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Franz Mehring 19050109 Sozialer Krieg

Franz Mehring: Sozialer Krieg

9. Januar 1905

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 6, 9. Januar 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 5-7]

Das Ruhrrevier hängt voll dunkler Wolken. Schon ist der eine und der andere Blitz hernieder gefahren, und der Donner grollt mit jeder Stunde stärker. Mit jeder Stunde auch wird es zweifelhafter, ob der Sturm sich noch einmal beschwören lassen wird. Vielleicht ist das Gewitter schon in vollem Gange, ehe diese Zeilen zum Drucke gelangen.

Wer es herauf gerufen hat, das ist schon jetzt keinem Zweifel unterworfen. Es läge gar kein Grund vor zu bestreiten, wenn dem so wäre, dass die Bergarbeiter des Ruhrreviers zur Waffe des Streiks gegriffen hätten oder greifen wollten, um ihr unsäglich hartes Los zu erleichtern. Weshalb sollten sie nicht die einzige Möglichkeit benutzen, die ihnen die kapitalistische Gesellschaft bietet, um sich einen bescheidenen Anteil an dem schier unerschöpflichen Dividendenstrome zu sichern, den die rheinisch-westfälischen Kohlenbergwerksgesellschaften jahraus, jahrein in die Taschen satter Nichtstuer ergießen? Wer die Streiks anklagt, der klagt die kapitalistische Gesellschaft an, denn der Streik ist ihr Lieblingskind; er ist die holde Zauberformel von Angebot und Nachfrage, auf der die „beste der Welten" beruht; er zieht die Ware Arbeitskraft vom Markte zurück, um ihren Preis zu steigern, was dem Besitzer der Ware Arbeitskraft, dem Arbeiter, genauso erlaubt oder nach dem kapitalistischen Begriffe des Selbstinteresses genauso vorgeschrieben ist wie den Besitzern der Waren Kaffee oder Zucker.

Freilich pflegen Lieblingskinder auch Schmerzenskinder zu sein, und in dem fehlerhaften Kreise, worin sich die kapitalistische Gedankenwelt bewegt, soll den Besitzern der Ware Arbeitskraft doch nicht erlaubt sein, was den Besitzern der Ware Kaffee und Zucker erlaubt, ja geboten ist. Denn die Arbeitskraft ist die Ware, die den Mehrwert heckt, den ganzen Reichtum der besitzenden Klassen, auf dessen Produktion die arbeitenden Klassen nach dem famosen Rechtskodex der kapitalistischen Gesellschaft nie den geringsten Einfluss haben dürfen. Daher belegt diese Gesellschaft ihr legitimstes Kind mit ihrem Fluche und verketzert den Streik, sobald er die Lebenslage der Arbeiter nur im Geringsten zu steigern und den Mehrwert der Ausbeuter nur im Geringsten zu schmälern droht.

Unter dieser Voraussetzung aber – weshalb sollte es nicht das Recht, ja die Pflicht der Arbeiter sein, die Arbeit einzustellen? Zumal der Arbeiter im Ruhrrevier, deren Lebenshaltung auch nur als eine halbwegs menschenwürdige hinzustellen sogar die kapitalistischen Schönfärber verzagen? Aber die Arbeiter wissen, dass die einzige Waffe, die ihnen die kapitalistische Gesellschaft gegeben hat, um sich eine bessere Lebenshaltung zu erkämpfen, eine trügerische, zerbrechliche und zweischneidige Waffe ist; sie denken gar nicht daran, nach ihr zu greifen, wenn sie nicht einigermaßen ihres Sieges sicher sind, wenn die ökonomischen Konjunkturen nicht einigermaßen so liegen, dass die Arbeiter durch das Zurückziehen der Ware Arbeitskraft vom Markte wirklich darauf rechnen dürfen, ihren Preis zu steigern. Darin haben sich die Arbeiter früher oft verrechnet; sie haben viele Streiks verloren, und zwar, bei allen menschlichen und moralischen Ansprüchen der Streikenden, doch ökonomisch mit Recht, da menschliche und moralische Ansprüche keinen kapitalistischen Marktwert haben. Allein im Laufe der Jahre und Jahrzehnte sind die Arbeiter gewitzigter geworden, zumal in dem Maße, wie ihre gewerkschaftlichen Organisationen erstarkten; kleine Freischaren können wohl in ewigen Scharmützeln leben, große Heere müssen erst wägen, ehe sie wagen.

Je vorsichtiger aber die Arbeiter gelernt haben, mit der zweischneidigen Waffe des Streiks umzugehen, umso mehr sind ihre Ausbeuter darauf aufmerksam geworden, dass diese Waffe eben zwei Schneiden hat. Je mehr sich die Proletarier hüten, sich an einem hoffnungslosen Streik zu verbluten, um so mehr sind die Kapitalisten auf den ruch-, aber leider nicht sinnlosen Gedanken verfallen, sie in hoffnungslose Streiks zu drängen. Sie rechnen damit, dass die Ware Arbeitskraft auch insofern eine besondere Ware ist, als sie sich von Fleisch und Blut ihres Besitzers nicht trennen lässt, als Menschen, die durch raffinierteste Mittel in die Verzweiflung getrieben werden, zuletzt auch verzweifelte Entschlüsse fassen. Solcher Streiks, die wahrhaft blutige Satiren auf den Begriff der bürgerlichen Zivilisation sind, hat der soziale Krieg der Gegenwart schon viele gesehen, und ein neuer Streik dieser Art wird eben von den Kohlenbergwerksgesellschaften im Rheinlande anzuzetteln gesucht.

Sie halten die Gelegenheit für günstig, um die Bergarbeiter des Ruhrreviers und deren erstarkende Gewerkschaften niederzuschlagen. Und von ihrem Standpunkte aus rechnen sie nicht unrichtig. Sie sind durch Kohlenvorräte auf lange hinaus gedeckt und können den Streik länger aushalten als die Arbeiter; sie können dadurch auch die verhängnisvollen Folgen der Überproduktion beseitigen, die den Kapitalismus als sein drohender Schatten begleitet. Die holde Harmonie zwischen Kapital und Arbeit enthüllt sich dadurch, dass die Kohlenbarone ihren Profit steigern, indem sie mit dem Schwerte nach dem Herzen der von ihnen ausgebeuteten Proletarier zielen. Die Sachlage ist so klar, dass selbst die kapitalistische Presse sie nur noch zu beschönigen, aber keineswegs zu leugnen wagt. Sie benutzt natürlich nicht die Gelegenheit, wo sie einmal tatkräftig für die Arbeiter eintreten könnte, ohne deshalb ihrem bürgerlichen Gewissen etwas zu vergeben, ja gerade um ihr bürgerliches Gewissen zu wahren. Aber sie lässt wenigstens zwischen den Zeilen erkennen, dass die rheinisch-westfälischen Bergwerksgesellschaften ein boshaftes, grausames und raffiniertes Spiel treiben.

Die Arbeiterführer des Ruhrreviers tun, was in ihren Kräften steht, um den Ausbruch eines Streiks zu hindern. Das ist ihre Pflicht, deren Erfüllung so lobens-, wie ihr Versäumnis tadelnswert sein würde. Aber wenn ihr Widerstand endlich von den bis aufs Blut gequälten Massen überrannt werden sollte, so trifft auch diese kein Tadel. Es ist ihre Sache, allein zu bestimmen, wo das Ende mit Schrecken für sie erträglicher zu werden beginnt als der Schrecken ohne Ende. Die Pflicht der deutschen Arbeiterklasse, ihnen helfend beizutreten, wird deshalb nicht geringer; sie wird nur umso dringender, je ungünstiger die Aussichten des Kampfes sind. Anders als auf kapitalistischem Markte haben in der proletarischen Welt menschliche und moralische Ansprüche ihre unversieglichen Rechte.

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