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Franz Mehring 19050927 Regierung und Reichstag

Franz Mehring: Regierung und Reichstag

27. September 1905

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 63-67]

In den Verhandlungen des Jenaer Parteitags, die in der Arbeiterklasse mit Recht so große Befriedigung und deshalb, ebenfalls mit Recht, unter ihren Gegnern so lebhaften Unwillen hervorgerufen haben, ist auch vielfach das Problem des bürgerlichen Parlamentarismus gestreift worden. Wir sehen davon ab, dass von einem Redner die parlamentarische Tätigkeit als der Eckstein unserer Parteitätigkeit überhaupt bezeichnet wurde. Denn diese Ansicht dürfte so vereinzelt dastehen, dass ihre Kritik keinen praktischen Zweck haben würde. Von ungleich größerem Interesse waren manche Bemerkungen über die Stellung des Reichstags zur Regierung, und es lohnt sich wohl, ihnen auf den Grund zu gehen, da sie in ihrer mehr beiläufigen Fassung leicht Missverständnisse hervorrufen könnten.

So wurde gesagt, in den Tagen Bismarcks habe man wohl von einer vollständigen Ohnmacht des Reichstags sprechen können, auch in den Jahren Caprivis und selbst noch Hohenlohes, aber in den Tagen Bülows sei es anders geworden. Allmählich habe sich der Reichstag gegenüber der Regierung eine Position zu erobern gewusst; in einer ganzen Reihe von Fragen entscheide er tatsächlich, und die Regierung füge sich seiner Entscheidung. Was der Reichstag vom bürgerlichen Standpunkt, vom Standpunkt der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus notwendig haben müsse, das bekomme er. Bedauerlich sei nur, dass diejenigen, die das Regiment haben, nicht unsere Freunde, sondern unsere Gegner seien.

Das ist aber nicht sowohl „bedauerlich" als vielmehr notwendig. Denn ebendann wurzelt die Macht des Reichstags gegenüber der Regierung, dass er eine Organisation derselben herrschenden Klassen ist, die auch in der Regierung organisiert sind, aber dass er je nachdem die einseitigen Interessen dieser Klassen mit größerem Nachdruck durchsetzen kann, weil er angeblich die allgemeinen Interessen der Nation vertritt, während die Regierung tatsächlich durch diese allgemeinen Interessen immer bis zu einem gewissen Grade gebunden ist. Ohne der Redensart vom „Sozialen Königtum" auch nur das geringste Zugeständnis zu machen, so darf man doch die historisch immer wiederkehrende und psychologisch auch leicht erklärliche Tatsache nicht übersehen, dass eine noch so willige Regierung durch die praktischen Notwendigkeiten ihres Amtes zu sehr behindert ist, um sich so unbeschämter Klassenselbstsucht zu ergeben, wie unter Umständen eine Parlamentsmehrheit.

Erinnern wir uns der preußischen Landratskammern in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Man pflegt sie sprichwörtlich als Zerrbilder auf den bürgerlichen Parlamentarismus zu zitieren, aber wenn es je eine parlamentarische Herrschaft in Deutschland gegeben hat, so ist sie von ihnen ausgeübt worden. Sie haben tatsächlich den preußischen Staat regiert, indem sie das widerstrebende Ministerium Manteuffel auf der reaktionären Bahn unaufhaltsam vorwärts oder vielmehr rückwärts trieben. Sicherlich war Manteuffel kein liberaler Held, nicht einmal im schwächlichsten Sinne des Wortes, allein er war ein geschulter Bürokrat, der sehr wohl wusste, unter welchen Bedingungen sich in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts überhaupt nur noch regieren ließ, und [der] sich mehr oder minder widerstrebenden Herzens den feudalen Restaurationsversuchen der Landratskammer fügte. Jedoch wenn man daraus zu jener Zeit die Schlussfolgerung gezogen hätte, dass der preußische Parlamentarismus an Macht wachse, so wäre man wenige Jahre später eines anderen belehrt worden. Dasselbe preußische Abgeordnetenhaus, das dem Ministerium Manteuffel den Daumen aufs Auge gedrückt hatte, erwies sich völlig ohnmächtig gegenüber dem Ministerium Bismarck.

Es war nunmehr freilich nicht eine Organisation der herrschenden, sondern eine Organisation der beherrschten Klassen. Wie aber beherrschte Klassen oder genauer die beherrschte Bourgeoisie, um die es sich damals handelte, auf parlamentarischem Wege zur politischen Herrschaft gelangen könnte, das hat Lassalle in jenen Reden dargelegt, die heute noch den Kern aller Verfassungskunst und Verfassungsweisheit enthalten. Er führte aus, dass sich die bürgerliche Klasse der tatsächlichen Machtmittel bemächtigen müsse, wenn sie ein entscheidendes Wort mitreden wolle, aber er sagte auch voraus, dass die deutsche Bourgeoisie sich nie dazu aufschwingen werde. „Handelte es sich bei uns heute um die sozialen Freiheiten für die Bourgeoisie, um die es sich 1789 in Frankreich handelte, um die Kapitalfreiheit und alle jene materiellen Interessen, die mit ihr verbunden sind, nun, unsere Bourgeoisie würde vielleicht dieselbe Energie finden wie damals die französische. Aber um diese materiellen Fragen handelt es sich nicht mehr. Unsere Regierungen haben sich vorgesehen. Sie haben die soziale Seite der Revolution von 1789 von selbst und zum Teil seit lange eingeführt, und die bloß politische Freiheit vermag die Bourgeoisie nicht ins Feuer zu bringen, vermag sie nur zu frommen Wünschen und unschuldigen Redeübungen zu stimmen." Genauso ist es gekommen. An politischen Rechten besitzt der deutsche Reichstag noch weniger, als das preußische Abgeordnetenhaus vor vierzig Jahren besaß; selbst einen so bescheidenen Anspruch wie die Diätenforderung hat er in bald vier Jahrzehnten nicht durchzusetzen vermocht. Dagegen hat er von der Regierung bekommen, was er für die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise brauchte, wenn auch nicht erst unter Bülow, sondern schon unter Bismarck; es braucht nur an die wirtschaftliche Gesetzgebung von 1867 bis 1877 erinnert zu werden.

Auf diese Weise ist die deutsche Bourgeoisie mittelbar in die Reihe der herrschenden Klassen gelangt, das heißt unter völligem Verzicht auf alle unmittelbaren Herrschaftsansprüche. Kraft ihres wirtschaftlichen Übergewichts übt sie den nötigen Druck auf die Regierung aus, um ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen, allein weniger denn je denkt der bürgerliche Parlamentarismus daran, mit der Regierung um die politische Herrschaft zu ringen. Er fürchtet den Bundesgenossen, den er in diesem Kampfe finden würde, noch viel mehr, als er ihn schon vor vierzig Jahren fürchtete. Auf der anderen Seite sucht sich die Regierung, die recht gut weiß, dass sie am letzten Ende, so wie die Dinge heute liegen, von der Gnade der Bourgeoisie lebt, durch gesuchte Missachtung des Parlamentarismus, durch empfindliche Nadelstiche und Nasenstüber für eine Abhängigkeit schadlos zu halten, die sie innerlich als Demütigung empfindet. Als Beispiel dafür kann die skandalöse Art gelten, wie vor ein paar Monaten der Reichstag geschlossen wurde.

An diesem Verhältnis zwischen Regierung und Reichstag kann die Arbeiterklasse durch ihre Tätigkeit nichts ändern. Sie kann den bürgerlichen Parlamentarismus nicht über sich selbst treiben, schon deshalb nicht, weil er vor ihr ungleich größere Scheu hat als vor der Regierung. Die Bourgeoisie brauchte nur den Daumen auf ihren großen Geldbeutel zu halten, um sich die Regierung politisch zu unterwerfen, aber so hoch versteigt sich ihr Ehrgeiz niemals in ihrer bleichen Angst um die Gefährdung ihrer Kassenschränke durch die Arbeiterklasse. Seit vierzig Jahren hat der Reichstag niemals eine ernsthafte Geldforderung der Regierung abzulehnen gewagt, selbst wenn er sie für noch so überflüssig oder selbst schädlich hielt; höchstens gestattete er sich kleine Abstriche, die in ihrer Art ebenso die Freundschaft unterhalten wie kleine Geschenke. Diese Geldbewilligungsmaschine in ihrem endlosen Umtrieb zu hemmen, hat die Arbeiterklasse in ihrer parlamentarischen Betätigung gar kein Mittel. Ein etwas größerer Spielraum ist ihr in der Mitwirkung des Reichstags an der Gesetzgebung gegeben, obgleich sie auch hier gegenüber dem vereinten Widerstand der bürgerlichen Parteien und der Regierung einen auf die Dauer aussichtslosen Stand hat; wie oft haben gerade unsere arbeitsfreudigsten und ausdauerndsten Parlamentarier die melancholische Frage aufgeworfen, ob der Erfolg denn auch nur einigermaßen der endlosen Arbeit und Mühe entspräche?

Eine ausgedehnte zugleich und wirksame Tätigkeit können die parlamentarischen Vertreter der Arbeiterklasse dagegen in der Kontrolle der Verwaltung entwickeln, die neben der Geldbewilligung und der Mitwirkung an der Gesetzgebung zu den wesentlichen Aufgaben des bürgerlichen Parlamentarismus gehört. Hier haben sie praktisch um so Größeres geleistet, als die bürgerliche Opposition auch auf diesem wichtigen Gebiet zum großen Teile versagte. Indessen der bürgerliche Parlamentarismus bleibt immer an seine eigenen Grenzen gebunden. Drastisch traten die beiden Seiten der scharfen und unnachsichtlichen Kontrolle, die von den sozialdemokratischen Abgeordneten an der Reichsverwaltung geübt wird, vor einigen Jahren in den ziemlich gleichzeitigen Äußerungen zweier Gegner hervor. Naumann schrieb in der „Hilfe", Bebel habe sich durch seinen unermüdlichen Kampf gegen die Soldatenmisshandlungen alle Elternherzen in deutschen Landen zum Danke verpflichtet; eben damals aber erschienen auch Treitschkes Vorlesungen über Politik, in denen man lesen kann: „Ein höherer Offizier hat mir einmal gesagt, auch die Armee würde ohne unseren Reichstag nicht in so gutem Zustand sein. Weil da eine Anzahl privilegierter Schreier sitzen, die jeden Übelstand mit ungeheurem Lärm an die große Glocke hängen, darum muss die Heeresverwaltung sich anstrengen, alles zu vermeiden, was solcher Art von Kritik unterliegt." Sieht man von der geschmacklosen Form ab, so enthalten diese Sätze eine unanfechtbare Wahrheit; es liegt im unveräußerlichen Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus, dass er gerade da, wo er so funktioniert, wie er funktionieren soll, dazu führen muss, die bürgerliche Gesellschaft zu stärken.

Mit einem Worte: Der Reichstag kann niemals der Boden sein, von dem aus sich die Regierung aus den Angeln heben lässt. So wie die Dinge sich in Deutschland entwickelt haben, ist der Druck des Reichstags auf die Regierung, wenn und soweit er sich fühlbar macht, auf eine immer einseitigere und unverhülltere Klassenherrschaft gerichtet; eine absolutistische Regierung hätte aus sich allein niemals den Mut zu dem Zolltarif gefunden, den die Mehrheitsparteien des Reichstags durchgesetzt haben, indem sie die parlamentarische Gesetzlichkeit mit Füßen traten. Daran, dass diese Parteien sich jemals entschließen könnten, der Regierung politische Rechte für die beherrschten Klassen abzutrotzen, ist nicht mehr zu denken. Genug, wenn sie gehindert werden, das bescheidene Maß politischer Rechte preiszugeben, das die deutsche Arbeiterklasse besitzt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die parlamentarische Tätigkeit der Arbeiterklasse stets eine unbedingte Notwendigkeit gewesen. Auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft muss sie mit den Waffen kämpfen, die ihr diese Gesellschaft bietet; um sich selbst zu organisieren zum Kampfe gegen die bürgerliche Gesellschaft, bedarf sie der Press- und Redefreiheit, des Koalitions- und des Wahlrechtes. In der Verteidigung dieser Rechte und namentlich in ihrer Wiedereroberung, als sie ihr geraubt waren, hat ihr die parlamentarische Tribüne unschätzbare Dienste geleistet; von ihr aus sind wieder und wieder die Attentate bald auf dies, bald auf jenes Recht der Massen abgeschlagen worden, und es liegt eine tiefe innere Logik sowohl darin, dass die herrschenden Klassen, immer mehr daran verzweifelnd, die Arbeiterbewegung noch zu meistern, mit einem Schlage gegen das allgemeine Wahlrecht drohen, als auch darin, dass die organisierte Arbeiterklasse sich für diesen Schlag mit der Erwägung rüstet, nunmehr den Kampf unmittelbar auf dem Gebiet aufzunehmen, wo er schließlich entschieden werden muss, auf dem Gebiet der Produktion.

So ist ihr die parlamentarische Tätigkeit wohl der höchsten Anstrengung wert, jedoch nicht um den Reichstag gegen die Regierung zu stärken, sondern um sich selbst eine feste Position gegenüber der Regierung wie dem Reichstag zu erobern.

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