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Franz Mehring 19060726 Der Staatsstreich des Zaren

Franz Mehring: Der Staatsstreich des Zaren

26. Juli 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 585-588. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 171-174]

Als der Zar im vergangenen Herbst eine Verfassung erließ, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, wurde sie einer sehr herben Kritik unterzogen; namentlich von der Duma meinte man, sie sei weniger ein Parlament als der Schatten eines Parlamentes. Bei aller Berechtigung dieser Kritik glaubten wir sie in gewisser Beziehung einschränken zu sollen; wir sagten, unter bestimmten historischen Voraussetzungen komme [es] mehr darauf an, dass eine Verfassung erlassen und eine Volksvertretung einberufen werde, als wie diese Verfassung aussehe und wie diese Volksvertretung zusammengesetzt sei. Wir erinnerten namentlich an die Sterbetage des preußischen" Despotismus, der am eigenen Leibe erfahren habe, dass, wenn einmal eine Verfassung existiere, und sei es auch in der allerdürftigsten Form, nun auch kein Aufhalten mehr sei.

In der Tat hat der zarische Despotismus jetzt dieselbe Erfahrung gemacht. Mit der Duma ist er trotz ihrer beschränkten Befugnisse nicht einmal ein Vierteljahr fertig geworden; er hat zu dem verzweifelten Spiel eines Staatsstreichs greifen müssen, um die Versammlung loszuwerden, die ihm über den Kopf zu wachsen drohte. Es ist ganz merkwürdig, wie ähnlich die Dinge 1848 in Berlin und 1906 in Petersburg verlaufen sind. Die Regierung lässt die neue Volksvertretung sozusagen über ihre eigenen Beine stolpern, indem sie ihr keine Reformgesetze vorlegt und sie ihrer eigenen Beredsamkeit überlässt, die sich in den neuen und ungewohnten Formen natürlich nicht sogleich zurechtfindet und als mehr oder minder leere Schwatzhaftigkeit erscheint. Dann tastet sich das Parlament aber doch einigermaßen zu Recht und schickt sich an, den Nöten des Volkes abzuhelfen, wo sie am größten sind, also den Despotismus da zu reizen, wo er am kitzligsten ist. Wie der Berliner Versammlung ihr beabsichtigtes Einschreiten gegen die Metzeleien in Schweidnitz und ihr praktischer Versuch, den bäuerlichen Beschwerden abzuhelfen, zum Verhängnis wurde1, so ist auch die Duma an diesen beiden Klippen gestrandet; ihre Agrarpolitik und ihre Absicht, den Metzeleien von Bjelostok auf den Grund zu gehen, werden in dem Manifest des Zaren als die Ursachen angegeben, die zur Auflösung der Duma geführt haben.

Sonst ist dies Manifest, man möchte sagen wörtlich, von der Proklamation der preußischen Novemberstaatsstreichler abgeschrieben. Die Volksvertretung wird wegen der Untätigkeit denunziert, zu der sie die Regierung gezwungen hat; es wird ihr in dreistem Widerspruch mit der Wahrheit vorgeworfen, dass sie die bäuerlichen Interessen vernachlässigt habe, für die energisch einzutreten der Staatsstreich nun um so verlogener verspricht; es wird die Einberufung einer neuen Versammlung versprochen und schließlich ein dicker Meineid auf die unveränderlich konstitutionellen Gesinnungen der Majestät geleistet. Und endlich die letzte Ähnlichkeit: Auch die Duma lässt sich auseinander treiben wie im Jahre 1848 die Berliner Versammlung; als die letzte Spur ihres irdischen Daseins hinterlässt sie einen Aufruf zur Steuer- und Militärdienstverweigerung, der dem einzelnen waffen- und wehrlosen Staatsbürger ins Gewissen schreibt, was die Duma als offizielle Körperschaft zu leisten entweder nicht die Kraft oder nicht den Mut hat.

Es ist bekannt, mit wie bitterer Schärfe Lassalle und Marx im Jahre 1848 über den „passiven Widerstand" der Berliner Versammlung geurteilt haben, obgleich Berlin damals ebenso mit Truppen umstellt war wie diesmal Petersburg, eine Niederlage beim Versuch aktiven Widerstandes also mindestens ebenso wahrscheinlich war. Marx schrieb damals: „Eine Niederlage nach schwerem Kampf ist eine Tatsache von ebenso großer revolutionärer Bedeutung wie ein leicht errungener Sieg."2 Heute ist aber kaum ein Vorwurf gegen die Duma laut geworden, weil sie ohne jeden Kampf dem Staatsstreich das Feld räumte; ihr Aufruf zur Steuer- und Militärdienstverweigerung ist ja nur eine Sache von rein papierener Bedeutung, da sie auf jeden Versuch verzichtet hat, diesen Widerstand zu organisieren. Wir haben seit fünfzig Jahren gelernt, was einer bürgerlichen Versammlung zugemutet werden darf und was nicht; uns ist in Fleisch und Blut übergegangen, dass ein Sieg, den sie nur aus den Händen der Arbeiterklasse erhalten kann, ihr grauenvoller ist als die Todeswunde, die ihr die Krone schlägt. Während im Jahre 1848 alle Welt fragte: Was wird die Berliner Versammlung tun?, kräht heute kein Hahn danach, selbst nicht einmal in der bürgerlichen Welt, was die Duma tun wird oder getan hat, sondern alle Welt fragt nur: Was wird das russische Volk, was wird das russische Proletariat tun?

Sicherlich alles andere, als dass es mit geduldiger Demut den frechen Schlag des Zaren hinnimmt. Die Revolution, die durch den Schatten der Duma beschworen werden sollte, wird mit doppelter Kraft erwachen, nachdem dieser Schatten von der Wand gewischt worden ist, an der das Menetekel des zarischen Despotismus geschrieben steht. Es war die mildeste Form der Revolution, die ihm in der Duma gegenüberstand; die Mehrheit der Versammlung lechzte nach einem Kompromiss mit dem Zarismus; nur idiotische Verblendung kann glauben, dass dieser etwas gewonnen habe, indem er die letzte rettende Hand zurückstieß. Er hat die Duma erst einberufen, als ihm schon das Wasser an der Kehle stand; wie mag er glauben, dass sich die Massen der Revolution harmlos verlaufen werden, wenn er die Duma höhnisch auseinander treibt. Ihre Auflösung war ein Verzweiflungsstreich der zwölften Stunde; sie beweist nur, dass dem Zarentum der letzte Rest politischer Besinnung verloren gegangen ist.

Neben allen Ähnlichkeiten bestehen auch große Unähnlichkeiten zwischen 1906 und 1848. Es gab damals kein deutsches Proletariat, wie es heute ein russisches Proletariat gibt, entschlossen, klar, in gewaltigen Schlachten erprobt, voll revolutionärer Kraft, mit der so schwer fertig zu werden ist, wie mit den rebellischen Gelüsten der Bourgeoisie leicht fertig zu werden sein mag. Auch war der vormärzliche Despotismus nicht so im innersten Kern verfault, wie heute Väterchens Selbstherrschaft; an ihre Tür klopft der Bankrott, und ihre Truppen wanken; entsinnen sie sich endlich ihrer Menschenpflicht und ihrer Menschenwürde, dann bleibt, wie ein loyales Blatt sagt, kein Dachsparren vom Hause Romanow übrig.

Endlich hatte der preußische Friedrich Wilhelm, als er seinen Staatsstreich machte, seinen Schwager Nikolaus hinter sich, den Urgroßvater des jetzigen Zaren, der, noch im ungeschmälerten Besitz seiner despotischen Allgewalt, sofort hätte marschieren lassen, wenn die Manteuffelei im November 1848 missglückt wäre. Es ist wohl kein zufälliges Zusammentreffen, dass der letzte Schreckschuss, womit der Zar die Duma zu kirren suchte, eine Drohung mit der Intervention des Auslandes war; wenn er sich erinnerte, was die österreichische und die preußische Gegenrevolution einst der Hilfe seines Vorfahren zu danken gehabt haben, so mag er in seinem untadeligen Gemüt einen Wechsel gezogen haben auf die Hilfe, die ihm die österreichische und die preußische Reaktion in seinen Nöten leisten könnte.

Aber unter den konterrevolutionären Brüdern gibt es keine Pflicht der Dankbarkeit; für sie gilt nur der gemeine Nutzen. Als der erste Nikolaus im Jahre 1849 die rebellischen Ungarn niederwarf, die das Haus Habsburg abgesetzt hatten, sagte der erste Minister dieses Hauses: „Die Welt wird erstaunen über Österreichs Undankbarkeit." Und heute mag Väterchen in seiner Weise auch erstaunen über Preußens Undankbarkeit. Seine offiziösen Blätter kündigen den Einmarsch preußischer Truppen an, und die offiziösen Blätter der Ära Bülow erwidern kühl bis ans Herz hinan: Wir haben nichts mit dir zu schaffen. Es muss verzweifelt schlecht um den zarischen Despotismus stehen, wenn die Berliner Regierungspresse den demütigen Ton des Vasallen ablegt, sobald sie von Petersburg spricht.

Da jede Regel ihre Ausnahmen hat, so ist es glaubhaft, wenn die Berliner Offiziösen die Absicht jeder bewaffneten Intervention gegen die russische Revolution bestreiten. Die Genialität des Reichskanzlers hat manches möglich gemacht, was ehedem als unmöglich erschien, aber die verbrecherische Donquichotterie eines bewaffneten Einfalles in Russland, um den Zaren zu retten, ist auch für sie unmöglich. Nicht aus tiefsinnigen Beweggründen, wie man sie sonst wohl bei dem Verehrer Kants und Fichtes vorauszusetzen berechtigt wäre, sondern aus der trivialen Weisheit des Sprichworts: Der Knüppel liegt beim Hunde. Im Jahre 1863 mochte sich Bismarck zum Henkersdienst an dem polnischen Aufstand drängen, der von vornherein verloren war, aber was es mit dem vorwitzigen Eingreifen in die elementare Kraft einer Revolution auf sich hat, in der eine große Nation um alle ihre Lebensinteressen kämpft, das weiß man in Berlin noch sehr gut aus den Tagen her, wo man in lächerlich-prahlerischem Aufzug nach Paris zog, um diesen revolutionären Krater zu zerstören, und dann trübselig durch den Kot der Champagne heimstapfen musste, durch lange Jahre der Entehrung und Schande, bis auf die Felder bei Jena und Auerstädt. Die Erinnerung an so derbe Prügel bewahren auch preußische Junker in feinem Herzen.

Freilich, wenn es glaubwürdig ist, dass sie keinen bewaffneten Einfall in Russland planen, so ist die Miene staatsmännischer Würde, womit sie die Entwicklung der russischen Dinge zu beobachten behaupten, doch nur eine trügende Maske. Sie schauen voll banger Sorge nach Osten, und sie haben auch allen Grund dazu, denn der Feuerschein der russischen Revolution leuchtet über ganz Europa. Wir lehnen deshalb dankend den Rat ab, auch zu heucheln und hohle Wünsche zu murmeln für den Frieden zwischen „Krone und Volk" in Russland; wir freuen uns über jeden Schritt, den der zarische Despotismus in sein Verderben tut, und wir hoffen, dass er nach der Auflösung der Duma endlich für immer im Sumpfe versinken wird.

1 Am 3. August 1848 war es in der Festung Schweidnitz zu einem Feuerüberfall von Festungstruppen auf die unbewaffnete oder mit ungeladenen Gewehren versehene Bürgerwehr gekommen, wobei 14 Bürger getötet wurden. Veranlasst durch diese Tatsache, beschloss die Vereinbarerversammlung am 9. August, das Amendement Stein-Schultzes mit folgendem Wortlaut anzunehmen: „Der Herr Kriegsminister möge in einem Erlass an die Armee sich dahingehend aussprechen, dass die Offiziere allen reaktionären Bestrebungen fernbleiben, nicht nur Konflikte jeglicher Art mit dem Zivil vermeiden, sondern durch Annäherung an die Bürger und Vereinigung mit denselben zeigen, dass sie mit Aufrichtigkeit und Hingebung an der Verwirklichung eines konstitutionellen Rechtszustandes mitarbeiten wollen, und es denjenigen Offizieren, mit deren politischen Überzeugung dies nicht vereinbar ist, zur Ehrenpflicht machen, aus der Armee auszutreten." Dieser Beschluss wurde vom Staatsministerium als ein unzulässiger Eingriff bezeichnet. Das veranlasste die Vereinbarerversammlung, die Frage noch einmal zu behandeln: Am 7. September 1848 nahm sie das Amendement wiederum an, woraufhin das Ministerium Auerswald am 9. September zurücktrat. (Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen der zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung berufenen Versammlung, Beilage zum „Preußischen Staatsanzeiger", Bd. I, Berlin 1848, S. 709-717; Bd. II, Berlin 1848, S. 1072-1096.)

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