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Franz Mehring 19050222 Siegestaumel und Siegesangst

Franz Mehring: Siegestaumel und Siegesangst

22. Februar 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 697-700. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 15-19]

Der heutige Tag wird in der deutschen Geschichte einen historischen Markstein bilden. Die Volksvertretung eines großen Industrielandes, die auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes gewählt ist, genehmigt sieben Handelsverträge, die der Industrie schwere Wunden schlagen und der arbeitenden Bevölkerung den notwendigen Lebensunterhalt in unerträglicher Weise verteuern, dagegen einer kleinen Handvoll Großgrundbesitzer, die längst nur noch ein rudimentäres Organ am nationalen Körper bilden, die Taschen zum Zerplatzen füllen. Gegen diese selbstmörderische Politik zu stimmen, hatten allein die parlamentarischen Vertreter der Arbeiterklasse den Mut; nur wenige versprengte Stimmen aus der Masse der bürgerlichen Parteien schlossen sich ihnen an.

Man kann dem Grafen Posadowsky als dem Macher dieser Handelsverträge heute ein Gefühl des Triumphes nachempfinden. Es ist nicht jedermanns Sache, die historische Unvernunft in einer parlamentarischen Körperschaft des allgemeinen Wahlrechtes zu einem durchschlagenden Erfolg zu führen. Man braucht den Grafen nicht zu beneiden, aber man darf ihm danken, dass er als Sieger wenigstens die Maske fallen lässt und offen ausspricht das, was ist. Drei Jahre hat der Kampf um diese Handelsverträge gewährt, und bergehoch hat sich die gesprochene und geschriebene Makulatur getürmt, worin die Brotwucherer in ihrer Art und mit Gründen, die danach waren, nachzuweisen versucht haben, dass sie nur um des Gemeinwohls willen die Hungerpeitsche über den Volksmassen schwingen. Alles das schiebt nun Graf Posadowsky mit lässiger Handbewegung fort, als ein trödelhaftes Geschwätz, und erklärt frank und frei, der ökonomisch und politisch gleich rückständige Großgrundbesitz solle durch die Handelsverträge erhalten werden, als Gegengewicht gegen die aufsteigende Klassenbewegung der Arbeiter, gegen das „radikalste Wahlrecht der Welt", gegen die „nervöse Hast", womit das „Volk" danach strebe, „in höhere soziale Schichten emporzusteigen". Ist nur erst der Arbeitermasse der Brotkorb höher gehängt, so soll ihr „das Vertrauen zur Regierung und den bürgerlichen Parteien", das sie verloren habe, wieder durch eine „Sozialpolitik" beigebracht werden, die ihr mit Löffeln wiedergibt, was ihr mit Scheffeln genommen worden ist. Es ist der alte Faden von Peitsche und Zuckerbrot, woran die Arbeiterklasse tanzen soll, und für die neue Nummer, die Graf Posadowsky spann, erhielt er nicht nur den stürmischen Beifall der Rechten, sondern auch den feierlichen Händedruck des Reichskanzlers.

Gleichzeitig wird dasselbe Programm in der regierungsfreundlichen Presse verkündet, mit einer Offenheit, für die wir wiederum nur dankbar sein können. Gleichzeitig mit der Rede des Grafen Posadowsky erschien das Märzheft der „Preußischen Jahrbücher", worin die staatsmännische Kunst der Grafen Bülow und Posadowsky besonders verherrlicht wird, weil sie es fertig bekommen habe, das deutsche Kapital seinen eigenen Schaden mit einer halben Milliarde erkaufen zu lassen. Das treffliche Organ führt aus, man dürfe keinen Augenblick vergessen, dass alle Arbeit an den neuen Handelsverträgen vergeblich gewesen sein würde, wenn der russischen Regierung nicht gestattet worden wäre, ihre große Anleihe auf dem deutschen Geldmarkt unterzubringen. „Bricht die russische Finanzwirtschaft einmal zusammen, so wird Graf Bülow noch böse Worte zu hören bekommen, dass er die Auflegung der Anleihe in Deutschland zugegeben hat, aber zuletzt hat der Reichskanzler sie ja nicht empfohlen, sondern nur nicht verhindert, und den Hauptteil der Verantwortung tragen, das muss schon jetzt festgestellt werden, immer die Leute selber, die ihr Geld hergeben, und neben ihnen die Bankiers, die solche Anlagen empfehlen. Die Regierung mag sich dessen wohl bewusst gewesen sein, wie teuer uns die Sache zu stehen kommen kann, aber neben der Rücksicht auf die Handelsvertragsverhandlungen ist es auch heute zu offenbar das Interesse Deutschlands, Russland nicht zugrunde gehen zu lassen, als dass ein deutscher Reichskanzler die Fürsorge für die deutschen Kapitalisten hätte so weit treiben sollen, die Auflegung der Anleihe in Deutschland zu verbieten." Nun, zu solcher Kühnheit hätte sich der zarische Vasall Bülow ja niemals aufgeschwungen, aber der Nachweis, dass sich auch bei diesen Handelsverträgen der unlösliche Interessenzusammenhang zwischen der Politik Bülow und der Politik Sergius erwiesen habe, ist allerdings richtig.

Die „Preußischen Jahrbücher" geben dann mit dürren Worten zu, dass die neuen Handelsverträge vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu verwerfen seien. Aber, so sagen sie, das Wirtschaftliche ist im Leben der Völker nicht das Führende, sondern nur ein Dienendes. „Das Entscheidende an den Verträgen ist der verstärkte Schutz der Landwirtschaft auf Kosten der Industrie und des Handels und der Konsumenten. Dadurch wird die natürliche Entwicklung jedes Kulturstaats, und besonders heute Deutschlands, in der Richtung vom Agrarstaat auf den Industriestaat verlangsamt, und das ist wirtschaftlich ein Nachteil; sozial aber ist es ein Vorteil, dass die ländlichen besitzenden Familien, die einen so wesentlichen Teil des historisch-ethischen Kapitals unseres Volkes repräsentieren, in ihrem Besitz und ihrem sozialen Status erhalten und nicht durch den schnell aufblühenden industriellen Besitz und die Industriefamilien mit einer Art von Plötzlichkeit enteignet werden. Unser Gutsbesitzer- und Großbauernstand, der so lange die politische und soziale Führung im deutschen Volke hatte, kann schon längst nicht mehr Schritt halten mit den städtischen und gewerblichen Kapitalisten; das ist ein natürlicher und auf keine Weise abzuwendender Vorgang. Man darf auch gar nicht wünschen, dass es anders sei, denn nur durch eine blühende Industrie kann Deutschland den Wohlstand erwerben, den es gebraucht, um im Ringen der Völker miteinander seine Stellung zu behaupten. Wohl aber kann man sich damit einverstanden erklären, dass dieser Prozess nicht nur nicht forciert, sondern sogar etwas gebremst werde, damit die neu aufkommende Aristokratie sich einlebe in die wertvollen historischen Traditionen der alten, indem sie sich mit ihr vermischt und vereinigt. Es ist ja keine geringe Last, die die hohen Lebensmittelzölle der Gesamtheit des deutschen Volkes auferlegen, aber der Fortschritt, den unsere Volkswirtschaft im ganzen gemacht hat und macht, ist so bedeutend, dass diese Last, um des wertvollen Gleichgewichts zwischen Landwirtschaft und Industrie willen, ertragen werden kann. Die Industrie selbst lässt sich dieses System gefallen, teils weil sie sich vermöge der neuen Geschäftsform der Kartelle und Trusts von der Zollgesetzgebung in hohem Grade unabhängig gemacht hat, teils weil sie zu kurzsichtig ist, teils weil sie, in sozialem Zwiespalt mit ihrer Arbeiterschaft, zu machtlos ist."

Wir haben diese Ausführungen der „Preußischen Jahrbücher" mit einiger Ausführlichkeit wiedergegeben, weil sie den Gedankengang der Rede, die Graf Posadowsky gleichzeitig im Reichstage hielt, noch klarer und unzweideutiger wiedergeben. Beide Kundgebungen stimmen darin überein, dass sie die Erhaltung und Stärkung der ökonomisch und politisch zerrütteten Junkerherrschaft als den eigentlichen Zweck der Handelsverträge proklamieren, aber die Schädigung der Industrie und die schwere Belastung der Volksmassen konnte Graf Posadowsky im Reichstage nicht so unumwunden zugeben, geschweige denn, dass er die Industrie wegen ihrer „Kurzsichtigkeit" noch verhöhnen durfte. In diesem Punkte ist freilich die Argumentation der „Preußischen Jahrbücher" auch nicht erschöpfend. Die Industrie ist wegen des sozialen Zwistes mit ihren Arbeitern nicht zu „machtlos", um die Handelsverträge abzuwerfen – denn in dem Kampfe gegen die Handelsverträge hatte sie die Arbeiterklasse Mann für Mann an ihrer Seite gehabt, und wenn sie diesen Kampf mit derselben Energie geführt hätte, wie das Proletariat, so wären allerdings die staatsmännischen Künste der Bülow und Posadowsky elendiglich zerschellt –, sondern nur zu feige. Sie wagt den Kampf gegen das Junkertum nicht, weil sie am letzten Ende auf dies Junkertum als ihre Schutztruppe gegen das Proletariat rechnet. Dies ist der eigentliche Grund, der sie zu ihrer schmachvollen Haltung in den Kämpfen um den Zolltarif veranlasst, der sie selbst noch in der entscheidenden Abstimmung über die neuen Handelsverträge, bis auf wenige Stimmen, verhindert hat, auch nur ihre Profitinteressen mit offenem Visier zu vertreten.

Insofern lag historische Logik darin, dass fast nur die parlamentarischen Vertreter der Arbeiterklasse gegen die neuen Handelsverträge stimmten. Denn nur diese Klasse hat den Kampf gegen den Brotwucher mit dem Nachdruck geführt, womit er im Interesse der Nation geführt werden musste, und wenn sie deshalb auch fast allein die Kosten der Niederlage tragen zu müssen scheint, so ist es doch eine jener Niederlagen, in deren Schoße künftige Siege schlummern. Eine bange Ahnung davon geht heute schon durch die Reihen der Sieger, wofür die „Preußischen Jahrbücher" auch beredtes Zeugnis ablegen. Sie spielen den Gedankenleser nicht nur beim Grafen Posadowsky, sondern auch beim Genossen Molkenbuhr, der im Reichstag erklärte, die Partei werde die Agitation gegen die Bülowschen Handelsverträge betreiben, wie der Bund der Landwirte1 die Agitation gegen die Caprivischen Handelsverträge betrieben habe. Dasselbe empfehlen die „Preußischen Jahrbücher", nur mit der kleinen Verbesserung, dass die Partei für diesen Zweck ihren politischen Charakter aufgeben müsse. „Stellen wir uns vor, dass die Sozialdemokratie morgen ihren politischen Charakter abstreifte und sich als einen bloßen Arbeiterbund konstituierte, der denjenigen politischen Parteien, die ihm zu Willen wären, seine Stimmen verspräche, wie bald würde ein solcher Bund mit seinen Massen den Bund der Landwirte an die Wand drücken." Es ist ein Gedanke, den Pater Lamormain ausgeheckt haben könnte, aber wo bliebe dann das „historisch-ethische Kapital", das im Junkertum stecken und selbst um den Preis des verwerflichsten Brotwuchers erhalten werden soll?

Besonderen Kummer macht es den „Preußischen Jahrbüchern", dass diese historische Ethik – was ja vollkommen richtig ist – den Arbeitern niemals klargemacht werden kann, während ihnen ihre Abwürgung durch die Getreide- und Fleischzölle „von den Agitatoren rechnungsmäßig klargelegt" wird. Da begrüßen sie es denn als einen „recht glücklichen Zufall", dass der Bergarbeiterstreik der Regierung eine Gelegenheit gebe, den Arbeitern einigen Hokuspokus vorzumachen. Denn dem würde in der Tat so sein, wenn die „Preußischen Jahrbücher" auch in dieser Frage Bülow-Posadowskysche Gedankengänge so genau kennen sollten wie in der Frage der Handelsverträge. Sie kündigen nämlich an, dass die versprochene Bergnovelle die Erwartungen nicht befriedigen werde. Die eigentlichen konkreten Beschwerden der Bergarbeiter allgemeiner Natur seien gar nicht so sehr erheblich; der wahre Streitpunkt sei das Machtverhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern. „Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das Arbeiterproblem gelöst sei durch die Koalitionsfreiheit … Es gilt, der Arbeiterschaft eine organisierte Macht zu geben und diese Macht doch wieder so weit einzuschränken, dass die Unternehmer die Leitung in der Hand behalten und die Unvernunft, Leidenschaft und Begehrlichkeit der Menge nicht das eigene Gewerbe schädigt." Das ist entweder die Quadratur des Kreises oder eine alte Teufelei in neuem Gewand.

So schwatzt mitten in den Siegestaumel, der die intimsten Heimlichkeiten der Sieger ausplaudert, schon die Siegesangst ihr verlegenes Gerede. Und so berechtigt der Taumel über ein Meisterstück historischer Unvernunft sein mag, noch viel berechtigter ist die Angst vor der historischen Vernunft, die sich um so unaufhaltsamer durchsetzen wird, je breiter und tiefer die Volksmassen sich mit der Erkenntnis durchdringen, um wie frivoler Zwecke willen die Not, die ihnen die kapitalistische Produktionsweise verhängt, noch gesteigert werden soll.

1 Bund der Landwirte – im Februar 1893 in Berlin gegründete politische Organisation der Agrarier. 1914 etwa 275 000 Mitglieder stark. Der Bund stellte bei Wahlen eigene Kandidaten auf, verpflichtete vor allem aber konservative Abgeordnete des Reichstags auf sein Programm (Schutzzölle, keine Steuern). Das Organ war die „Deutsche Tageszeitung". Von politischer Bedeutung waren die jährlichen Generalversammlungen des Bundes in Berlin.

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