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Franz Mehring 19061114 Bildungsfragen

Franz Mehring: Bildungsfragen

14. November 1906

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 209-213. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 201-206]

Morgen wird die neue Parteischule eröffnet werden, und vor einigen Tagen ist der neue Bildungsausschuss von Partei wegen ernannt worden: Damit betritt die deutsche Sozialdemokratie neue Gebiete ihrer Tätigkeit, neue Gebiete wenigstens in dem Sinne, als sich nunmehr die Partei mit den gesamten Parteimitteln einsetzt, wo bisher einzelne Parteiorgane und Parteiorte schon viel dankenswerte Vorarbeit geleistet haben.

Immerhin schlägt auch hier die Quantität in die Qualität um. Es sind zwei verschiedene Dinge: Ob ein einzelner Parteiort eine Arbeiterbildungsschule einrichtet, die sich recht oder schlecht nach der Decke streckt und mehr oder minder befriedigende Ergebnisse liefert, oder ob die Gesamtpartei eine Schule einrichtet, die alljährlich eine bestimmte Zahl tüchtig durchgebildeter Parteibeamten stellen soll. In diesem Falle sind nicht nur die Schwierigkeiten weit größer, sondern es hängt auch viel mehr vom Gelingen oder Misslingen ab.

Unter diesen Umständen macht es einen nicht eben erfreulichen Eindruck, dass gleich beim Beginn eines schwierigen Weges innerhalb der Partei Streitfragen aufgeworfen werden, deren einzige Wirkung, wenn auch hoffentlich nicht Zweck, darin besteht, einigen unnützen Staub aufzuwirbeln. Es handelt sich dabei um „bürgerliche" oder „proletarische" Wissenschaft, einen Unterschied, der von dem einen verneint, von dem anderen aber bejaht wird, so dass gleich von rechts und links Steine auf den Weg gewälzt werden, den die Partei eben beschreiten will. So orakelt der eine:

Mit einem solchen im Parteidienst stehenden Stab von Gelehrten würde noch keineswegs die reinliche Scheidung von ‚proletarischer' und ‚bürgerlicher' Bildung erreicht. Denn auch diese von der Partei angestellten Wanderredner trügen doch im großen Ganzen nichts anderes als das Wissen und die Gedanken der großen, originalen Forscher der einen großen kontinuierlichen Wissenschaft vor. Sie ist weder ‚bürgerlich' noch ‚proletarisch'. Kindlich, zu glauben, man käme dadurch zu einer spezifisch ,proletarischen' Wissenschaft, dass man die Resultate der allgemeinen Wissenschaft, die Produkte der originalen, forschenden und kombinierenden Geistesarbeit aller Länder und Zeiten durch parteigenössische Popularisatoren verschleißen lässt!"

Der andere dagegen findet gar nichts daran auszusetzen, dass es, wenn auch keine bürgerliche und keine proletarische Naturwissenschaft, Technik und Medizin, so doch eine bürgerliche und proletarische Gesellschaftswissenschaft, Geschichtsschreibung, Weltanschauung und Rechtslehre gebe, und orakelt dann an seinem Teile:

Das bedeutet nur eine, freilich wohl die tiefgehendste, der mancherlei Scheidungen, die wir auch sonst auf dem ganzen großen Gebiet der Wissenschaft finden. Und sie hat viel mehr Vorteile als Nachteile. Denn sie ist imstande, einen Wettbewerb der Geister zu entfesseln, der für den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis von der tiefgehendsten Bedeutung ist. Voraussetzung ist nur, dass keine der beiden Richtungen die andere von vornherein als unwissenschaftlich verketzert. Leider gibt es hüben wie drüben Pfaffengesindel, das also verfährt und gerade durch lauteste Verketzerung der anderen Richtung ihre alleinseligmachende wissenschaftliche Fähigkeit erweisen will. Und das Proletariat, dem durch eine Jahrhunderte lange Erziehung der Autoritätsglauben teilweise noch immer sehr tief in den Knochen sitzt, ist häufig nur zu schnell geneigt, solch pfäffisches Selbstlob als Unterpfand allein wahrer Wissenschaft hinzunehmen. Wer hierin dem deutschen Proletariat die Augen mit aufmachen hilft, verdient sich um dasselbe höchsten Lohn."

Man sieht also: Einig sind diese Kritiker unter sich keineswegs. Höchstens könnte man eine gewisse Einheit darin finden, dass der eine ebenso heftig daneben haut wie der andere. Doch diese Auffassung enthielte immerhin eine Unbill gegen den ersten Kritiker. Denn der zweite treibt es entschieden ärger. Es ist freilich nicht jedermann gegeben, in Karl Marx einen bahnbrechenden Kopf zu erblicken und zugleich Herrn Maximilian Harden zu bahnbrechender Tätigkeit zu beglückwünschen, aber wer im glücklichen Besitz dieser Vielseitigkeit ist, sollte doch generös genug denken und nicht gleich über beschränkter veranlagte Parteigenossen als über „Pfaffengesindel" schimpfen, unter höchst bedauernswerter Vernachlässigung des sonst so viel gepriesenen „guten Tones". Wir sind so unhöflich nicht, den gleichen Ton anzuschlagen, und begnügen uns, die Vorstellung des begeisterten Wettlaufs zwischen bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft als das Produkt eines theologisch gebildeten Kopfes zu registrieren, der sich den lieben Gott nun einmal nicht vorstellen kann ohne den Teufel.

Übermäßig höflich ist der erste Kritiker nun freilich auch nicht, aber immerhin lässt sich mit ihm streiten. In gewissem Sinne ist es ganz richtig, wenn er von der „einen großen kontinuierlichen Wissenschaft" redet, aber dann mag er die Güte haben zu sagen, wer die „eine große kontinuierliche Wissenschaft" vertritt: Ferdinand Lassalle oder Hermann Schulze, Karl Marx oder Wilhelm Roscher, Friedrich Engels oder Adolf Wagner? Die einen oder die anderen können doch nur wissenschaftliche Denker sein, ganz abgesehen davon, dass sie nach dem zweiten Kritiker allesamt „Pfaffengesindel" sind, das die „andere Richtung" aufs „lauteste verketzert" hat. Nach unserer Auffassung wird die Nachwelt einst für unsere Tage die Lassalle, Marx und Engels als die Vertreter der „einen großen kontinuierlichen Wissenschaft" betrachten, und dann wäre der Unterschied zwischen „proletarischer" und „bürgerlicher" Wissenschaft höchstens insofern falsch, als genau genommen nur von proletarischer Wissenschaft und bürgerlicher Scharlatanerie gesprochen werden dürfte.

Indessen kann man die Sache auch unter einem milderen Gesichtspunkte auffassen und sagen: Trotz der „einen großen kontinuierlichen Wissenschaft" kann es in ihr verschiedene Standpunkte, verschiedene Methoden geben, von denen die eine sehr fruchtbar, die andere sehr unfruchtbar sein könne. Dann darf man aber doch ganz befugterweise von einer „bürgerlichen" und einer „proletarischen" Forschungsmethode der Wissenschaft oder, kürzer zusammengefasst, von einer „bürgerlichen" und einer „proletarischen" Wissenschaft reden. Es würde sich dann höchstens um eine ungenaue Ausdrucksweise handeln, über die es sich kaum lohnte, viele Worte zu verlieren. Allein wenn es eine besondere „proletarische" Forschungsmethode gibt, so ist es auch ihr gutes Recht, und sie begeht nicht den geringsten Verrat an der Wissenschaft selbst, wenn sie diese Methode nach Kräften auszubilden und fortzuentwickeln sucht, ohne sich ihre Eigentümlichkeit durch andere Forschungsmethoden rauben oder auch nur beeinträchtigen zu lassen. Sie nimmt ihr Recht nur vor dem Richterstuhl der Geschichte, und es sind allein ihre Früchte, an denen sie erkannt sein will.

Nun sagt der erste Kritiker, die moderne Weltanschauung gründe sich in erster Linie auf die moderne naturwissenschaftliche Forschung; in der ganzen deutschen Sozialdemokratie gebe es aber mit einer einzigen Ausnahme keinen aktiven Naturforscher; also sei die Sozialdemokratie in diesem wichtigsten Zweige ganz und gar auf „bürgerliche" Wissenschaft angewiesen, eine Trennung der „bürgerlichen" und der „proletarischen" Wissenschaft schon deshalb ein völliger Unsinn. Dazu muss man aber wirklich sagen: So viele Sätze, so viele Quidproquos! Zunächst gründet sich die moderne Weltanschauung keineswegs in erster Linie auf die moderne naturwissenschaftliche Forschung. Gesellschaftswissenschaften und Naturwissenschaften befruchten sich gegenseitig in der mannigfachsten Weise, aber historisch haben die Gesellschaftswissenschaften den Vortritt, aus dem einfachen Grunde, weil die gesellschaftliche Entwicklung zu neuen Naturerkenntnissen führt, aber nicht umgekehrt, sowenig damit bestritten werden soll, dass neue Naturerkenntnisse die gesellschaftliche Entwicklung mächtig beeinflussen können. Den Anfang macht immer die gesellschaftliche Revolution, was nirgends so genau und gründlich studiert werden kann als gerade an der Geschichte der bürgerlichen Bildung. Man nennt das siebzehnte und das neunzehnte Jahrhundert vorzugsweise die Jahrhunderte der Naturwissenschaften, allein das erste folgte erst auf das Jahrhundert der deutschen Reformation, das andere erst auf das Jahrhundert der Französischen Revolution; gesellschaftliche Umwälzungen ermöglichten erst die Fortschritte der Naturwissenschaft.

Man kann den Satz von der naturwissenschaftlichen Bildung – als dem ersten Elemente der modernen Weltanschauung – auch noch von einer anderen Seite her widerlegen. Wäre dem so, wie wäre es dann möglich, dass es so viele hervorragende Naturforscher gibt, die auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiete keine Spur von moderner Weltanschauung, sondern vielmehr nur die traurigste Unwissenheit verraten? Umgekehrt findet man kaum je Leute, die auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiete auch nur einigermaßen beschlagen sind und kein Verständnis dafür hätten, was die naturwissenschaftliche Bildung für die moderne Weltanschauung bedeutet. Kein sozialdemokratischer Agitator, auch der letzte nicht, würde sich je erlauben, mit der stupenden Unwissenheit über naturwissenschaftliche Fragen abzusprechen, womit zahlreiche Darwinisten über gesellschaftswissenschaftliche Fragen abgesprochen haben. Wir erinnern nur an das kunterbunte Zeug, das ein so verdienter Naturforscher wie Ernst Haeckel in seinen „Welträtseln" über historische, philosophische und andere gesellschaftswissenschaftliche Fragen produziert hat.

Deshalb ist es verkehrt, der „proletarischen" Wissenschaft das Recht ihres Daseins abzusprechen, weil sie auf naturwissenschaftlichem Gebiet noch nichts geleistet hat! Daran würde auch durchaus nichts geändert werden, wenn sie nicht bloß einen, sondern Hunderte von aktiven Naturforschern zu ihren Mitgliedern zählte. Es ist ja gerade, als dieser eine von der Universität Berlin entfernt wurde, immer wieder hervorgehoben worden, dass seine Vorträge über Chemie und Physik nichts mit seiner sozialdemokratischen Überzeugung zu schaffen hätten. Bezeichnender noch ist das Verhalten eines anderen Parteigenossen, der ebenfalls aktiver Naturforscher ist und seine akademische Stellung an einer holländischen Universität freiwillig aufgegeben hat, um an der neuen Parteischule soziale Probleme im Sinne einer neuen, und zwar der „proletarischen Wissenschaft" zu lehren, wir meinen den Genossen Pannekoek. So sicher es ist, dass die Umwälzung der kapitalistischen in die sozialistische Produktionsweise auch zu gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaften führen wird, so unmöglich ist heute der „proletarischen Wissenschaft", die Naturwissenschaften zu revolutionieren, und in der Tat hat sie nie einen so hinfälligen Anspruch erhoben.

Was sie beansprucht und beanspruchen darf, das ist eine ihr eigene wissenschaftliche Forschungsmethode auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften; dies ihr so blankes wie scharfes Schwert vor jedem Rostflecken der „bürgerlichen Wissenschaft" zu bewahren ist ebenso ihre Pflicht wie ihr Recht. Wer ihr zumutet, sich von dem Professor Harnack darüber belehren zu lassen, dass die Evangelien historische Wahrheit enthalten, oder von dem Professor Sombart: Goethe habe den „Faust" nicht aus ökonomischen Motiven gedichtet, also sei es nichts mit dem historischen Materialismus, der handelt gerade so, wie Hutten gehandelt haben würde, wenn er die Kölner Mönche, oder Lessing, wenn er den Hauptpastor Goeze zu Lehrern der Jugend bestellt hätte. Die „bürgerliche Wissenschaft" war ihrerseits, als sie jung und kräftig und revolutionär war, weit entfernt von der Blödigkeit, die heute, wo sie alt und gebrechlich ist und unaufhaltsam ihrem Ende entgegengeht, ihr gegenüber von der „proletarischen Wissenschaft" beobachtet werden soll. Die Hutten und die Lessing huldigten immer der Ansicht, dass sich alles „Pfaffengesindel" drüben befinde, und sie ahnten noch nicht, dass sie sich „pfäffischen Selbstlobs" schuldig machten, wenn ihr gesundes und kräftiges Selbstbewusstsein einmal oder auch manchmal über die Stränge schlug.

Das wird niemals völlig zu vermeiden sein; die Emanzipationskämpfe unterdrückter Klassen vollziehen sich leider nie nach dem Takte des „guten Tones". Es vermag ja auch nicht die Achtung vor der „bürgerlichen Wissenschaft" zu erhöhen, wenn sich ihre Hauptbrutstätten, die deutschen Universitäten, zu willenlosen Werkzeugen der herrschenden Klassen und selbst der Polizei erniedrigen lassen, ohne dass auch nur ein Vertreter der „bürgerlichen Wissenschaft" dagegen auch nur zu mucksen wagt; so tief sind selbst die mittelalterlich-scholastischen Universitäten nie gesunken, der „neuen Wissenschaft", das heißt in diesem Falle der Wissenschaft des um seine Emanzipation kämpfenden Bürgertums, ihre Tore zu versperren. Indessen sind auch wir der Ansicht, dass sich die „proletarische Wissenschaft" bestreben soll, ehrlich anzuerkennen, was die „bürgerliche Wissenschaft" noch leistet – um ihrer selbst willen, denn ihres Sieges und ihrer Zukunft sicher, darf sie billig und nachsichtig gegen ohnmächtige Waffen allen und jeden „Pfaffengesindels" sein.

Nur darf sie sich niemals den frischen und ursprünglichen Quell ihrer wissenschaftlichen Forschungsmethode durch den vermoderten Kram der „bürgerlichen Wissenschaft" trüben lassen. Hier muss sie hart und rücksichtslos sein und den Schatz zu hüten wissen, den ihre großen Denker ihr seit bald sieben Jahrzehnten erworben haben. Es ist nicht die Geringfügigkeit, sondern die Überfülle dieses Schatzes, die den neuen Bildungsinstituten der Partei die größten Schwierigkeiten schafft; um das zu begreifen, genügt ein Blick auf den überreichen Unterrichtsplan der neuen Parteischule, den heute der „Vorwärts" veröffentlicht. Aber unüberwindlich würden diese Schwierigkeiten erst werden, wenn die Partei den sicheren Leitstern ihrer wissenschaftlichen Methode aufgäbe und den morschen Boden beträte, der unter der „bürgerlichen Wissenschaft" mehr und mehr zusammenbricht.

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