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Franz Mehring 19050705 Reflexe der russischen Revolution

Franz Mehring: Reflexe der russischen Revolution

5. Juli 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 457-460. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 55-58]

Des Reiters Koller, Stück für Stück, zerfällt wie mürber Zunder" - dieser Vers aus Bürgers berühmter Ballade taucht unwillkürlich im Gedächtnis auf, wenn man die Nachrichten über die russischen Ereignisse liest, wie sie der elektrische Draht jeden Tag in sinnverwirrender Hast um den Erdball trägt. Durch dies wirre Konzert von vielfach noch unklaren und vielfach auch sich widersprechenden Berichten dringt dennoch sieghaft das Triumphlied der Revolution. Stück für Stück zerbricht sie die Gewalt einer asiatischen Despotie, und seit der Meuterei der Schwarzmeerflotte1 liegt es offenbar vor aller Welt Augen, dass die letzte Stunde des Zarentums geschlagen hat.

Grauenvoll wie sein Leben war, ist sein Tod. Es verwest bei lebendigem Leibe. Vergebens sucht man nach einem Zuge menschlicher Größe in seinem Sturze. Vom Zaren bis zum letzten Zarenknecht ist das Zarentum mit Feigheit und Verrat geschlagen; mit blöder Angst und Wut in den halb schon erloschenen Augen starrt es in den klaffenden Abgrund, der sich vor ihm aufgetan hat; nur noch im Morden Wehrloser kann es ein Leben betätigen, das wehrlos gegen den auswärtigen Feind, wehrlos gegen die Meuterei der eigenen Werkzeuge ist. Noch knattern seine Standrechtsschüsse, noch knarren die Tore seiner Kerker, noch verschlingt es Menschenleben, wie es deren seit den Tagen Iwans des Schrecklichen unzählige verschlungen hat. Aber zum letzten Mal schändet es das Angesicht der Erde durch seine Gräuel; der Tod sitzt ihm im Nacken und vernichtet schonungslos seine letzte Kraft.

Wird nun die europäische Reaktion ruhig zusehen, wie ihr „letzter Hort" verröchelt? Die Geschichte wiederholt sich nicht, und im Schlosse Pillnitz wird keine Monarchenzusammenkunft stattfinden, um eine bewaffnete Invasion in das revolutionäre Russland zu beschließen2. Wenn der Zarenthron rettungslos zusammenkracht, lässt keine europäische Macht marschieren. Um so weniger, als für die russische Revolution nicht die Notwendigkeit besteht, wie einst für die französische, über die Grenzen des Landes hinaus zu fluten. Die bürgerliche Revolution konnte sich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nur dadurch in Frankreich halten, dass sie mit der feudalen Trümmerwelt auf dem übrigen Kontinent aufräumte; die russische Revolution steht zunächst vor der Aufgabe, nachzuholen, was überall sonst auf dem Kontinent mehr oder weniger schon durchgeführt ist.

Auf der anderen Seite treibt in der russischen Revolution eine ganz andere Kraft als ehedem in der französischen. Proletarier mussten ihre Knochen zu Markte tragen, um den Thron der Bourbonen zu stürzen, wie heute Proletarier ihr Blut in Strömen vergießen müssen, um den Thron der Romanows wegzuschwemmen. Aber das russische Proletariat ist im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein anderes, als das französische Proletariat am Ende des achtzehnten Jahrhunderts war. Es lässt sich nicht mehr mit so spielender Leichtigkeit über seine Klasseninteressen hinwegtäuschen wie einst die Stürmer der Bastille. Das macht die russische Revolution freilich noch viel grauenvoller für das moderne Europa, als die Französische Revolution für das feudale Europa war. Allein die Lust, unberufene Finger in diese Pastete zu stecken, wird in demselben Maße abnehmen. Man mag davon träumen und man mag auch davon reden, aber deshalb ist bis zum Handeln ein nicht minder weiter Weg; auch bei der feudalen Invasion in das revolutionäre Frankreich im Jahre 1792 war die „ritterliche" Gesinnung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. kein Motiv, sondern nur eine Phrase.

Wenn aber auch die herrschenden Klassen des übrigen Europa nicht daran denken werden, sich durch tollkühne Abenteuer zu Väterchens Rettern und Rächern aufzuwerfen, so werden sie doch nicht tatlose Zuschauer bleiben beim Versinken ihres „letzten Hortes". Sie werden sich in ihren eigenen Ländern um so fester in den Sattel zu setzen versuchen, und eine neue Ära der Verfolgungen wird für die arbeitenden Klassen anheben, deren tiefe und unauslöschliche Sympathien der russischen Revolution gehören. Es ist kein Zufall, dass die Scharfmacher im Deutschen Reiche wieder Morgenluft spüren und für die nächste Zukunft große Taten der Sozialistenvernichtung verheißen. Es ist ihnen damit bitterer Ernst, und sie rühmen sich schwerlich ohne triftigen Grund, dass sich das schwankende Rohr der Regierung unter dem Winde beuge, den sie mit allen Blasebälgen machen.

Unter diesen Umständen kann man es nur mit doppelter Freude begrüßen, dass der Parteivorstand auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages3 die Erörterung des politischen Massenstreiks gesetzt hat und eben einen Aufruf erlässt, worin er zu Geldsammlungen für die Opfer der russischen Revolution auffordert, worin er zugleich erklärt, dass die deutsche Arbeiterklasse dem russischen und polnischen Proletariat einen vollen Erfolg seiner heldenmütigen Anstrengungen zum Sturze des russischen Despotismus und für eine neue, bessere und gerechtere soziale und politische Ordnung der Dinge im russischen Reiche wünsche. Es ist gerade die rechte Zeit, sich zu dem „heldenmütigen und unvergleichlichen Kampfe" zu bekennen, „den das russische und polnische Proletariat unter Führung unserer Genossen gegen das fluch- und schmachbeladene Regiment des russischen Zarismus führt". Je mehr sich die Scharfmacher in Drohungen ergehen, umso deutlicher muss ihnen gesagt werden, dass sie damit niemanden schrecken, oder höchstens eine Handvoll bürgerlicher Philister, aber am wenigsten die Arbeiter, die sie schrecken wollen.

Eine andere Notwendigkeit der Lage, die durch die russische Revolution geschaffen wird, ist der enge Zusammenschluss aller europäischen Arbeiterparteien. Sie alle haben das gleiche Interesse am Sturze des Zarismus, und sie alle stehen im Banne der Wirkungen, die von diesem weltgeschichtlichen Ereignis ausgehen. Je enger sie zusammenhalten, umso spurloser werden die Blitzstrahlen an ihnen abgleiten, die im hohen Olymp der Reaktion geschmiedet werden. In erster Reihe ist ein nahes Bündnis zwischen der deutschen und der französischen Arbeiterklasse notwendig, zumal da die Diplomaten beider Länder künstlich Zwist zwischen den beiden großen Kulturvölkern schüren, gerade in dem Augenblick, wo der drohende Schatten des Zarismus weicht, der allzu lange zwischen ihnen stand. Es ist deshalb ein glücklicher Gedanke, dass Jaurès zu den Berlinern und Bebel zu den Parisern sprechen soll, im Sinne eines gemeinsamen Hand-in-Hand-Gehens der deutschen und der französischen Arbeiterklasse gegen die eigensüchtigen und volksverräterischen Pläne der europäischen Diplomatie.

Inzwischen ist es fraglich geworden, ob Jaurès, dessen Rede auf den 9. Juli festgesetzt worden war, in Berlin wird sprechen können. Etliche Scharfmacher verlangen, dass er durch die Polizei daran gehindert werden soll, andere Leuchten derselben Zunft meinen jedoch, es sei schlauer, ihn sprechen zu lassen als einen Freund des Deutschen Reiches, der die Intrigen Delcassés gegen Bülow bekämpft habe, gewissermaßen von Gnaden der deutschen Regierung, und weil Jaurès ein ganz anderer Mann sei, maßvoller, patriotischer, verständiger als die deutschen Sozialdemokraten. Diese Biedermänner wollen also der beabsichtigten Kundgebung den revolutionären Kern ausbrechen, so gut das in ihren schwachen Kräften steht.

An und für sich ist nun dieser innere Zwist der Scharfmacher für uns gleichgültig. Wird die Versammlung verboten, so erzielt dies Verbot mindestens dieselbe Wirkung für den engeren Zusammenschluss der deutschen und der französischen Sozialdemokratie, wie eine noch so vortreffliche Rede, die Jaurès gehalten hätte, erzielt haben würde; wird die Versammlung aber nicht verboten, so binden die Motive, aus denen die Scharfmacher für dieses Mal ihren geliebten Polizeiknüppel haben ruhen lassen, nur sie und nicht uns. Insoweit ist die Sache ganz einfach und klar. Verwickelt wird sie erst dann, wenn von sozialdemokratischer Seite bewegliche Vorstellungen an die Einsicht oder den Patriotismus oder die Friedensliebe des Reichskanzlers gerichtet werden, um das polizeiliche Verbot zu verhindern. Denn wenn man diesen geistreichen Herrn in die Lage versetzt, von seinem Standpunkt aus mit einem gewissen Rechte zu sagen: Na, weil ihr eine gar so gute Meinung von mir habt, so will ich kein Spielverderber sein, so drückt man die beabsichtigte Kundgebung in der Tat von der politischen Höhe herab, in der sie geplant war, und sicherlich fehlt ihr dann jede revolutionierende Wirkung. Unter den schützenden Fittichen des Fürsten Bülow würde die Versammlung, gerade je „imposanter" sie verliefe, umso weniger imponieren.

Wir haben diese Bedenken nicht zurückhalten wollen, da sie den Verlauf der Dinge selbst nicht mehr beeinflussen können. Ehe diese Zeilen gedruckt worden sind, ist der 9. Juli vorüber. Die faktische Rücksicht auf die etwaige Schädigung einer einmal unternommenen Parteiaktion fällt also fort, und wir haben zu dem Fürsten Bülow das gute Zutrauen, dass er die Partie ergreifen wird, die uns dennoch auf unsere Kosten kommen lässt. Prinzipiell aber muss darauf gehalten werden, dass, je lauter die Scharfmacher zum Sammeln blasen, ihnen um so rücksichtsloser die scharfe Seite gezeigt wird, wie es der Parteivorstand in seinen beiden Kundgebungen aus dieser Woche getan hat.

1 Gemeint ist der Aufstand der Matrosen des Panzerkreuzers „Potjomkin" im Juni 1905. Lenin nannte den Aufstand die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte. Als die Lage des „Potjomkin" aussichtslos wurde, bat die Besatzung in Constanza um politisches Asyl.

2 Gemeint ist die Zusammenkunft des Kaisers Leopold II. mit Friedrich Wilhelm II. von Preußen am 27. August 1791 auf Schloss Pillnitz. In Anwesenheit der geflohenen Brüder Ludwigs XVI. wurde hier die „Pillnitzer Deklaration" abgegeben, die dem revolutionären Frankreich mit der militärischen Intervention zugunsten des französischen Königs drohte.

3 Gemeint ist der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der vom 17.-23. September 1905 in Jena abgehalten wurde. Im Mittelpunkt des Parteitages stand die Diskussion über den politischen Massenstreik.

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