälte Deutung der Geschichte, wenn man jede einzelne Erscheinung mühsam auf irgendein ökonomisches Motiv zurückzuführen trachtet… Es wäre lächerlich, wenn wir den ‚Faust' auf irgendein ökonomisches Motiv seines Schöpfers zurückführen wollten." Und so mit Grazie weiter in dem alten törichten Krimskrams, über den kein Wort mehr verloren zu werden braucht.

Dagegen erhob sich nun die Bremer „Bürgerzeitung", und Genosse Heinrich Schulz, der sie leitet, setzte sich in einer Reihe trefflicher Artikel mit Sombart auseinander. In ebenso ergötzlicher und treffender Weise kennzeichnet er Sombarts überhebende Redensarten gegen Marx, indem er schrieb:

Herr Sombart gehört zu jenen bürgerlichen Nationalökonomen, die das Beste, was sie zu bieten haben, der großen Denkarbeit von Marx und Engels verdanken. Aber sie erweisen sich nicht dafür dankbar, indem sie das Gelernte anwenden zur weiteren Erforschung der Geschichte und der Sozialzustände in der Richtung der Marxschen Gedankengänge. Sondern sie empfinden es im Gegenteil als recht peinlich, dass sie, die gelahrten Herren, die offiziellen Verkünder der Wissenschaft an den vornehmsten staatlichen Bildungsquellen, auf der von nicht ‚zünftigen' und noch dazu sozialistischen, umstürzlerischen Männern geschaffenen Basis stehen, und so sind sie eifrigst bemüht, diese Basis zu verhüllen dadurch, dass sie sie mit ‚selbst' erworbenen Decken und Teppichen zudecken. So lässt sich mancher Naive anführen: ‚Herr Sombart stände auf marxistischem Boden’ ‚I bewahre! Er steht ja auf seiner eigenen Fußmatte!' Der Naive denkt nicht sofort daran, dass Herr Sombart ohne den festen marxistischen Boden trotz aller seiner Decken und Teppiche elendiglich in der Tiefe verschwinden würde."

Im Allgemeinen führte Schulz aus, es gehe schlechterdings nicht an, dass Sozialdemokraten, wie es bei der gegenwärtigen Organisation des Goethebundes unvermeidlich sei, die Mitverantwortlichkeit für Bestrebungen trügen, die offensichtlich Verwirrung in die Arbeiterschaft zu tragen versuchten. Er forderte, dass die klassenbewussten Arbeiter Bremens dem Goethebund den Rücken kehren und eine eigene Organisation für ihre künstlerischen Bestrebungen schaffen sollten.

Darob natürlich große Entrüstung des Goethebundes und ebenso natürlich die bekannten Einschüchterungsmittelchen. Herr Kalthoff erklärte, wenn Schulz im Rechte sei, so seien „die vielen Lehrer, Juristen, Akademiker und Nichtakademiker", die geglaubt hätten, „der Arbeiterschaft zu dienen", mit ihrer Auffassung der „Arbeiterbildungsfrage" im Unrecht und könnten dann „nichts Eiligeres" zu tun haben, als ihre „ganze, nach dieser Seite hin entfaltete Tätigkeit einzustellen". Auch Herr Kalthoff – dessen verdienstvolle, an dieser Stelle wiederholt gewürdigte Schriften über das Christusproblem wir übrigens deshalb nicht antasten wollen – erhielt seine gebührende Antwort. Genosse Schulz beansprucht gewiss nicht, an schwerer Gelehrsamkeit mit dem Prediger Kalthoff oder dem Professor Sombart zu konkurrieren, aber seinen Goethe hat er besser kapiert als sie, und er wusste dem ganzen Goethebund heimzuleuchten nach dem Goetheschen Rezept: Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor.

Wenn wir ihn persönlich nennen und nicht das Bremer Parteiblatt als solches, so müssen wir von der sonst angemessenen Gewohnheit abweichen, weil Schulz den Kampf zunächst persönlich führen musste, da die Bremer Genossen von vornherein keineswegs alle auf seiner Seite standen. Es bedurfte mehrerer stürmischer Versammlungen, ehe sie sich entschlossen, eine eigene Organisation für künstlerische Zwecke einzurichten und allen „Klärungen" und „Orientierungen" vom Schlage der Herren Kalthoff und Sombart den Rücken zu kehren, wie nunmehr geschehen ist. Aber dass es dazu erst längerer Auseinandersetzungen bedurfte, gibt dem Falle doch eine gewisse nachdenkliche Bedeutung.

Denn man sollte niemals vergessen, dass die Katze mausen muss und dass auch der biederste Ideologe der Bourgeoisie seinen Profit verlangt, wenn er die Arbeiterklasse „klärt" und „orientiert". Im Grunde kann man es ihm nicht einmal verargen; Genosse Schulz hat auch darin Recht, wenn er schreibt:

Es sind Leute hervorragend am Goethebund beteiligt, bei denen ich – zu ihrer politischen Ehre – annehme, dass sie nicht ihren politischen Adam vom Kopfe bis zu den Füßen ausziehen können, sobald sie in eine Sitzung oder Versammlung des Goethebundes gehen. Ich schließe dabei allerdings von mir auf andere. Ich für meinen Teil gestehe offen zu, dass ich immer und überall Sozialdemokrat sein muss, ich kenne keine neutralen Gebiete im öffentlichen Leben, auf denen ich wirken könnte, ohne dass meine politische Gesinnung dabei ein Wort, und zwar das erste, mitzureden hätte."

Wozu wir unsererseits nur wiederholen können: Recht so!

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