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Franz Mehring 19050614 Von frischem Blute

Franz Mehring: Von frischem Blute

14. Juni 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 361-364. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 51-54]

Sobald die politisch tote Jahreszeit begonnen hat, pflegt sich die bürgerliche Presse in allerlei katzenjämmerlichen Betrachtungen zu ergehen. Bei all ihren Großsprechereien kann sie sich des instinktiven Gefühls nicht erwehren, dass es mit ihrer Herrlichkeit bergab geht, und sie sucht mit einem krampfhaften Eifer nach Mitteln, um wieder auf einen grünen Zweig zu kommen. Das ist ihr an und für sich natürlich nicht zu verdenken, und man muss es sogar als einen Fortschritt begrüßen, dass sie jetzt wenigstens vor der eigenen Türe kehrt, während sie sich vor zwanzig und selbst noch vor zehn Jahren die Zeit der sauren Gurke mit phantastischen Betrachtungen über den „Rückgang" und die „Spaltungen" der Sozialdemokratie zu verkürzen pflegte.

In diesem Jahre klagt sie nun über den Mangel an „frischem Blute", der sich in den bürgerlichen Parteien immer fühlbarer mache. Sie schildert in herzbewegender Weise, wie ihre „alten, verdienten Kämpfer" matt und müde werden, wie sie mehr und mehr zusammenbrechen, wie namentlich die verflossene Reichstagssession einen Zug der Erschöpfung und Müdigkeit gezeigt habe, nicht allein in den Verhandlungen, sondern auch in den Persönlichkeiten. Diese Klagen werden in den verschiedensten Organen der bürgerlichen Presse erhoben, mögen sie sich sonst auch noch so feindlich gegenüberstehen. Eine solche Jeremiade, die in der „Kölnischen Volkszeitung" angestimmt wird, unterschreibt die „Vossische Zeitung" trotz ihres sonstigen Hasses gegen den Ultramontanismus1 kurz und bündig mit den Worten: „Dem Rufe nach jungen, frischen und tüchtigen Kräften können sich alle Parteien ohne Vorbehalt anschließen." Alle Parteien, das heißt alle bürgerlichen Parteien, denn der Sozialdemokratie hat es noch nie an jungen, frischen und tüchtigen Kräften gefehlt.

Bei aller Berechtigung dieser Weheschreie sind sie aber nicht mehr als ein nutzloser Zeitvertreib. Die bürgerlichen Blätter mögen soviel „rufen", wie sie wollen, so wird das „frische Blut" nicht kommen. Und wie der ganze „Ruf" ein instinktives Bekenntnis unaufhaltsamen Niederganges ist, so haben sie auch eine instinktive Empfindung von dem eigentlichen Sitze des Übels. Die „Kölnische Volkszeitung" sagt: „Das Zentrum hat gewiss schwerere Zeiten durchgemacht, mit heftigeren Kämpfen als die gegenwärtigen. Aber mehr noch als ein fröhlicher, offener Kampf setzt es den Nerven zu, wenn man ununterbrochen auf der Wacht stehen muss, überall dabei sein muss und niemals versagen darf." Das ist ja sehr schief ausgedrückt, denn gerade im „fröhlichen, offenen Kampfe" muss man erst recht „ununterbrochen auf der Wacht stehen, muss überall dabei sein und darf niemals versagen". Aber die Grundempfindung des Kölner Zentrumsblatts ist ganz richtig, und es will nur nicht das Kind beim richtigen Namen nennen. Die „Kölnische Volkszeitung" mag nicht klipp und klar aussprechen das, was ist, nämlich dass nur der Kampf frisches Blut erzeugt und dass mit dem Diplomatisieren, Intrigieren, Kompromisseln und Kulissenschieben die Nerven allerdings ganz anders strapaziert werden als mit einem noch so heftigen und langwierigen Streite, wo sich ehrlich und offen Klinge mit Klinge kreuzt.

Männer machen die Geschichte, pflegen die bürgerlichen Blätter mit großem Aplomb zu sagen. So wie der Satz gemeint ist, im Sinne des Heroenkultus, ist er falsch, aber wenn man ihn in die richtige Fassung bringt, enthält auch er ein Stück Wahrheit. Männer machen die Geschichte; nur dass die Männer, die Geschichte machen sollen, erst von der Geschichte gemacht werden müssen; in dem Bette, worin die Feigheit mit dem Despotismus buhlt, werden sie nicht erzeugt. Solange eine Partei ehrliche Ziele hat, für die sie ehrlich zu kämpfen weiß, fehlt es ihr nie an frischem Blute. Ein großer Held ist der deutsche Liberalismus ja nie gewesen, aber solange er noch halbwegs zu kämpfen verstand, hat es ihm an respektablen Persönlichkeiten gewiss nicht gefehlt. Erst als er nach 1870 gänzlich abdankte, blieb der Nachwuchs aus. Damals als die Jacoby, Hoverbeck, Waldeck, Ziegler ausstarben und niemand da war, sie zu ersetzen, als der große Parteiverderber Eugen Richter, hob zuerst die Klage um den Mangel an „frischem Blute" an. Man konnte in jener Zeit überall hören und lesen, als beschränkt-eigensinniger Parteityrann dränge der spätere Vater der Spar-Agnes2 jedes frische Talent aus der Partei heraus. Wie viel ist damals über die Knörcke und die sonstigen dunklen Ehrenmänner gespottet worden, die von der „Stadt der Intelligenz" in den Reichs- und Landtag geschickt wurden! Aber ob auch viel Wahres an alledem sein mochte, so wurde das Warum des Warum damit noch nicht berührt. Die Partei kam nicht um, weil sie diesen oder diese blamablen Führer besaß, sondern darin, dass solche Elemente überhaupt ihre Führer werden konnten, offenbarte sich nur ihr historischer Verfall.

Während in der Freisinnigen Partei längst der „Ruf" nach „frischem Blute" erscholl, war die Ultramontane Partei noch obenauf. Sie führte in den siebziger Jahren den so genannten „Kulturkampf"3 und von ihrem Standpunkt aus mit einem Eifer und einer Konsequenz, gegen die sich nichts einwenden ließ. Da hat sie auch nie den leisesten Anlass gehabt, über Mangel an „frischem Blute" zu klagen. Ebenso wurde damals im Voraus die Hinfälligkeit einer anderen Redewendung aufgedeckt, worin sich die „Kölnische Volkszeitung" jetzt gefällt, nämlich die Behauptung, dass der „Parlamentarismus seine Leute in ungewöhnlich hohem Grade verschleiße". Zum Teil waren ja die Führer des Zentrums im „Kulturkampf" recht alte Knaben; Mallinckrodt und die beiden Reichensperger saßen schon seit einem Vierteljahrhundert im preußischen Landtag, und Windthorst zählte bereits sechzig Lebensjahre, als er in den Kampf eintrat, den er dann bis in sein achtzigstes Lebensjahr geführt hat, ohne dass er oder die anderen „verschlissen" wären. Sie haben ganz munter bis zu ihrem natürlichen Ende ausgehalten. Windthorst hat ja auch im Zentrum seine Kritiker gehabt, und einer von ihnen – irren wir nicht ganz, so war es sogar August Reichensperger – hat von ihm gesagt: „Er war ein parlamentarischer Advokat im höchsten Sinne des Wortes, aber kein Staatsmann, obwohl er sich dafür hielt und als solcher erscheinen wollte." Nun, wenn dies Wort richtig sein sollte, was hier dahingestellt bleiben mag, so kann sich Windthorst beim „Kulturkampf" bedanken, der ihn zwang, sich als „Staatsmann" zurückzuhalten und als Kämpfer bis in ein hohes Greisenalter frisch im Geiste zu bleiben. Was sonst wohl aus ihm geworden wäre, kann man an den gegenwärtigen „Staatsmännern" des Zentrums sehen, die vorzeitig „verschleißen", wie die „Kölnische Volkszeitung" nach ihrer vermutlich genauen Personenkenntnis beklagt.

Es würde uns zu weit führen, denselben Nachweis, den wir an der Freisinnigen und der Ultramontanen Partei geführt haben, nun auch an anderen bürgerlichen Parteien zu führen. Wir verweilen nur noch einen Augenblick bei dem Gegenstück, bei der Sozialdemokratischen Partei, der es nie an „frischem Blute" mangelt. Das gilt nicht nur von dem gewöhnlichen, sondern selbst von dem außergewöhnlichen Laufe der Dinge, von dem Falle, dass ihr, wie es im Anfang des Sozialistengesetzes geschah, alle bisherigen Führer mit einem Schlage lahm gelegt wurden. Deshalb trat auch nicht ein Augenblick der Stockung ein; im Nu waren „junge, frische und tüchtige Kräfte" da, die auf die leer gewordenen Posten traten und ihre Sache ebenso gut machten wie die lahm gelegten Führer. Diese Erfahrung gehörte zu den allerunangenehmsten Überraschungen derer, die mit dem Sozialistengesetz einen zerschmetternden Schlag geführt zu haben glaubten, und sie wird sich in gleicher Weise unter gleichen Voraussetzungen immer wiederholen. Sicherlich verzehrt der proletarische Emanzipationskampf ein ungeheures Maß von Menschenkraft, mehr als jeder politische Kampf bürgerlicher Parteien je verzehrt hat oder verzehren wird, aber was ihm vollkommen fremd und mit seinem innersten Wesen unvereinbar ist, das ist jene greisenhafte Ermüdung vor der Zeit, die heute als hippokratischer Zug an allen bürgerlichen Parteien zu beobachten ist und ihren Blättern so schmerzliche Klagen entlockt.

Es gibt nur ein Heilmittel für dieses Leiden: Macht eine junge, frische und tüchtige Politik, und ihr werdet junge, frische und tüchtige Kräfte haben! Es fehlt den bürgerlichen Parteien ja nicht an jungen Leuten, wenn man nur auf die Lebensjahre sieht, aber diese jungen Leute müssen erst alle Frische und Tüchtigkeit abtun, sie müssen sich zu künstlichen Greisen machen, ehe sie auf dem Parkett der bürgerlichen Politik ihren Eiertanz vollführen können. Zur Hälfte sieht dies die bürgerliche Presse ein, indem sie nicht sowohl nach jungem, als nach frischem Blute lechzt, aber zur anderen Hälfte übersieht sie, dass frisches Blut nicht zu haben ist ohne frische Gedanken und ohne frischen Willen, woran es eben überall in der bürgerlichen Welt hapert.

So gern wir deshalb an dem diesjährigen Sommervergnügen der bürgerlichen Presse anerkennen, dass es vor ihrer eigenen Türe fegt, so müssen wir darauf doch unser Lob einschränken. Sonst hat das Gerede keinen Zweck und wird wirkungslos verhallen, es sei denn, dass es uns die von seinen Urhebern gewiss nicht beabsichtigte Gelegenheit bietet, an dem Thema vom frischen Blute einen der unerreichbaren Vorzüge klarzustellen, die der proletarische Emanzipationskampf vor allen seinen Gegnern hat.

1 ultramontan (lat.) – jenseits der Berge, d. h. der Alpen. Der Ultramontanismus war eine äußerst reaktionäre Richtung des Katholizismus, die jedes nationalkirchliche Bestreben ablehnte und das päpstliche Recht der Einmischung in die inneren Angelegenheiten jedes Staates verfocht. Der zunehmende Einfluss des Ultramontanismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerte sich u. a. in der Bildung katholischer Parteien in verschiedenen europäischen Staaten und in der Proklamation des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes durch das Vatikanische Konzil im Jahre 1870.

2 Gemeint ist Eugen Richter; „Vater der Spar-Agnes" genannt nach einer Figur seines antisozialdemokratischen Pamphlets „Bilder aus der Gegenwart", auf das Mehring 1892 mit seiner Broschüre „Herrn Eugen Richters Bilder aus der Gegenwart" antwortete.

3 „Kulturkampf" ist nach einem Schlagwort Rudolf Virchows die Bezeichnung für Bismarcks Kampf gegen die partikularistischen und antipreußischen Tendenzen der katholischen Kirche 1872-1878. Mit den so genannten Maigesetzen (staatliche Anzeigepflicht über Vorbildung und Anstellung von Geistlichen, Einsetzung eines königlichen Gerichtshofes über die kirchliche Disziplinargewalt, Begrenzung der kirchlichen Straf- und Zuchtmittel, staatliche Regelung über den Austritt aus der Kirche) 1873 und weiteren Maßnahmen bis 1875 erreichte der K. seinen Höhepunkt. Ein Hauptziel war auch die Germanisierungspolitik in den polnischen Gebieten.

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