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Franz Mehring 19050318 Zum 18. März

Franz Mehring: Zum 18. März

18. März 1905

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 65, 18. März 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 20-22]

Der revolutionäre Gedenktag des deutschen Volks, der je länger, je mehr zu einem revolutionären Gedenktage des deutschen Proletariats geworden ist, fällt endlich wieder in eine revolutionäre Zeit. Mag der deutsche Reichskanzler in seiner seichten Diplomatenweisheit darauf hoffen, dass der zarische Koloss auf seinen tönernen Füßen stehen bleiben wird: Deshalb werden sich die historischen Geschicke nicht weniger vollziehen, und deshalb werden die Sympathien der deutschen Arbeiterklasse nicht weniger bei der russischen Revolution sein.

Es ist ein altes Vorrecht der herrschenden Klassen, sich über die Aussichten der Revolution gründlich zu täuschen. Als die französischen Arbeiter im Jahre 1789 die Bastille gestürmt hatten, sagte der preußische König Friedrich Wilhelm II., wie neulich im Reichstage der Reichskanzler: Abwarten! Und als ihm das Abwarten zu lange währte, gedachte er seinen „Parteitopf" an der französischen „Unruhe" zu kochen, holte sich aber nur die schönsten Prügel. Und noch im Januar 1848, als der Thron Louis-Philippes schon in allen Fugen krachte, beglückwünschte Friedrich Wilhelm IV. den französischen Bürgerkönig zu der unerschütterlichen Festigkeit seiner Stellung, ohne zu ahnen, dass die Herrlichkeit des Beglückwünschten binnen eines Monats in tausend Scherben gehen sollte und binnen zweier Monate seine eigene Herrlichkeit dazu.

Grund genug hat freilich das gegenwärtige Regime in Deutschland, die Fortdauer des zarischen Despotismus zu wünschen. Wer sich an eine Säule lehnt, der wünscht mit gutem Fug, dass diese Säule nicht stürze, und wenn er sie dennoch bersten sieht, so verhüllt er gern seine Augen. Sobald Väterchens Herrlichkeit zersplittert, kracht auch die Herrlichkeit des preußischen Junkertums zusammen. Deshalb waren die Vertreter dieses Junkertums immer zu jedem Schergendienste willig, den Väterchen von ihnen heischte, mochte dabei auch die nationale Ehre zum Gespött der zivilisierten Welt werden. Deshalb sträubt sich Graf Bülow, die Auslieferungsverträge aufzuheben, die den preußischen und den bayrischen Staat wie zwei Vasallen an den Lehnsherrn in St. Petersburg ketten.1

Für diese Schmach hat Graf Bülow ebenso wenig eine Empfindung, wie Fürst Bismarck je eine Empfindung dafür gehabt hat. Man kann sie darum nicht einmal persönlich tadeln, denn das Vasallentum gegen Väterchen geht jedem Angehörigen der preußischen Junkerklasse von Kindesbeinen an in Fleisch und Blut über. Sie leben und weben in dieser Atmosphäre, denn ihr „Parteitopf" brodelt am Herde Väterchens, dafür haben sie ihre guten Gründe, oder vielmehr ihre schlechten, aber ihre triftigen Gründe, und wir wissen wohl, dass sie von ihrer perversen Neigung niemals zu heilen sind. Aber wir haben das Interesse, ihre Abhängigkeit von dem zarischen Despotismus nachdrücklich vor aller Welt festzustellen; je öffentlicher sie sich mit diesem Despotismus verfilzen, desto unrettbarer werden sie in seinen Sturz gezogen.

Schließlich können wir es ihnen nicht einmal übel nehmen, wenn sie das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse zur russischen Revolution nur in ihrem Jargon auszudrücken wissen und von dem „Parteitopf" der Sozialdemokratie sprechen, der an den russischen Unruhen gekocht werden solle. Wie sollten die preußischen Junker auch nur eine Ahnung von den gewaltigen Kulturinteressen haben, die durch den Sieg der russischen Revolution eine mächtige Förderung erfahren müssen und werden? Wie sich ihr ganzes Denken und Sinnen darum dreht, die Fleischtöpfe ihrer Klasse zu füllen, so können sie sich auch die Emanzipation der Arbeiterklasse nur als einen „Parteitopf" vorstellen, der nicht schnell genug ans Feuer gerückt werden kann, wenn es irgendwo etwas zu ergattern gibt.

Sehen wir von der niedrigen Vorstellung ab, wie sie dem Vorstellungskreise eines preußischen Junkers entspricht, so werden die deutschen Arbeiter niemals ein Hehl daraus machen, dass sie mit der tiefsten Sympathie den Befreiungskämpfen ihrer russischen Brüder folgen und dass sie an ihrem eigenen Revolutionstage keinen höhern Wunsch kennen, als dass mit dem Zaren und seinem verrotteten System bald ein so gründlicher Kehraus getanzt wird, wie die Berliner Arbeiter am 18. März 1848 mit Friedrich Wilhelm IV. und dessen verrottetem System getanzt haben. Ein ebenso gründlicher und insofern ein noch viel gründlicherer Kehraus, als die gehäuften Erfahrungen von zwei Menschenaltern verhindern werden, dass sich die europäische Reaktion nochmals erholt, wie sie sich nach der europäischen Revolution von 1848 leider noch einmal hat erholen können. Das konnte nur gelingen, weil sich damals die europäische und namentlich auch die deutsche Arbeiterklasse über ihre historischen Aufgaben noch ganz im Unklaren befand. Seitdem hat sich das Blättchen gewandt, und hinter der russischen Revolution steht das ganze europäische Proletariat, soweit es zum Klassenbewusstsein erwacht ist.

In seiner witzelnden Weise hat sich Graf Bülow darüber lustig gemacht, dass ein sozialdemokratisches Parteiblatt gesagt hat, wenn unsre Partei am Ruder wäre, würde sie den russischen Arbeitern bewaffnete Hilfe leisten. Wir wissen eigentlich nicht, was Graf Bülow daran auszusetzen hat. Er sollte sich doch erinnern, dass der preußische König Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1830 die preußischen Finanzen in ruchloser Weise ruiniert hat, um den Zaren Nikolaus gegen die aufständigen Polen zu unterstützen, und dass dieser Zar Nikolaus sich im Jahre 1848 wiederholt erboten hat, seine Truppen über die preußische Grenze rücken zu lassen, um die Revolution niederzuwerfen. Wenn also die deutsche Sozialdemokratie sich bereit erklärt, solch glorreichen Vorbildern zu folgen, so müsste das königs- und zarentreue Herz des Grafen Bülow doch eigentlich höher schlagen über den Erfolg dieser monarchischen Propaganda unter den deutschen Arbeitern.

Wir kennen nicht den Zusammenhang, worin das vom Reichskanzler angezogene Zitat gestanden hat; so, wie er es verlesen hat, hätten wir den historischen Einwand dagegen zu erheben, dass, wenn unsre Partei einmal das Ruder in Händen hat, längst nicht mehr nötig sein wird, ein Befreiungsheer über die russische Grenze zu senden. Aber dem Sinne nach wird es von jedem sozialdemokratischen Blatte vertreten werden; es versteht sich ja ganz von selbst, dass uns unsre russischen Brüder, die sich anschicken, den Thron des Zaren zu zerbrechen, näher stehen als Graf Bülow und seine ganze Junkerkumpanei, die wie ein erstickender Alp auf dem deutschen Leben lastet. Wir hoffen auf die russische Revolution, und unsre Herzen sind bei den Rettern der russischen Nation und nicht bei ihren Mördern, in deren Gemeinschaft sich wohl zu fühlen wir dem preußischen Junkertum überlassen.

Wir können den heutigen Gedenktag der deutschen Revolution nicht würdiger feiern, als indem wir die russische Revolution begrüßen als das Morgengrauen eines neuen Völker- und Weltentags.

1 Gemeint ist hier die Erwiderung Bülows auf eine Anklage Bebels über die offizielle Zulassung und Unterstützung zaristischer Polizeispitzel durch die preußische und Reichsregierung. Bülow erklärte im Reichstag bei den Debatten über den Königsberger Geheimbundprozess: „Und wenn die fremden Herren sich bei uns so mausig machen, wie sie dies in der letzten Zeit getan haben, wenn sie so impertinente Erklärungen verfassen, wie sie Herr Bebel soeben verlesen hat, und wie sie in der Tat die hiesigen slawischen Studenten … vor einiger Zeit vom Stapel gelassen haben, so werde ich dafür sorgen, dass solche Leute ausgewiesen werden." (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages [198], XI. Legislaturperiode, I. vom 29. Februar 1904, S. 1390 [D].)

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